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I
I
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^^ÄRAB\^"
Cohen, Ethik des reinen Willens
SYSTEM
DER PHILOSOPHIE
ZWEITER TEIL
ETHIK DES REINEN WILLENS
VON
HERMANN COHEN
BERLIN
BKUNO CASSIRER
19(M
ETHIK
DES REINEN WILLENS
HERMANN COHEN
i'KOKtSSOH AX UKIi rMVKHSITÄT .MAfiBt'R;
BERLIN
BRUNO CASSIRER
1904
Vorrede.
Die Logik der reinen Erkenntniss hatte als erster Teil eines
Systems der Philosophie nicht nur auf den zweiten Teil hinge-
wiesen, sondern auch m ihrer Anlage und in ihren Ausführungen
zugleich für die Geisteswissenschaften eine grundlegende Vorsorge
getroffen. Die specielle Fürsorge fallt der Ethik zu; sie wird zur
positiven Logik der Geisteswissenschaften.
Die Logik der reinen Erkenntniss war ferner auf die Mathe-
matik begründet worden, um sich mit dieser für den Aufbau
der Naturwissenschaft zu verbinden. In analoger Weise wird
hier der Versuch gemacht, die Ethik auf die Rechtswissen-
schaft zu orientieren. Diese ist die Mathematik der Geistes-
wissenschaften. Die Methodik ihrer exakten Begriffe hat die
Ethik für ihre Probleme der Persönlichkeit und der Handlung
kritisch zu belauschen. Die Methode der Reinheit hat sich in
dieser Richtung auf die Erschliessung eines wissenschaftlichen
Inhalts zu bewähren. Die Ethik des reinen Willens muss dem-
zufolge zur Prinzipienlehre der Philosophie von Recht
und Staat werden. Die Grundlinien zu einer solchen sind hier
gezogen^ Ausbau und Durchführung müssen wiederum einem
zweiten Bande vorbehalten werden.
Die Beachtung und die Kritik der religiösen Probleme und
Begriffe dürfte darüber nicht zu kurz gekommen sein. Aber ob-
VI Vorrede.
zwar der Streit und der Krieg in den politischen und den reli-
giösen Ansichten noch immer mit verteilten und vertauschten Rollen
geführt wird, so kommt es über Einen Punkt doch allmählich zur
Klarheit, nämlich darüber, dass die Religion und die Politik
innerlichst verbunden sind; verbündet ebenso oft zu ihrer eigenen
Zerfleischung, wie schliesslich doch auch zu ihrer lebendigen und
wahrhaftigen Fortentwickelung.
Endlich noch ein persönliches Wort über dieses Buch;
nicht zwar über das, was es leisten mag, aber über das, was es
anstrebt. Wenn einer eine Ethik schreibt, so setzt er sich in ein
Glashaus. Der bekannte Ausspruch ist freilich cynisch : dass der
Ethiker ebensowenig ein guter Mensch zu sein brauche, wie der
Maler ein schöner. Vielleicht aber entspringt er nicht sowohl
einer absichtlichen Verletzung des Schamgefühls als vielmehr
einer gewissen Verschämtheit, die einen überkommt, wenn man
bei Lebzeiten eine Ethik herausgibt. Und der Vergleich selbst
enthält die Correktur in sich.
Ein schöner Mensch braucht freilich der Maler nicht zu
sein; wohl aber muss die Idee des Schönen hell und klar in
seinem Geiste leuchten. Und von diesem Lichte wird wohl auch
ein Strahl in seine arme Seele fallen. Der Ethiker an seinem
Teile hat der Idee des Guten nachzuspüren. Die Sittlichkeit
muss ihm zuvörderst lediglich ein Problem der Erkenntniss
werden, in aller der Genauigkeit und Nüchternheit und Sachlich-
keit, welche jedes theoretische Problem erfordert. Die metho-
dische Arbeit befreit ihn allgemach von den Skrupeln über seine
persönliche Sufficienz gegenüber diesen höchsten und zartesten
Anliegen des Menschengeschlechts. Aber die methodische Arbeit
erhöht zugleich sein sittliches Selbstbewusstsein, indem sie es
in einer unaufhörlichen Selbstprüfung rege erhält.
Diese methodische Arbeit hat alle Ethik, welche nach
Classicität der Grundlegung strebte, als ein Suchen gedacht und
gehandhabt. Dieses Suchen aber ist und bleibt nicht ausschliesslich
ein theoretisches, ein Untersuchen, sondern es ist zugleich ein
Verlangentragen nach der Enthüllung und Ausgrabung desje-
nigen Schatzes und wie ein Werben um ihn, den der Geist als
den höchsten, als den einzigen Wert des menschlichen Daseins
anerkennt: die Menschheit in allen Völkern und in jedem Menschen.
Vorrede. VII
Mag die Realität des Sittlichen in der empirischen Menschen-
welt noch so arg verschleiert, verlästert und verschränkt werden,
der sittliche Geist kann an ihrem unverlierbaren Besitze nicht
verzweifeln. Die Ethik aber hat keine andere Aufgabe, als gegen
das Irrewerden und gegen das Irremachen der sittlichen Kultur
an sich selber, an ihrer Wahrheit und Wahrhaftigkeit, sowie an
dem unvergleichlichen Werte ihres höchsten Gutes die Mensch-
heit zu verwahren.
Inhalts - Verzeichniss.
Seite
Vorrede I
Einleitung 1
Ethik die Lehre vom Menschen — Ethik die Lehre vom Be-
griffe des Menschen — Mehrheit und Allheit der Menschen
— Der Sokratische Begriff des Menschen — Der Platonische
Begriff der Menschenseele — Die Allheit das Prinzip des
Menschen — Das Individuum in der Anthropologie — Ver-
hAltniss zwischen Ethik und Psychologie — Verhftltniss der
Psychologie zur Physiologie — Der psychologische Natura-
lismus des Inviduums — Sein und Sollen — Kant und Piaton
— Die Stoa und Spinoza — Der Fehler des Pantheismus
für die Ethik — Verbältniss zwischen Denken und Wollen —
Wille und Intellekt nicht in einander aufzuheben — Psycho-
logie im Dienste der Metaphysik — Der absolute Wille —
Protestantismus als Ethiko-Tbeologie — Der Wille als Wert
der Wahrheit — Die Logik und die Wahrheit — Idee und
Ding an sich — Idee und allgemeine Naturgesetze — Die
Idee in der Ethik — Der Seinswert des Sollens — Ethik des
reinen Willens — Die Geschichte — Das Ideal des Weisen
Christus als Individuum — Christus als einziges Individuum
Volk und Staat — Die Personen und die Tatsachen — Die
materialistische Geschichtsansicht — Die sittlichen Ideen und
die Kttlturmflchte — Die Logik Voraussetzung, nicht selbst
Ethik — Die Welueschichte des Geistes — Das Individuum
der Idee — Die Sociologie und die Ent Wickelung — Das
Normalsebild — Die dialektische Bewegung — Die angeb-
liche Identität von Logik und Ethik - - Der Fehler des
Inhalts-Verzeichniss
Pantheismus — Das Schicksal des Individuums — Das
Interesse der praktischen Vernunft — Glauben und Wissen
— Die ethische Kultur — Die Selbstverständlichkeit des
Sittlichen — Woher und Wohin? — Ethik und Religion —
Die Ideen und die Individuen — Die Propheten — Die
Transscendenz Gottes — Verhältniss von Religion und Kunst
- Das Uebersinnliche — Die sogenannten sozialen Kunst-
werke - Religion und Politik — Der Particularismus der
Religion - - Staat oder Kirche? — Verhältniss der Ethik zur
Rechtslehre — Die Handlung -- Ethik die Logik der Geistes-
wissenschaften — Die Rechtswissenschaft das Analogon der
Mathematik — Das Naturrecht — Völkerrecht; göttliches
Recht; Vemunftrecht — Ethik und Rechtswissenschaft —
Der Wille in der Rechtswissenschaft — Der Wille und die
Handlung -- Die Einheit der Handlung — Die Einheit des
Rechtssubjektes — Die Associationen — Die Gemeinschaft
- Die Allheit und die juristische Person — Die Allheit und
der Staat — Das Staatsrecht und die Ethik — Die Einheit
des Menschen — Der reine Wille — Staat und Menschheit.
Erstes Kapitel.
Das Grundgesetz der Wahrheit 79
Die Summe der Logik - - Die Grundlagen als Grundlegungen
— Wahrheit und die Idee des Guten — - Zusammenhang der
Ethik mit der Logik Die Religion und Prometheus
Wahrheit in der Verbindung von Logik und Ethik — Lessings
Parabel Die Sittlichkeit in Wissenschaft und Recht —
Die Methode der Reinheit - Das Ding und die Sache -
Bewusstsein und Selbstbewusstsein - Subjekt und Person
- Die Zweideutigkeit des Gesetzes — Das Sichere der
Hypothesis -- Psyche und Ethos - Die Hypothesis das
Werkzeujg der Wahrheit — Der Trieb - Anwendbarkeit
der Continuit&t Der Begriff des Willens — Der Wille
und die Handlung — Bewegung und Bewusstsein — Pro-
jektion des Voreinander - Bewegung im Denken und Wollen
Das logische und das ethische Problem.
Zweites Kapitel.
Die Grundlegung des reinen Willens 104
Die Tragödie und das Problem des Willens - Der göttliche
Wille und der Logos - Der reine Wille der Sittlichkeit
Begehrung und Vorstellung - Piatons Terminologie -- Rat
und Vernunft - Der Affekt — Die Gesinnung - - Die
Polemik gegen das Gesetz — Die Schranke in der Beurteilung
des Willens - Die Absicht - Der Vorsatz — Impulsus
und propensione — Affectus und Affectio — Bewegung und
Bewusstsein - Die centripetale und die centrif ugale Bewegung
— Der Uebergang von Denken in Bewegung - Die Unter-
scheidung der sensibelen und der motorischen Centren
Inhalts-Verzeichniss. XI
Die Centren nar negative Bedingungen — Die Reinheit der
Bewegung — Der Seelenbegriff der griechischen Kultur —
Die Selbstbewegung — Die Tendenz — Die Tendenz und
der Inhalt — Das Aeussere und das Innere im Problem des
Inhalts — Die Mehrheit von Tendenzen — Unterschied der
Mehrheit im Denken und im Wollen - - Die Tendenz und die
Sonderung — Die Mehrheit der Tendenzen im Begriffe der
Tendenz — Die Tendenz und die Continuität — Die Tendenz
und die Realität — Der Gegensatz zum Gegebenen — Die
Aufgabe — Das Gefühl von Lust und Unlust - Der Eudae-
monismus und die Sophistik — Die soziale Menschheit -
Der Zusammenhang von Lust und Unlust[mit dem Individuum
^ Die Geschlechtsliebe und die Kunst — Die Totalität des
Lebensgeffihls — Unterschied von Lust und Affekt Der
Mischungscharakter von Lust und Unlust — - Verhältniss der
Ethik zur Psychologie — Consequenzen der betonten Em-
pfindung — Lust und Unlust als Urbewusstsein Die „not-
wendigen Vorbegriffe" Johannes Müllers — Die doppelte
Qualität des Gefühls und die Bewusstheit - Zusammenhang
dieser Frage mit dem Hedonismus - Lust und Unlust als
Wächter — Verbindung mit Zweck und Wert - Aristo-
phanes — - Wertmesser und Würdemesser.
Drittes Kapitel.
Der reine Wille in der Handlung 156
Der Inhalt des Affekts und der Gegenstand des Willens
Trieb und Gedanke — Vermittelung zwischen Beiden durch
einen Begriff — Aristoteles* praktische Vernunft — Die Kritik
der praktischen Vernunft und Fichte — Der Begriff und die
Aufgabe — Die Aufgabe und die Handlung - Vorurteile der
Psychologie - — Unterschied der Handlung im Denken und
Wollen — Unterschied des Gegenstands im Denken und im
Wollen — Die Aufgabe und die Verinnerlichung — Die
Aufgabe und der Sinn — Der Vorsatz der Aufgabe - Ver-
hältniss der Rechtsphilosophie zu Logik und Ethik ~- Die Be-
dingung Grundbegriff des Rechts - Die Voraussetzung zweier
Rechtssubjekte — Das Problem des zukünftigen Willens
Einheit, Einzelheit und Allheit — Die Einheit der Rechts-
handlung — Der bedingte Wille — Die Handlung als Be-
dingung -- Der absolute Gegenstand Die persönliche
Einheit — Das Subjekt und die Allheit Gesang und
Sprache — Wort und Satz — Die Ausgestaltung des Begriffs
und des Affekts — Die Rechtsformeln -- Die Sprachhandlung
— Der Gefühlsannex und das Gefühlssuffix - Das Willens-
gefühl - Das Willens-Sprachgefühl Der Affekt als Willens-
gefühl — Der Motor und das Motiv.
Viertes Kapitel.
Das Selbstbewusstsein des reinen Willens 191
Der Unterschied zwischen Willen und Denken - Das Selbst-
bewusstsein und die systematische Philosophie --- Die Einheit
XII Inhalts-Verzeichoiss.
des Bewusstseins bei Kant — Einheit und Selbst — Affekt
nicht Grund des Selbst - Wir und Ich — Ich und Nicht-Ich
— Woher der Nebenmensch? — Die Idee des Menschen —
Der Andere der Ursprung des Ich — Die Correlation der
beiden Subjekte — Die Religion und der E^ismus — Der
Fremdling und der Mensch — Die Liebe — Amor intellec-
tualis — Der Nftchste — Die relativen Gemeinschaften —
Die Nftchstenliebe und die aesthetische Liebe — Die mystische
Metaphysik — Das sinnliche Individuum — Die religiöse und
die juristische Fassung des Selbstbewusstseins — Die juristische
Person — Das methodische Verhftltniss von Ethik und Rechts-
wissenschaft — Der Mangel in der Disposition der transscen-
dentalen Methode — Das Problem einer Kritik der reinen
praktischen Vernunft — Die Stiftungen und die Genossen-
schaften — Die Gesamtheit der Willen — Die juristische
Person eine Fiktion? — Die Discussion zwischen Heusler und
Gierke — Die Einheit der Allheit — Das Vorurteil der
Einzelheit — Die juristische Person und die Affekte — Die
juristische Person als die moralische — Die Gemeinschaft
und die Natur — Die natürlichen Gemeinschaften — Der
Gentilbegriff — Der Staat — Rousseaus volonte universelle
— Die Allheit des Staatswillens — Der Doppelsinn im
Anarchismus — Das Selbstbewusstsein des Staates — Der
Geist — Der Vertrag — Ich und Du — Der Unterschied
von Staat und Volk — Die rechtshistorische Theorie vom
Volksgeist — Hesels allgemeiner Geist — Lassalles Ver-
tauschung von Logik und Ethik — Der Begriff des Sozialismus
— Die nationale Idee — Das politische Selbstbewusstsein
— Chamisso.
Fünftes Kapitel.
Das Gesetz des Selbstbev/usstseins 244
Der Wille zum Selbst — IMe Aufgabe des Selbstbewusstseins
im Staate — Pas Gesetz und das Sollen — Die Satzimg tmd
die tmgeschriebenen Gesetze — Die einzelnen Gesetze — Der
Opfertod des Sokrates — Die Paradozie im Gesetze — Das
sittliche Gesetz nicht Naturgesetz — Legalitftt und Moralität
— Die Form des Gesetzes — Der Zwang — Die Normen —
Die Normen nicht Urteile — Die Modalität für die Rechts-
norm — Die Notwendigkeit als Allgemeinheit — Kants Form
des allgemeinen Gesetzes — Der Uebergang der Form in
den Inhalt — Das Gesetz hat keine LQcke — Modaler Unter-
schied von den Natureesetzen — Der Begriff der Zukunft
— Die rückwirkende Kraft des Gesetzes — Die Romantik
für die Vergangenheit — Die Bedeutung der Zukunft fOr
das Selbstbewusstsein — Fiktion und Hypothesis — Der
Idealismus des Selbstbewusstseins.
Sechstes Kapitel.
Die Freiheit des Willens 270
Die Freiheit des Geistes — Gott Centralbegriff der Kultur -
Inhalts- Verzeichniss. XIII
Die Freiheit des Glaubens — Die Moralstatistik — Die
Causalitftt — Der Zusammenhang von Statistik und Politik
— Die Eudaemonie — Lust als Werden oder Sein — Die
Magenfrage — Der politische Optimismus — Die Kirche
Die SQnde — Die Erlösung — Die politische Entstehung des
Christentums — Luther — Der Fehler Rousseaus — Das
radicale Böse — Der Gottmensch — Das Leiden — Das
tragische Problem — Die Reformation — Territorium und
Staat — Der Doppelbegriff der Gesellschaft — Qu6telet —
Die Voraussetzung für das Ziel der Moralstatistik — Marx
— Produkt und Faktor — Die Freiheit als Kraft — Die
Antimonie — Der Charakter — Die Idee als Zweck — Die
Autonomie — Der Endzweck als Selbstzweck — Der neue
Sinn der Freiheit — Der Marktpreis und die Person — Die
Freiheit durch die Autonomie nicht erledigt.
Siebentes Kapitel.
Die Autonomie des Selbstbewusstseins 307
Gesetz und Selbst.
1. Die Selbstgesetzgebung 309
Heteronomie als Pathok>gie — Das Grundgesetz der Wahr-
heit — Religion und PoHtik — Rousseau — Aesthetik und
Metaphysik — - Hegels Fehler — Die Offenbarung — Das
Wort Gottes - — Die Religiosität der literarischen Humanität
— Schiller — Die religiöse Literatur — Der Pietismus —
Der Fehler in Kants Autonomie — Die Gesetzgebung und
das Selbst — Der intelligible Charakter — Die politische
Freiheit — Die aesthische Freiheit — Der Unterschied
zwischen Gesetzgebung und Gesetz — Die einzelne Handlung
und der einzelne Inhalt.
?. Die Selbstbestimmung 327
Der Vorsatz — Die Bestimmtheit — Gesinnung und Charakter
— Der neue Anfang — Die Stufe der Selbstverwirklichung —
Causalität und Selbstbestimmung — Die Freiheit des causalen
Denkens — Der Vorsatz und die Dynamitniaschine — Das
Selbstbewusstsein subjektiv und objektiv — Die Bestimmung
des Menschengeschlechts — Die Hemmung des Vorsatzes.
B. Die Selbstverantwortung 333
Der Anteil des Affektes — Die Normalität des causalen
Denkens — Der Zusammenhang des theoretischen und des
ethischen Skepticismus — Die Frage nach dem Ursprung des
Bösen — Das Schicksal und die Schuld — Das Geschlecht
und das Individuum — Die Tragödie — Die Sünde ohne
Wissen — Die Schuldfrage im Rechte — Der Vorsatz nicht
deich dem Denken der Causalität — Die Schuld vor dem
Richter und für den Verbrecher — Die Eigenart der Ethik
in der Frage der Zurechnung — Die Vererbung — Die
Selbstverantwortung als Selbsterkenntniss.
4. Die Selbsterhaltung 352
XIV Inhahs-Verzeichniss.
Der lo^sche Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe
- - Die Teilung zwischen Strafe und Schuld — Der Sinn
der Strafe fOr den Verbrecher — Die Strafe als rechtliche
Anerkennung — Die Austilgung des Schuldbewusstseins —
Der Antritt der Strafe — Der Mord und die Vergeltung —
Die Vernichtung eines sittlichen Wesens — Die Selbsterhaltung
als Grenze der Strafe — Das Prinzip der Besserung — Die
Selbstwiedererzeugung — Der Doppelsinn in dem Punkte der
Menschenwürde — Der Schutz der Gesellschaft — Die
Selbständigkeit der Ethik gegenüber Religion und Recht —
Die Voraussetzung d^r theoretischen Bildung.
Achtes Kapitel.
Das Ideal 368
Der Mensch und die Wirklichkeit — Die Anwendung und die
Umwendung — Die Typik der praktischen Vernunft — Das
Reich der zwecke — Die CoUision der Ethik mit der Religion
— Ueberelnstimmune und Unterscheidung zwischen Wissen
und Willen — Der Wille und der Raum — Der Wille und
die Zeit — Die Zukunft — Raum und Zeit im Verhältniss
zur Allheit — Der Betriff der Ewigkeit — Die Sittlichkeit
des Mythos — Die Religion der Propheten — Der Fremdling
— Der Krieg — Der Messianismus — Der Weltfrieden —
Die Ewigkeit — Der Gegensatz zur Zeit — Die Ewigkeit als
Blickpunkt der sittlichen Arbeit — Die Aufgabe der Ewiekeit
— Das Selbstbewusstsein der Ewigkeit — Die Unsterblich-
keit ein theoretisches Problem — Die Gefahr für die Ethik
— Der Fortschritt in der Reinheit — Die Hypothesis der
Sitdicbkeit — Die Transscendenz des Guten — Das Ideal —
Das Kunstwerk — Das Ideal der Ethik vorbehalten — Das
ethische Problem der Wirklichkeit — Das Musterbild der
Vollkommenheit — Das Unvollkommene der Vervollkomm-
nung — Der Anteil der Ethik am Idealismus — Der Kampf
ums Dasein — Die Gesinnung des Ideals
Neuntes Kapitel.
Die Idee Gottes 405
Das Absolute — Der Nus des Anaxagoras — Die Metaphysik
als Material der Ethik — Das Desiderat der Wirklichkeit —
Die Orientierung auf Recht und Staat — Der ethische Staats-
begriff — Das Ideal und die Unsterblichkeit — Die Vor-
bedingungen der Reinheit — Der Idealismus des Bewusst-
scins — Die Wirklichkeit und Dauer der Natur — Die
logische Disposition der Gottesidee — Gott als modaler Begriff
der Wahrheit — Das DoppelverhAltniss zwischen Ethik und
Logik — Die Anpassung — Die falsche Einheitlichkeit der
Erkenntniss — Gott als Wahrheit — Der Bestand der Natur
und die Ewigkeit — Die Deutungen der Trinit&t — Das
Problem der Schöpfung — Die Vorsehung — Pessimismus
Inhahs-Verzeichniss. XV
und Quietismus — Das Problem der Theodicce — Der Sieg
des (Juten — Die Frage der Person — Die zwei ver-
schiedenen Begriffe der Person — Wissen und Glauben —
Der Pantheismus — Spinoza — Recht gleich Macht — Die
aesthetische Identitätsphilosophie — Die Vereinigung als
Harmonisierung — Einheit nicht Identität — Die Trans-
scendenz Gottes — Gegen zwei Irrtümer — Nicht Trans-
scendenz zwischen Natur und Sittenlehre.
Zehntes Kapitel.
Der Begriff der Tugend 442
Die Pflicht — Das Gute und die Güter — Die Einheit der
Tagend — Die Gesinnung und die Betätigung — Die Weg-
weiser der Stetigkeit — Die Beständigkeit — Das System
der Tugenden — Die Einteilongsgründe der Tugendarten —
Die Classification durch den Affekt — Das aesthetische Gefühl
— Affekt und Inhalt — Die Liebe — Der Eros — Grazie und
Gunst — Die Nächstenliebe — Die Sondergemeinschaft —
Die relativen Gemeinschaften und die Allheit — Die zwei
Grade der Tugend — Das Mittlere; die ethischen und die
Denktugenden — Die Denkgefühle und die Bewegungsgefühle
— Der Affekt der Ehre — Der religiöse und der juristische
Begriff der Ehre — Falstaff — Der Grundgedanke der
Civilisation — Die falsche Ehre — Shylock — Der Jude
und der Staat — Ehre Affekt für die Tugenden ersten Grades.
Elftes Kapitel.
Die Wahrhaftigkeit 471
Der Begriff und dieSeele — DieSelbsterkcnntniss — DieSelbst-
Prüfung — Der Unterricht in der Sittlichkeit — Die aesthe-
tische Erziehung — Der Unterschied geistiger und sittlicher
Bildung — Die Differenz der Anlagen — Die Differenz der
geistigen und materiellen Kultur — Der Fortschritt in der
Geschichte — Der Zusammenhang von Poesie und Philosophie
— Die Voraussetzungen der Wissenschaft — Hellenismus
und Humanismus — Grundlegung und Rechenschaftlegung
— Aristoteles' Denken des Denkens — Die systematische
Theologie. Die Politik — Die protestantische Staatsidee —
Die souveräne Sittlichkeit des Staates — Die Persönlichkeit
des Staates — Das allgemeine Wahlrecht — Die Identität
und die Negation — Gegensätze und Veränderungen —
Die Besonnenheit — Der Eid — Die Zeugenaussage —
Der religiöse Eid — Die Notlüge — Die zwei Anderen —
Die Colhsionen bei jeder Tugend — Der Zusammenhang der
Tugendgrade.
Zwölftes Kapitel.
Die Bescheidenheit -^1
Die Gescheidtheit — Der Affekt der Liebe - Der Sitten-
XVI Inhalts-Verzeichniss
lichter — Die Gefahr in der geistigen Arbeit — Der Apho-
rismus — Der Humor — Der Roman und das Epos — Die
Kunst und das Forum der Ethik — Die Heroen und die
Modegenies — Die Vollkommenheit — Der Carlyle-Stil —
Die auserw&hlten Individaen und Rassen — Die Nervosität
des Egoismus — Die Handlung und die Tat — Demut.
Discretion — Abtrennung der Sache von der Person — Der
Hass und der Neid — Unterschied von der Demut — Die
Selbstachtung — Selbsterkenntniss und Ironie.
Dreizehntes Kapitel.
Die Tapferkeit 522
Die Sinnlichkeit bei Piaton — Das Vorurteil gegen die Natur
— Der Aeschyleische Prometheus — Das Menschenlos des
Leidens — Goethes Faust — Die politische Tugend — Die
politische Tapferkeit — Der Mythos in der Geschichte — Der
Uebermensch und der Untermensch — Don Juan — Das
Problem von Mann und Weib — Die Dressur der Herrsch-
sucht — Die Grausamkeit — Die romantische Liebe — Die
Kriegskunst und die Politik.
Vierzehntes Kapitel.
Die Treue 538
Die Beharrlichkeit — Die Treue und die Pflicht — Die Con-
tinuität der persönlichen Entwicklung — Die Freundschaft
— Die Sehnsucht — Die Vereinsamung — Gegen die Zweifel-
sucht — Die Geselligkeit — Die Wollust — Die Ehre —
Die Entwickelungsformcn der Urgesellschaft — Milton —
Liebe und Geschlechtsliebe — Gottfried Keller. Die Utopie
— Die Liebe und die Ehe — Goethes Wahlverwandtschaften
— Die Religion und die Ethik — Die Familie — Volk und
Staat — Staat und Nationalität nicht identisch.
Fünfzehntes Kapitel.
Die Gerechtigkeit 559
Die Controle der Wirklichkeit — Die beiden Richtungen der
menschlichen Tätigkeit — Die Müsse und das Negotium —
Die Arbeit — Natur und Wirtschaft — Recht und Gerechtig-
keit — Die Skepsis an Recht und Staat — Naturrecht, Rechts-
wissenschaft und Rechtsphilosophie — Der Doppelbegriff des
Menschen — Der Zweck des Rechtes — Das Problem der
Einteilung der Rechte — Das Problem des Verhältnisses
zwischen Einzelheit und Person — Der EigentQmer einer
isolierten Handlung — Die Person und die Sache — Der
Wert und die Teilung der Arbeit — Der Handel und die
Ware — Das Geld und das Kapital — Arbeitsprodukt und
Arbeitsertrag — Die Erlösung der arbeitenden Person —
Das Problem des Eigentums — Die Association — Der Col-
Inhalits-Verzeichniss. XVII
lektivismus — Das Eigentum wird Adiaphoron Der Glaube
an eine neue Welt.
Sechzehntes Kapitel.
Die Hunnanität 584
Die Billigkeit — Die Wirklichkeit und das Besondere
Jurisprudenz und Mathematik — Die Gleichheit — Hamlet
- - Das Mittlere zwischen Extremen — Das Mitleid Kant
und Schiller — Die Güte — Die Freundlichkeit- Staat
und Volk und Menschheit — Die Staatsraison — Die Rück-
sicht — Die Naivetät — Die Harmonie — Der Natur-
zustand — Die aesthetische Erziehung Die Kunst der
Menschheit und der Völker — Die Einheit des Kultur-
Bcwusslseins.
Einleitung.
Von allen Problemen, welche den Inhalt der Philosophie
bilden, dürfte die Ethik als ihr eigenstes gelten: das ihr daher
auch von keiner Wissenschaft bestritten wird, sofern sie über-
haupt das Recht der Philosophie anerkennt. Dieses Verhältnis
zwischen der Ethik und dem Gesamtgebiete der Philosophie voll-
zieht sich schon bei der ersten Errichtung der Ethik. Als
Sokrates sie erdachte, da fand er zugleich den Mittelpunkt für
alle Philosophie in ihr. Bis dahin waren die Philosophen ebenso
auch Mathematiker und Naturforscher, wieviel sie immer über
die menschlichen Dinge insbesondere dachten. Sokrates dagegen
redet wie ein Nazarener von der Natur: die Bäume können mich
nicht belehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Erst rück-
w^ärts vom Menschen führt der Weg wieder zur Natur. Die
Ethik, als die Lehre vom Menschen, wird das Centrum
der Philosophie. Und erst in diesem Centrum gewinnt die
Philosophie Selbständigkeil und Eigenart und alsbald auch
Einheit.
Diese centrale Bedeutung, welche der Ethik innerhalb der
Philosophie zukommt, hat sich in der ganzen Geschichte der-
selben behauptet. Alle grossen Bewegungen spiegeln sich nicht
nur in ihr, sondern sie haben in ihr ihren tiefsten Quellengrund.
Daher ist der Streit nicht vielseitiger, noch verschlungener um
die Logik als um die Ethik. Lst doch das Interesse an ihr noch
ausgebreiteter, sodass ihr Wert auch unmittelbarer einleuchtet.
Aber so verschiedenartig demgemäss die Ausgänge und die An-
knüpfungen sind, welche in den verschiedenen Zeitaltern die
1
2 Ethik die Lehre vom Menschen.
verschiedenen Kulturfragen mit der Ethik verbinden: der eine
Gedanke, in welchem Sokrates die Ethik erschaffen hat, ist allen
den verschiedenen Richtungen erhalten geblieben. Nicht alle
und nicht immer mögen sie alle das klare Bewusstsein davon in
sich getragen haben; dennoch hat sich die Kraft und die Wahr-
hfsit des Gedankens auch an ihnen bewährt: der Gegenstand
der Ethik ist der Mensch. Was immer sonst noch in das
Interesse der Ethik hineinzuziehen sein mag, es kann nur an den
Menschen sich anschliessen, durch das Verhältnis zu ihm eine
Stelle finden.
Indem nun die Ethik zum Mittelpunkte der Philosophie
wird, wird somit zugleich der Mensch zum Mittelpunkt aller
Inhalte und Gegenstände derselben. So erlangt die Philosophie
durch die Ethik im Menschen ihren Schwerpunkt; die Wurzel
ihres Daseins und den Quell ihres Rechts, den ewigen Quell ihres
ewigen Rechts. Welche Wissenschaft und welche Art von
Wissenschaft könnte ihr dieses Problem des Menschen abnehmen
wollen, um es sich selbst aufzulegen? Gibt es eine Theorie,
welche die einheitliche Behandlung dieses Problems, das als ein
centrales, Aielmehr als das centrale Problem einheitliche Behand-
lung fordert, auf sich zu nehmen vermöchte? Von allen Seiten
hat man zu allen Zeiten den Wert der Philosophie bestritten,
aber von keiner Wissenschaft hat man ihr die Ethik abgestritten.
An keinem Punkte dürfte sich vorteilhafter und zugleich
verhängnissvoller die Theologie von der naiven Religion unter-
scheiden als an diesem Verhältnis zur Ethik. Die Religion wiegt
sich in die Einbildung ein, ^Is ob sie die Ethik entbehren könnte;
niemals aber, ausser im bittern Kampfe und in dem Stichwort
eines solchen, die Theologie. Sie kann die Ethik verbessern und
ergänzen wollen, immer aber will sie sich auf sie berufen; wie
stark und wie blind die Vorwürfe sein mögen, mit denen sie sie
verfolgt, so weit verirrt sie sich doch niemals, dass sie die
menschliche Weisheit vom Wesen des Menschen, die menschliche
Lehre vom Menschen gänzlich- beseitigen wollte. Und wenn
sogar die Theologie die Ethik, wenn auch nur als ein mögliches
Problem anerkennt, welche andere Wissenschaft könnte dann
ein gegründetes Interesse daran haben, der Philosophie die Ethik
abzustreiten?
Ethik die Lehre vom Begriffe des Menschen. 3
Hiernach könnte es scheinen, als ob der Ethik ein sicherer,
scharf abgegrenzter Bezirk im Gesamtgebiete der Philosophie zu
teil geworden, und dass sie demzufolge auch als ein klar
begründetes und genau bestimmtes Problem anerkannt wäre.
Welcher Inhalt scheint deutlicher und genauer zu sein als
der Mensch?
Diese Ansicht aber beruht auf einer gründlichen Illusion.
Entbehren will man voil keiner Seite aus die Ethik, für über-
flüssig gilt sie nirgends. Aber daraus folgt nicht, dass man das-
selbe Problem oder auch nur dasselbe Interesse unter ihr ver-
stände. Man könnte denken, dass der Begrifif oder auch nur die
Ansicht vom Menschen ein gleiches Interesse aufzwingen, und
zum gleichen Problem hinleiten müsste; jedoch auch diese
Meinung entspringt aus einem grundsätzlichen Irrtum. Wenn es
nämlich erst die Ethik ist, welche die Lehre vom Menschen ent-
wirft, so kann auch sie erst den Begriff des Menschen entdecken.
Wie könnte aber eine Ansicht vom Menschen allgemein und
unzweifelhaft geworden sein, wenn sie nicht im Begriffe des
Menschen ihre Voraussetzung und ihren Grund hat? Weit gefehlt
also, dass die Ethik von einer einheitlichen Ansicht vom Menschen
ausgehen könnte, ist eine solche vielmehr erst ihr Ziel und ihr
eigentlicher Inhalt.
Als die Lehre vom Menschen ist die Ethik die Lehre
vom Begriffe des Menschen. Indem Sokrates im Menschen
die Ethik erdachte, entdeckte er zugleich den Begriff. Im Begriffe
des Menschen entdeckte er den Begriff. Vor der Ethik und
ausserhalb ihrer gibt es keinen Begriff des Menschen; wie es vor
ihr überhaupt keinen Begriff gab. Diese grosse Konsequenz
ergibt sich aus dem Zusammenhang der drei Entdeckungen: des
Begriffs, des Menschen, der Ethik. Wie die di'ei Begriffe einander
fordern, oder wenigstens in der gegenseitigen Forderung entstanden
sind, so ist der Begriff des Menschen mit dem Begriffe der Ethik
verknüpft.
Steht nun aber diese Konsequenz auf dieser Haaresschärfe,
so lässt es sich verstehen, dass sie den Besitzstand der Ethik in
Streitigkeiten verwickeln, und ihren Inhalt und ihr Problem
zweideutig machen konnte. So lange es sich ohne nähere Be-
stimmungen um den Menschen zu handeln scheint, bleibt die
4 Mehrheit und Allheit der Menschen.
Ethik unangeibcliten. Tragi dieser ihr Inhalt jedoch den An-
spruch in sich, den BegrifT des Menschen zum Alleinbesitz der
Ethik zu machen, so melden sich von allen Seiten die Mit-
bewerber. In der Tat enthielt schon der Ausdruck Mensch eine
ofFenbarc Zweideutigkeit: bedeutet er den Singular oder den
Plural? Und wenn auch den Plural, so sind die Fragen damit
nicht erschöpft, auch für die Bedeutung der Mehrheit nicht.
Vielmehr entsteht die Furage, ob die Mehrheit eine neue Art von
Einheit zu ergeben vermag.
Das ist die doppelte Zweideutigkeit, mit der von vornherein
der Ausdruck Mensch behaftet ist, dass einmal der Einzelmensch
in Frage steht, sodann aber die Bedeutung übergeht auf eine
Mehrheit von Menschen. Und hinwiederum bleibt es nicht bei
dieser Mehrheit, sondern sie selbst soll wieder eine neue Einheit
werden. Es ist dies der allgemeine Prozess, der an dem Urteil
sich vollzieht; nur dass, wie wir in der Logik der reinen Er-
kenntniss gesehen haben, die Einheit als eine besondere Kate-
gorie ausfallt.
Die Mehrheit aber geht in die Allheit über. Und damit
entsteht die neue Zweideutigkeit, welche an den Ausdruck Mensch
sich anheftet. Die erste liegt, logisch ausgedrückt, nicht sowohl
in dem Gegensatze der Einheit und der Mehrheit, als vielmehr
in dem .scheinbaren Gegensatze der Einzelheit und der Mehrheit.
Dieser Gegensatz hat keinen Bestand im Denken; er rührt nur
von einem Schein des populären Bewusstseins her. Der Einzelne
ist an sich ein Einzelner der Mehrheit; er bildet keineswegs eine
selbständige Einheit, so sehr auch der gemeine Schein dafür
spricht.
Aber die zweite Zweideutigkeit hat in der Tat logischen
Grund. Die Mehrheit geht in die Allheit über. So sagten wir.
Das soll jedoch nicht heissen, dass die Mehrheit sich in die
Allheit verwandeln und in ihr untergehen müsste. Vielmehr
bleibt die Mehrheit, wie sie logisch eine eigene Kategorie bildet,
so auch für den Menschen bestehen. Die Mehrheit der Menschen
bleibt ein wertvoller, notwendiger Begriff. Aber ihr zur Seite
tritt, als ein Begriff von eigenem Werte, die Allheit der Mensi'hen.
Das ist die grosse Steigerung, zu welcher die Zweideutigkeit im
Au.sdrucke Mensch sich erhebt. Mehrheit und Allheit der Menschen;
Der Sokratische Begriff des Menschen. 5
dagegen tritt der Unterschied des Einzelnen und der Mehrheit
wie belanglos zurück. Und dass man nur ja nicht glaube, in
der Anzahl liege der Unterschied. Lässt sich doch ohnehin die
Allheit nicht auszählen; in dem Mehr oder Weniger kann also
der Unterschied nfcht liegen. Die Allheit bedeutet nach der
Logik der reinen Erkenntniss eine unendliche Zusammenfassung,
die selbst wieder verschiedene Grade zulässt. Die Allheit der
Menschen bildet bald die Universität einer Stadt, bald die eines
Staates, bald endlich die der Menschheit.
So lässt es sich begreifen, und es ist gewiss mehr als in-
teressant, dass es sich von hier aus ergiebt: dass der BegriiT im
Begriffe des Menschen zur Entdeckung gelangt. Die Einheit,
welche der BegrilT vollzieht, weist immerfoii über sich selbst
hinaus. Bei dem Einzelnen stehen zu bleiben, das wäre unver-
besserliche Kurzsichtigkeit. Aber wie sehr immer die Einzelnen
in der Mehrheit zusammenwachsen, und von ihr gehalten werden,
dennoch bildet auch sie nur eine Zwischenstufe in dem Wandel
des Begriffs, der in der Allheit erst seinen Lauf abschliesst, seine
Einheitbildung zur Vollendung bringt.
Es ist lehrreich und bedeutsam, wie So k rat es diese Be-
deutungen im Begriffe des Menschen, wie daher auch des Begriffs
überhaupt, nur teilweise, gleichsam wie ein Anfänger aufhellt.
Allerdings sucht er die Menschen in der Stadt auf, um sie über
ihre Triebe und ihr Treiben auszufragen und zur Rede zu stellen.
Er ist kein Einsiedler, und wendet sich nicht an Einsiedler. Er
geht auch nicht nur zu den Vornehmen und zu den Gebildeten,
noch allein etwa gar zu den Ungebildeten. Ihn interessieren alle
Berufsarten seiner Mitbürger in gleicher Weise; nicht nur in
demselben logischen Interesse, sondern auch, weil sie als Menschen
gleich nahe seinem Herzen stehen. Indessen wie vielseitig daher
auch sein Interesse am Menschen ist, wie weit sein Blick und
wie breit sein Horizont bereits ist, dennoch bleibt seine Mehr-
heit der Menschenein Bild von Einzelnen. Freilich ist dieses
Bild ein Begrifl; al>er es ist nur der Anfang des Begriffs.
Das Bild des Menschen, welches die Mehrheit bildet, die
Sokrates in seinem Begriffe des Menschen vereinigte, dieses Bild
stellt doch nur den Menschen als ein Einzelwesen dar. Steuer-
mann, oder Feldherr, Arzt oder Gerber, es ist und bleibt der
6 Der Platonische Begriff der Mcnschenscele.
Mensch des Handwerks, der Lebensbetatigung, der, wie immer
auch er auf das Ganze hingewiesen wird, dem er zuzustreben
habe, in diesem Ganzen selbst doch nur ein Einzelner bleibt.
Für sich selbst hat er zu sorgen, auf dass sein Leben seinen
Zweck erfülle. Das höhere Ganze ist nicht in jedem Sinne von
höherem Werte als sein eigenes einzelnes Wesen, sondern es ist
nur der Wegweiser, der letztlich immer nur ihn selbst auf den
rechten Weg bringt. Sokrates trinkt den Giftbecher nicht, um
sich selbst für den Staat zu opfern, sondern weil er in dem Gesetz
des Staates die Richtschnur für sein Handeln, gleichsam ein
anderes Daemonion mit erweiterter Befugnis zu vernehmen
glaubt. Es ist und bleibt das Individuum, welches seinen
Begriff vom Menschen ausfüllt.
Anders von vornherein Plato. Man weiSvS, wie er in seiner
Republik, welche seine Ethik enthält, nicht von der Seele des
Einzelmenschen ausgehen will, sondern von derjenigen Seele des
Menschen, welche der Staat darstellt, welche im Staate ihr Leben
vollführt. Zum Begriffe des Menschen tritt jetzt der Be-
griff der Seele hinzu. Und während bisher, etwa insbesondere
nach Pj^hagoreischer Ansicht nur die Weltseele zur Mensclien-
seele hinzutrat, so denkt Plato die Staatsseele als eine neue Art
von Weltscele; und sie tritt jetzt als eine neue Art auch der
Menschenseele auf.
In dieser neuen Art von Men.schenseele tritt der Mensch
aus den Schranken der Mehrheit heraus und in das Zeichen der
Allheit ein. Und damit erst vollendet sich, damit erst vollzieht
sich der BegritT des Menschen. Jetzt ist der Mensch nicht mehr
ein Einzelner; weder ein Einziger, noch ein Einzelner einer
Mehrheit, sondern er gehört nunmehr einer Allheit an. Und in
dieser Allheit erst erlangt er eine Seele. Plato sagt zwai* nur,
man könne ^\e Seele des Menschen besser im Staate erkennen
als in dem Einzelwesen; aber darin liegt doch wohl zugleich der
Hinweis auf die genauere und gediegenere Ausprägung des Seelen-
begriffes in der Allheit als im isolierten Wesen.
So sehen wir denn, wie bei der Entstehung der Ethik im
Begriffe des Menschen Zweideutigkeiten auftauchen, die \ielmehr
als Wandelungen und Stufen in der Entwickelung des Menschen-
begriffs sich erkennbar machen. Von Anfang an sehen wir das
Die Allheit das Princip des Menschen. 7
Individuum auftrelen, dem als eine scheinbare Erweiterung ein
Nachbar und eine Sammlung von solchen zur Seile tritt. Die
Sammlung steigert und verdichtet sich; immer aber bleibt sie
das Kollektivum einer Mehrheil. Und indem sie entsteht, ver-
sinkt nicht etwa das Individuum, das ihr angehört, imd das
doch nur in ihr bei aller seiner Selbständigkeit seine Stelle hat;
sondern es bleibt bestehen, wie immer der Zusammenhang mit
der Mehrheit für seinen Wert massgebend bleibt. Und wie sehr
andererseits die Mehrheit ihren eigenen Wert behauptet, so muss
sie doch durch die Allheit Einschränkung erfahren. Ohne die
Allheit, ja ohne mit der Allheit anzufangen, lässt sich
der Begriff des Menschen nicht nur nicht vollenden,
sondern schlechterdings nicht entwickeln und nicht
bilden. Die Allheit bildet nicht nur das glückliche Ende,
sondern sie ist auch der rechte Anfang.
Das ist also das komplizierte Bild, welches der Begrifl des
Menschen darstellt: Einzelheit und Mehrheit, das ist Besonderheit,
und — Allheit. Und Alles zugleich. Alles in Einem. Denn das
ist doch der Sinn der Methode, welche Plato mit der Staatsseele
des Menschen in die Ethik einführt: dass das Ende vielmehr der
Anfang sei. Ende und Anfang sind weder methodisch, noch
sachlich von einander geschieden. Die drei Wege, für welche
der Begriff des Menschen den Wegweiser bildet, das Einzelw^esen,
die partikulare Mehrheit und die Allheit, sie sind nicht Kreuz-
wege; sondern auf jedem Schritte der Bahn müssen sie zusammen-
gehen; nur in ihrer Vereinigung liegt der Weg des Menschen.
Wir hatten gesagt, dass von keiner Wissenschaft der Ethik
ihr Sonderrecht bestritten werde; jetzt zeigt sich ein Grund dafür.
Freilich müssen alle Wissenschaften, sofern der Mensch ihr
Gegenstand ist, in diesen drei Richtungen ihn auch zur Be-
trachtung bringen; dieweil der Begriff des Menschen in diesen
drei Richtungen sich vollzieht. Aber es lässt sich vermuten, und
es wird zu zeigen sein, dass die Prägnanz der Einheit dieser drei
Richtungen, welche diese nicht nur fordern, sondern zugleich
auch finden, in keiner Wissenschaft so deutlich und so eindring-
lich wird, also wohl auch in keiner so genau sich vollzieht, wie
in der Ethik. Sie allein enthüllt das Wesen des Menschen, um
mit diesem Worte einmal den trockenen logischen Begriff auf
8 Das Individuum in der Anthropologie.
einen Moment zu vertauschen, in der Wechselwirkung, in der
Durchdringung der Einzelheit, der Besonderheit und der Allheit.
Ein Individuum wäre der Mensch'? Keineswegs ist er dies
allein; sondern in einer Mehrheit, vielmehr in mancherlei Mehr-
heiten steht er in Reih und Glied. Und doch ist er nicht dies
allein; sondern in der Allheit erst vollendet er die Kreise seines
Daseins. Und auch diese Allheit hat mancherlei Grade und
Stufen, bis sie in einer wahrhaften Einheit, in der Menschheit
nämlich ihren Abschluss findet, der aber auch vielmehr ein ewig
neuer Anfang ist.
Diese Ansicht sol 1 der Leitgedanke unseres A ufbaus
der Ethik werden. Sie ist nicht allen Lehrgebäuden der Ethik in
gleicher Bedeutung eigen; sie ist am wenigsten allen Vorstellungen
vom Sinne des Menschen gemeinsam. Daher lassen sich die
Unterschiede und Differenzen in der Entwickelung der Ethik,
und in dem Verhältnis der Wissenschaften zur Ethik von hier
aus verstehen. Es lässt sich so auch verstehen, wie die Dar-
stellungen der Ethik zu den einzelnen Wissenschaften eine nähere
Wahlverwandtschaft zu erkennen glauben.
Vor Allem führt das Moment des Individuums zur An-
thropologie, und von da aus zur P.sychologie. Die Anthro-
pologie ist in erster Linie biologisch. Und die Biologie ist das
legitime Gebiet, in dem der BegrifT seine Induktion beschreibt.
Wer wollte den BegrifT des Menschen zu finden liofTen, der sich
über die biologische Natur des Menschen hinwegsetzen zu dürfen
meinte? Die Probleme und die Ergebnisse, welche die biologische
Anthropologie je nach den Stufen ihrer Entwickelung zu erzielen
vermag, sie dürfen nimmermehr und an keiner Stelle vernach-
lässigt werden, oder auch nur ausser Betracht bleiben, wenn
anders die Ethik die Lehre vom Menschen sein will. Aber damit
ist keineswegs gesagt, dass der biologische Begriff des Menschen
den Ausgang bilden müsste für diejenige Ermittelung des Begriffs
vom Menschen, die der Ethik obliegt. Was nicht ignoriert
werden darf, und was immerfort beachtet werden muss, dem
braucht darum keineswegs auch die methodische Leitung zuzu-
stehen. So wenig der BegrifT des Menschen in dem biologischen
Begrifte des Menschen aufgeht, so wenig darf dem letztern die
Verhältnis zwischen Ethik und Psychologie. 9
methoilische Führung der Untersuchung^ zuerkannt werden. Schon
die Allheit warnt davor.
Und wenn dies schon von der Biologie gilt, so gilt es nicht
minder auch von der Psychologie. Wir sahen ja, dass gerade
am Seelenbegrifl'e Plato den Scheideweg der Ethik bestimmte.
Und an diesem Scheidewege schuf er nicht nur die Ethik, sondern
zugleich und vorzugweise in ihr auch die Psychologie. Dass
vor ihm keine Psychologie in methodischer Zusammenfassung
vorhanden war, daraufsei hier nur hingewiesen. Plato ist der
eigentliche Urheber der Psychologie. Aber wenngleich
<lie grundlegenden Untersuchungen, in denen er die Logik erschuf,
die Erörterungen über das Denken, als das Denken der Erkennt-
niss, im Unterschiede von der Wahrnehmung und Vorstellung,
einen ebenso wichtigen, einen unumgänglichen Anlass für die
Entstehung der Psychologie darboten, so darf man vielleicht doch
wohl das Verhältnis zwischen der Ethik und der Psychologie
bei Piaton als noch unmittelbarer und durchgreifender bezeichnen.
Denn mit der Wahrnehmung verschlingt sich die Begehrung;
also kompliziert sich das ethische Interesse mit dem logischen.
Und so geht es weiter und tiefer. Liegt doch ebenso die Seele
des Menschen nicht in dem Netzwerk ihrer individuellen Be-
tätigung, sondern gleichsam jenseits seiner selbst, in einer Ver-
grösserung und Erweiterung seines Selbst. Wie dieser makro-
kosmische SeelenbegrifT in der Ethik entsprang, so konnte die
Psychologie aus der Ethik ihre Direktive erhalten, und auch
die makroskopische Darstellung ihres Objekts; nicht aber konnte
umgekehrt die Psychologie die Leitung beanspruchen wollen für
die Ethik, welche ihrerseits erst den richtigen SeelenbegrifT zur
Entdeckung bringt.
Dennoch besteht noch heute Unklarheit und Streit über
dieses natürliche Verhältnis zwischen Ethik und Psvcho-
logie. Wenn es sich nur um die Methode der Ethik dabei
handelte, .so wäre der Streit verhängnisvoll genug. Aber auch
die Psychologie wird, wie von einem Schicksal, von dieser
Meinung befallen. Denn es handelt sich nicht allein um die
Methodik der Psychologie dabei, sondern schlechterdings um den
ganzen Inhalt, Stoß* und Gegenstand derselben. Der Torso, den
man heutzutage Psychologie nennt, stellt ein erschreckendes Bild
10 Verhältnis der Psychologie zur Physiologie.
davon bloss. Die Tierpsychologie wird nicht mehr ausdrücklich
kultiviert, obwohl sie doch sehr nützlich und wichtig wäre. Aber
was man heule als Psychologie zumeist traktiert, ist doch im
besten Sinne hauptsächlich Tierpsychologie. Indessen, wxnn die
Psychologie Menschen-Psychologie werden soll — und sie muss
dies in einer eminenten Bedeutung des MenschenbegrüTs werden — ,
dann muss eben der Seelenbegriff der Ethik nach Piatons An-
weisung und nach seinem fruchtbaren Muster ihr voraufgehen.
Unsere Ausführungen werden die Richtigkeit dieses Satzes zu
erweisen haben. Hier nur noch eine kurze Vorbetrachtung.
Der wissenschaftliche Wert der Psychologie besteht trotz
aller ihrer Selbstüberschätzung, als wäre sie eine grundlegende
Disziplin der philosophischen Erkenntniss, nichtsdestoweniger
doch in ihrem Anschluss an die Physiologie. Nimmermehr kann
man auf die Einsichten verzichten, welche aus diesem Zusammen-
hang erwachsen. Uebrigens hat man auch niemals in der ernst-
haften Philosophie, geschweige bei den Klassikern, es unterlassen,
diesem Zusammenhange nachzugehen und diese Einsichten zu
fördern. Man beachtet es zu wenig, dass Malebranche und
Berkeley die Begründer der physiologischen Optik sind, und
dass Descartes seinen grossen Einfluss auch nach dieser Seite
hin ausgeübt hat. Daran also kann kein verständiger Zweifel
aufkommen, dass das Grenzgebiet von Physiologie lind Psycho-
logie auch für die letztere unentbehrliche Aufschlüsse enthält.
Nur darauf bezieht sich der Widerspruch gegen diese moderne
Psychologie, dass sie an sich und auf Grund dieser der Physio-
logie angehörigen Methode Psychologie sei; und zumal dass sie als
solche die Grundlage der Philosophie bilde. Einem schätzbaren
Material giebt man den Wert eines methodischen Fundaments.
Darin besteht die Verirrung. Die Fragen und Interessen der
Psychologie gehen dagegen über jenes Material in seiner grössten
Vervollständigung und Verfeinerung prinzipiell hinaus. Daher
müssen die Prinzipien eigene, selbständige sein, andere als die
eines Appendix der Physiologie.
Weil dem aber so ist, wie wir es in der Logik in mehr-
facher Hinsicht erwogen haben, so darf sich die Ethik nicht
von der Psychologie die Direktive erteilen lassen. Würde diese
doch eben von der Physiologie ausgehen; wie es zur Festlegung
Der psychologische Naturalismus des Inviduums. 11
gesicherten Materials geschehen müsste. Daher kann die Psycho-
logie den Seelenhegriflf des Menschen trotz allen Versuchen, die
weiter streben, dennoch nicht über den des Individuums hinaus-
führen. Was sich über mehr oder weniger geistreiche An-
regungen hinaus in methodisch angreifbarer Forschung unter
der Flagge der Volker-Psychologie ausrichten lässt, das be-
schrankt sich eben auf die Sprache und die Sitte.
hl den anderen Richtungen der Kultur gehen die Völker
die gemeinschaftlichen Wege der Menschheit; und trotz aller
Besonderung in Poesie, Kunst und Recht stellen sie doch in
ähnlicher Gleichförmigkeit, wie sie in der Wissenschaft als selbst-
verständlich gilt, die allgemeine Individualität des Menschen dar.
Das Individuum ist und bleibt der Kernbegriff des
Menschen der Psychologie. Darin liegt der Hemmschuh,
den die Psychologie für die Ethik bilden müsste, wenn sie sie
führen dürfte.
Die Ethik geht, wie wir es uns vorsetzen, auf die Durch-
dringung des Individuums mit der Besonderheit und mit der
Allheit. Wenn die Psychologie in der Individualität der Völker
allenfalls noch eine Besonderheit darzustellen vermöchte, so
liegt doch die Allheit gänzlich ausserhalb ihrer Grenzen. Mit
dem Staate z. B. weiss sie Nichts anzufangen; und der Einheit
der Menschheit steht sie ratlos gegenüber, wenn sie von den
Schädelmessungen in Stich gelassen wird. Der Begriff des In-
dividuums, den sie mit ihren Mitteln zu geben vermag, ist daher
ebenso unvollständig, wie er für die Ethik unzulänglich und
irreführend ist.
Das Erbteil der Psychologie nach ihrem notwendigen me-
thodischen Zusammenhange mit der Physiologie ist der Natura-
lismus, der Todfeind der Ethik. Das Individuum der Psvcho-
logie würde für die Ethik das Fundament des Individualismus,
des Egoismus, des Solipsismus bilden. Und wenn man noch so
eifrig darauf ausginge, die Einseitigkeiten dieser Begriffe abzu-
stumpfen und das Individuum weitherzig zu machen und von
seinen natürlichen Engen zu befreien, so dass es die anderen
Momente in sich aufzunehmen scheinen könnte, so würde dennoch
der Naturalismus das Selbstische festbannen; so würde vor
Allem der Naturalismus selbst festgewurzelt bleiben. Und in
12 Sein und Sollen.
liem Naturalismus allein schon, abgesehen von seinem Be-
grille des Individuums, liegt die methodische Grundgefahr
der Ethik.
Wenn wir hier den Naturalismus in Anspruch nehmen, so
wäre es ganz verkehrt, zu meinen, als ob wir hiermit die übliche
Predigt gegen den Materialismus eröffnen wollten. Die Abwehr
des Naturalismus aller Art für die Grundlegung der Ethik betrifft
kein erbauliches Ornament, sondern alle konstruktiven Elemente
imd das Fundament. Dahin geht der tiefwurzelnde und tief-
greifende Sinn der Unterscheidung, die Kant zwischen Sein
und Sollen machte. Das Sein, welches er dadurch von der
Ethik abschied, ist keinesw^egs allein das gewöhnlich so genannte
sinnliche Sein, welches in dem Eludaemonismus seinen ent-
sprechenden Ausdruck erlangt; sondern es ist das Sein der
Natur überhaupt, selbst in ihrer geistigsten AulTassung. Darauf
beruht der unausgleichbare Gegensatz zum Eudaemonismus, weil
dieser eben unlösbar mit dem Naturalismus zusammenhängt, und
garnicht etwa allein mit einer schlüpfrigen Auffassung desselben.
Die Natur selbst bildet den Widerpart. Die Natur selbst in aller
ihrer Reinheit und fc^rhabenheit, sie darf nicht als das Asvl be-
trachtet werden, auf das der ethische (ieist hinsteuert. Daher
konnte Kant die ganze Rou.sseau-Stimmung aus dem Felde
schlagen, weil ein rüstiger, lebensvoller, schairensfreudiger, wahr-
haftiger Geist der schöpferischen Sittlichkeit in ihm athmete,
der jene Sehnsucht nach Einsamkeit bezwang. Die beschauliche
Natureinfalt mag für die Kunst passen; die Ethik dagegen will
nicht in erster Linie von den Bäumen lernen, sondern von den
Menschen in der Stadt. Und der Horizont war inzwischen weiter
geworden; er umschloss die Menschen in der Welt.
Darum konnten alle die Romantiker diesen Grundsatz nicht
verstehen und nicht vertragen. Und das ist das Verdienst
Fichtes, dass er in diesem (irundgedanken von ihnen allen
sich unterschied. Es war nicht allein sein geschichtlicher Sinn,
noch sein Herz für das deutsche Vaterland, das er in dessen
(ieisteswelt als eine Wirklichkeit besass, und an dessen Verfall er
daher und deshalb nicht zu glauben vermochte, noch auch war
es sein Herz allein für die Elenden im Volke, die der nationalen
Kultur und Erziehung noch nicht teilhaft geworden waren: es
Kant und Piaton. 13
war ebensosehr seine philosophische Kraft, die von diesem
neuen Worte, diesem Schiboleth einer neuen Lehre und einer
neuen Weltansicht ergriffen und erleuchtet wurde. Alle Psycho-
logie nicht nur, alle Philosophie selbst hat es sonst mit dem
Sein zu tun, mit dem Sein der Natur und ihren Gesetzen: die
Ethik allein hat ein anderes Sein zu ihrem Vorwurf; andere
Gesetze als die der Natur zu suchen.
Was das Sollen selbst bedeutet, das betrachten wir jetzt
nicht; es handelt sich jetzt nur um den Gegensatz zur Natur.
Den bezeichnet die Unterscheidung vom Sein. Und wenngleich
das Sollen freilich auch auf eine Ali von Sein ausgehen muss,
so ist dieses Sein doch von so grundverschiedener Art, dass vor
Allem durch den Gegensalz zum Sein der Natur das neue Sein,
das Sein des Sollens zur Formulierung kommen sollte.
Es mag hier nur darauf hingedeutet werden, dass allerdings
diese Formulierung nicht einwandfrei ist; dass sie vielmehr mit
Ausführungen der terminologischen Grundlagen zusammenhängt,
deren Berichtigung wir uns zur Aufgabe machen, während wir
die Tendenz und den weltgeschichtlichen Sinn dieser Unter-
scheidung als ein ewiges Verdienst Kants verehren.
In dieser Parole kommt Kant mit Piaton überein.
Es ist der Weg des Idealismus, der von dem Gängelband der
Natur und von der Tyrannei der Erfahrung sich frei macht. Das
absterbende Altertum hat für diesen Idealismus keinen Atem
gehabt. Daher ist es so ausserordentlich lehrreich, dass die
Stoa, wie Epikur, immer nur das Individuum predigen, und
die Aufgabe der Ethik im Ideal des Weisen zu erkennen
glauben. Sie träumen ahnungsvoll von einer Allheit; sie ver-
steigen sich, wie ja der kosmopolitische Gedanke dem griechischen
Philosophen im Blute liegt, zu dem Gedanken der Menschheit.
Aber solche Gedanken bilden nur Ausschmückungen und allen-
falls Konsequenzen; Mittelpunkt bleibt trotz alledem das Indi-
viduum. Sie vermögen ihre Art von Allheit nicht in Verhältnis,
nicht in Wechselwirkung zu setzen mit dem Individuum. Es
gelingt ihnen nicht einmal mit der Besonderung und ihren Arten;
und sie gehen auch darauf nicht aus; geschweige mit der Durch-
dringung des Individuums mit der Allheit, auf die sie allerdings
in geschichtlicher Fernsicht hinzielen.
14 Die Stoa und Spinoza.
Dieser stoische Zug, der das Ideal in das Individuum legt,
ist allem bisherigen Weltalter eigen geworden und eigen geblieben,
weil das in derselben Zeit entstehende Christentum ihn sich
zu eigen gemacht hat. Und wenngleich das letztere vom Mutter-
mal des Naturalismus sich ablöste, so musste es doch, indem es
die Gottheit mit einem menschlichen Individuum vereinigte,
diesen stoischen Grundzug beibehalten. Um so leichter wurde
es wegen dieser Innern Verwandtschaft des Christentums mit
dem Stoicismus der neuern Welt, durch den letzteren sich zu
regenerieren, während es von der Allgewalt des ersteren sich
loszureissen suchte. Da man aber in dieser allgemeinen Tendenz
der Renaissance auf die Natur zurückging, so fand man auch
dafür in der Stoa verwandte Stichworte. So verbinden sich in
der Renaissance die Natur und das Individuum in der Sehnsucht
nach einer neuen Moral. Konnte aber auch eine neue Ethik,
eine Ethik, die in die Spuren des Platonischen Idealismus ein-
lenkte, auf diese Weise entstehen?
Spinoza hat dem Hauptwerke seiner Philosophie und damit
dieser selbst den Namen der Ethik gegeben. Und keiner Ethik,
die in den neueren Zeiten vor Kant auftrat, dürfte es gelungen
sein, ihre Grundstimmung einem ganzen Zeitalter so allgemein
aufeudrücken, und zwar den mächtigsten Geistern desselben. Und
dennoch hat auch Spinoza die Folgen des Zusammenhangs nicht
überwinden können, in dem er mit der Stoa steht. Nicht der
Naturalismus ist eigentlich abstossend an ihm, den Herbart
nicht ohne einen Anflug von Antipathie hervorzukehren beflissen
ist; denn dieser liegt häufig nur in den Schwingen der Termino-
logie. Aber die Abneigung, die Kant gegen ihn mehr als gegen
jeden andern Philosophen deutlich erkennen lässt, sie entspringt
aus einem sachlichen, grundsätzlichen Gegensatz. Spinoza be-
zaubert den Leser durch die Ruhe und die Erhabenheit über
Vorurteile und herrschende Ansichten, durch die er den Anschein
einer antiken Nacktheit annimmt, indem er die menschlichen
Leidenschaften und auch die Handlungen auf ein Niveau mit den
mathematischen Figuren setzte. Solche Gesinnung ist aller Ehren
wert, wenn es sich um ein Urteil handelt in dem Kampf der
Meinungen und der Parteien; sie widerspricht jedoch der Mög-
lichkeit einer Ethik, wie sie Plato geschatTen hat.
Der Fehler des Pantheismus für die Ethik. 15
Wenn die Handlungen der Menschen zu betrachten wären,
als wären sie Linien, Flächen und Körper, wie Spinoza dies aus-
zusprechen wagte, so wären nicht nur die Handlungen der
Menschen, sondern die Menschen selbst mathematische Figuren.
In diesen mathematischen Figuren liegt bei Spinoza der
Grundfehler seines Naturalismus. Die Menschen sind nicht
Naturkörper. Das bleiben sie aber auch als mathematische
Figuren. Wer konstruiert denn diese geometrischen Figuren auf
dem Schachbrett der Natur?
Man sieht bei dieser Frage, dass diese Ethik nicht ihren
letzten Grund in den mathematischen Figuren, wie auch nicht
in den Individuen der Menschen hat. Sie beruht auf einer
Metaphysik, in deren Lehre von der Substanz der Natur das
Individuum erst seine mehr als bescheidene Stellung finden kann.
Innerhalb der Ethik selbst kann es sich nicht verantworten lassen,
dass die Menschen mathematische Gebilde seien. Daher durfte
Kant seinen AngriiT gegen diesen Grundsatz richten. Bei dem
Zirkel darf ich nicht fragen, was er sein soll ; sondern allein, was
er ist. In seinem Sein liegt sein Gesetz. Dagegen liegt das Gesetz
des Menschen nicht in seinem Sein, sondern in seinem Sollen.
Nirgend vielleicht kann man die zwingende innere Konse-
quenz eines Grundgedankens so deutlich erkennen, wie in der
Abhängigkeit der philosophischen Romantik von Spinoza.
Sehe Hing, wie Hegel, und trotz mancher Abweichung auch
Schleiermacher, sie sind alle im Pantheismus befangen. Die
Gefahr des Pantheismus liegt aber nicht ursprünglich in der
Bedrohung der Gottesidee; diese betriffl nur die Konsequenz. Der
Fehler des pantheistischen Fundaments und Prinzips bezieht sich
auf den BegriiT des Menschen und daher auf das Problem der
Ethik. Wenn Gott und Natur Dasselbe sind, so sind zum
mindesten Mensch und Natur Dasselbe. Und so geht der Unter-
schied zwischen Sein und Sollen zu nichte.
Es ist doch gewiss nicht von Ungefähr geschehen, dass
weder Schelling noch Hegel eine Ethik in eigener Verfassung und
unter besonderem Titel geschrieben haben. Und Schleiermacher
richtet sich vor Allem in einer grundsätzlichen Abhandlung gegen
diese Unterscheidung. Alle Identitäts-Philosophie ist Pantheismus,
wenn sie nicht im Begriffe des Denkens selbst den Unterschied
16 Verhältnis zwischen Denken und Wollen.
ansetzt, der zur Unterscheidung von Sein und Sollen hinführt.
Der Fehler im System der Identität liegt daher begründet in einem
doppelten Fehler im Begriffe der Identität: nämlich ei*stens in
einer falschen Identität im Denken, und demzufolge in einer
solchen im Sein. Hier aber stossen wir auf einen andern Fehler
der Psychologie, in der wir allgemein die Grundlage dieser Art
von Ethik, welche sich in der Identitäts-Philosophie der Romantik
fortsetzt, gefunden haben.
Die Psychologie geht vom Individuum und auf das Indi-
viduum aus. Auch die Handlungen des Menschen fallen für sie
unter den Gesichtspunkt des Individuums. Wenn aber dies von
den Handlungen gilt, wie\iel mehr muss es von den Begehrungen
und Strebungen gelten. Eine alte Streitfrage bildet daher das
Verhältnis zwischen Denken und Wollen.
Die Frage ist in der beginnenden christlichen Philosophie
mit den Grundfragen der christlichen Dogmatik kompliziert; der
W^ille muss, um es für den vorliegenden Gesichtspunkt einseitig
auszudrücken, schon des Bösen wegen, das er schaffen muss, in
besondere Kraft und Geltung treten. Ebenso freilich aber auch
für die Liebe zu Gott und den Menschen. Der Gesichtspunkt
des Sokrates, dass Tugend Wessen sei, musste daher zurück-
gedrängt werden. Dennoch aber musste schon das Willensmotiv
in der religiösen Liebe es verhindern, dass das intellektuelle
Motiv im Willen gänzlich hätte ausgeschaltet werden können.
Ohnehin war es ja für die Freiheit des WM.Ilens, soweit man sie
brauchte und anerkannte, unentbehrlich.
Auch im Rechte spielt diese Frage in der neueren Zeit
eine typische Rolle. Leibniz bleibt sich konsequent, indem er
gegen die Ueberspannung des Willens im Rechte eintritt. Aber
freilich darf andererseits auch das intellektuelle Moment für den
BegrilT der Handlung nicht allein ausschlaggebend werden. Die
Strafrechts-Theorie verlallt sonst dem Fehler einer einseitigen
Gesinnungs-Ethik, für welche, bei günstigster Auffassung, der Wert
und der Prüfstein der Gesinnung in der Genauigkeit des
Denkens besteht.
W^o liegt nun die methodische Richtschnur für alle diese
und die vielen ähnlichen Fragen, die mit ihnen zusammen-
hängen? Liegt sie etwa in der Psychologie? Gibt es eine Psy-
Wille und Intellekt nicht in einander aufzuheben. 17
«
chologie, welche solchen Schwierigkeiten gegenüber auf eigenen
Füssen stände, um von ihrem eigenen, selbständigen Boden aus
jene Fragen lösen zu können? Ist nicht vielmehr die Psycho-
logie in jene Fragen selbst verwickelt; und nicht allein mit
diesen sachlichen, wissenschaftlichen Problemen, sondern zugleich
mit den Grundannahmen über die tierische Natur des Menschen,
mit denen sie daher jene wissenschaftlichen Fragen in eine neue,
gesteigerte Komplikation bringt?
Bei keinem seelischen Vorgang kann man es so deutlich
beobachten, wie beim Willen, dass die Psychologie von den
sachlichen Problemen beeinflusst ist, und dass sie von ihnen aus zu
ihren Problemen und zu ihrem Material erst gelangt. Der Wille
war bei Piaton noch nicht vorhanden; erst seine Ethik bringt
ihn hervor, ohne ihn noch zu einem bündigen psychologischen
Ausdruck zu bringen. Er hat noch die verbale Formulierung;
er heisst das Wollen oder die Wollung (ßoüXYjatg; die seelische
Potenz steckt noch im Actus. Aber die Vorstufe des Willens,
die Begehrung, sie ist als eine mächtige und eigenartige seelische
Kraft erkannt und anerkannt. Sie bleibt auch in der höhern
Stufe erhalten, in welcher sich der neue Wille emporringt. Und
darauf kommt es an, dass das Moment der Strebung bei aller
Läuterung, deren der Wille fähig gemacht wird, dennoch nicht
ausgelöscht und nicht verdunkelt werde.
Das Verhältnis von Wille und Denken darf nämlich
durchaus nicht so zur Bestimmung kommen, dass entweder der
Wille den Intellekt, oder der Intellekt den Willen ausspannt.
Beide müssen erhalten bleiben; keines dieser beiden Motive darf
auch nur das l^ebergewicht über das andere in der wissenschaft-
lichen Bestimmung erlangen. Vor dieser Forderung entsteht
die InsufTicienz der Psychologie bei dieser Grundfrage. Und diese
Schwäche wird durch den allgemeinen Umstand gesteigert, dass
die Psychologie nach ihrer besten, nämlich physiologischen
Fundamentierung naturalistisch bedingt ist. Für sie niuss
unumgänglich der Wille seinen Ursprung im Triebe haben und
behalten. Es kommt daher zu der lehrreichen Alternative, welche
die neuere Psychologie darstellt, dass nach der einen Ansicht
der Wille nur ein vom Denken angekränkelter, in seiner natür-
lichen Sicherheit daher verlangsamter Trieb sei; während er
18 Psychologie im Dienste der Metaphysik.
nach der andern Theorie mit der bangen Wahl anfangt, aber
die Chance der Karriere hat, zum Reflex-Willen sich abstumpfen
zu können. So zeigt sich die Psychologie direktionslos gegenüber
dieser Grundfrage; wie sollte es daher denkbar sein, dass sie die
Ethik dirigiren könnte?
Es ist auch nur äusserlicher, wenngleich wissenschaftlich
übertünchter Schein, dass die Psychologie selbst die Leitung in
der Behandlung dieses Problems übernähme. Die Psycho-
logie stellt sich dabei vielmehr in den Dienst der Meta-
physik. Man kennt ja sattsam diese Art von Metaphysik; sie
hat Jahrzehnte lang fast das Interesse für Philosophie überhaupt
verschlungen. Der Wille sei das Absolute, das Ding an sich,
während def Intellekt nur die Erscheinung zu trefi*en vermöge.
Diese Metaphysik Schopenhauers trennt somit die beiden
Momente des Intellekts und des Willens so schroff von einander,
dass sie sie in zwei Welten von verschiedenem Werte abteilt;
das eine in die Welt des Scheins verweist, das andere allein der
Welt der Wahrheit zuerteilt.
Wenn diese Metaphysik Ethik sein wollte oder sollte, so
müssten wir stutzig werden; geschweige wenn sie Psychologie
sein soll. Denn wir haben unbezwinglichen Verdacht gegen eine
Wahrheit, die auf anderen Gerechtsamen beruht als auf denen
der erkennenden Vernunft. Kein Wille, wenn er dem Intellekt
entgegengesetzt wird, kann eine Welt der Wahrheit bedeuten,
oder gar verbürgen dürfen, während der Intellekt zum Urheber
der Erscheinung wird. Es ist eine Konsequenz, wie die des
Hexen-Einmal-Eins, dass in dieser Metaphysik an die Stelle der
Philosophie die Musik tritt. Wenn die Rätsel der Welt dem
Willen überantwortet werden, dann muss die Kunst an die Stelle
der Wissenschaft treten; und unter den Künsten alsdann die-
jenige, welche den Affekt zum mächtigsten Leben bringt.
Was diese Art von Metaphysik in ihrem letzten Grunde
anstrebt, das ersieht man nur indirekt an dieser Zeiterscheinung,
insofern sie die Philosophie und die Wissenschaft an die angeb-
liche Kunst preisgibt Das ist jedoch nicht der letzte Grund, von
dem sie getrieben wird. Die wahrhafte, die ewige Kunst ver-
dankt ihren Ursprung nicht falschen, geschweige verfälschten
Richtimgen der Vernunft. Für sie* gibt es keinen Widerstreit
Der absolute Wille. 19
zwischen Intellekt und Willen, zwischen theoretischer und
ethischer Vernunft. Die Metaphysik, welche eine solche der
Wissenschaft und Philosophie sich überordnende und identi-
ficirende Kunst hervorbringt, hat einen andern, eigenen Zielpunkt,
neben welchem die Kunst nur einen Seitenweg und einen
Nebenertrag bildet. Die Tendenz einer sogenannten Metaphysik,
welche den Willen auf Kosten des Intellekts offenbart, ist der
Skeptizismus oder, wie man es heute wieder zu benennen pflegt,
der Agnostizismus. Der Intellekt kann nur die Erscheinung
erreichen; das An sich, das Wesen der Dinge bleibt ihm ver-
borgen. Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen
allerhöchste Kraft.
Ueber das Diabolische einer solchen Offenbarung lassen sich
die Menschen hinwegtäuschen, indem sie um so dringlicher nach
der andern Quelle Verlangen tragen, von der ihnen Wahrheit
soll zufliessen können. Wille wird diese Quelle genannt. So
liegt sie innerhalb des Menschen, also doch auch innerhalb der
Vernunft. Also ist es auch noch immer Philosophie und Wissen-
schaft, was bei dieser Quelle in Gebrauch und Geltung bleibt.'
So scheint es, und so soll es scheinen. Denn Nichts soll vor-
sichtiger vermieden werden als der Schein, als ob die menschliche
Souveränität, und zwar insbesondere dieWillkür des offenbarenden
spekulativen Genies abgesetzt würde. Dennoch ist der Prunk mit
dieser seelischen Macht des Menschen nur Schein, der sogar in
gewisser Weise selbst aufgelöst wird; denn der Wille ist ja keines-
wegs der des Menschen allein, sondern der der gesamten
lebendigen und scheinbar toten Natur. So bleibt der Gegensatz
zum Menschen in dem absoluten Willen, in dem An sich des
Willens stecken.
Die berückende Gefahr, welche diese Art von Metaphysik alle
Zeit bildet, besteht in ihrer Verschwörung mit allen Abarten der
Religion, deren eigentliches, inneres Leben die Feindschaft gegen
die selbständige menschliche Vernunft ausmacht. Diese Religions-
Metaphysik ist der Sinn und das Ziel, der Kampfpreis und das
Kampfmittel dieser Metaphysik des Agnostizismus. Wenn es aber
der menschlichen Vernunft versagt sein sollte, den Begriff des
Menschen nach seiner Wahrheit zu erkennen, so könnte es auch
keine Ethik geben. Also widerstrebt der Agnostizismus einer
20 Protestantismus als Ethiko-Theologie.
selbständigen Ethik; einer Ethik, die auf Grund eigener Methodik
sich einrichtet und sich aufbaut.
Wenn wir nun aber gesehen haben, dass die Theorie von
der übergreifenden, absoluten Selbständigkeit des Willens keines-
wegs Psychologie, sondern vielmehr Metaphysik ist; und ferner,
dass die Metaphysik, als die des Agnostizismus, zur Aufhebung
der Ethik, als einer Lehre mit eigener Begründung, führt, so hat
sich dadurch die Psychologie als ungeeignet erwiesen, die Leitung
für die Ethik zu übernehmen. Auch der Schein des Willens ist
beseitigt; denn dieser Wille bildet einen Gegensatz zum Intellekt.
Das ist der liefe, der keusche Sinn in der dem Ausdruck
nach freilich nicht ganz klaren Formel von dem Unterschiede
zwischen Sein und Sollen: dass das Problem der Ethik selb-
ständig gemacht, von dem der theoretischen Vernunft unter-
schieden werde, und doch nichtsdestoweniger als ein Problem der
Vernunft anerkannt bleibe.
Nicht an die Religion in irgend welcher verlarvten Form
darf die Ethik abgetreten werden. Auch darf jener der Vortritt
nicht eingeräumt werden. Was Ethik sei, hat die Philosophie
nach ihren Methoden zu ermitteln und zu ergründen und also
auch erst festzustellen. Was in der Religion Sittlichkeit sei,
das hat die Religion selbst erst von der Ethik zu lernen. Die
Theologie muss Etliiko-Theologie werden.
Das war die grosse Erneuerung des Protestantismus,
welche Kant für die sittliche Welt vollzog. Der Gedanke ist
nicht auszudenken, dass diese Signatur der Ethik ihr jemals
wieder verloren gehen könnte, wenn anders die Menschheit in
der geschichtlichen Tendenz des Protestantismus fortschreitet.
Wenn heutzutage gegen diesen innersten Lebenskern des Kantischen
Geistes ein gehässiger, hämischer Widerstand sich hervorwagt,
so ist er eben mit den bösen rückläufigen Bewegungen dieser
Zeit verwachsen, und ist durch diesen Zusammenhang gekenn-
zeichnet und gerichtet.
Der Unterschied von Sein und Sollen besagt nicht, dass
wir das Sein zwar von der Wissenschaft, das Sollen dagegen von
etwas Anderem als Wissenschaft zu erlernen und zu bestimmen
hätten; sondern er bedeutet, kurz zusammengefasst, die Selb-
Der Wille als Werth der Wahrheit. 21
ständigkeit der Ethik neben der Logik und demzufolge neben
der Naturwissenschaft.
Wenn aber die Ethik sogar neben der Logik Selbständigkeit
behauptet, wie viel mehr muss dies dann gegenüber der Psycho-
logie der Fall sein. Das ist der erweiterte Sinn, den jene grund-
legende Unterscheidung annimmt. Die Psychologie darf in keiner
Weise den Ausgang bilden. Nicht nur, weil sie nicht die Methode
der Ethik leiten kann, da sie ja vielmehr, wie wir sahen, in
ihrem Material von der Ethik abhängig ist; sondern auch deshalb
darf nicht von ihr ausgegangen werden, weil sie für den Begriff
des Menschen die richtige Perspektive nicht eröffnet; weil sie
den moralischen Horizont verengt. Ihr ist der Mensch der sinn-
liche, der physiologische, also der tierische Mensch; das ist er
ihr im Anfang, und im Grunde bleibt er ihr das immer. Die
Devise: Sein und Sollen hebt über diesen Anfang hinweg, und
nicht nur über den Anfang. Der Begriff des Menschen soll nicht
haften bleiben an diesem MenschenbegrifT der Psychologie, wenn
anders Ethik möglich werden soll.
In neuerer Zeit ist die alte scholastische Kontroverse über
den Willen und den Intellekt dahin erneuert worden, dass man
in den Willen die Bestimmung des Wertes der Wahrheit
gelegt hat. Dem Intellekt an sich soll^demnach diese Bestimmung
des Wertes, von der sein eigener Wert, sollte man meinen,
gänzlich abhängt, dennoch nicht beiwohnen. Der Intellekt hat
also nicht die Selbsterkenntniss seines Wertes als Wahrheit; erst
der Wille verleihe dem Intellekt diese Beglaubigung. Der Wert
des Willens steigt freilich dadurch sehr in die Höhe; sinkt nicht
aber demgemäss der Intellekt? Doch vor Allem haben wir hier
darauf zu sehen, dass diese ganze Richtung der Charakteristik,
die doch eine häusliche Angelegenheit der Psychologie im strengsten
Sinne sein sollte, durchaus von allgemeinen systematischen Mo-
tiven geleitet wird. Und so bestätigt sich auch hier, dass die
Psychologie dieser systematischen Motive sich schlechterdings
nicht erwehren kann.
Dieser neuerlichen Ansicht gegenüber, welche im Grunde
den Gedanken des amor intellectualis wieder aufleben lässt,
können wir die Kantische Formel mit derselben Schärfe ent-
gegenhalten. Sein und Sollen, das heisst: nicht Sollen und
22 Die Logik und die Wahrheit.
Sein. Das Interesse an der Ethik mag noch so hochgestellt
werden, wie es ja der Kantische Ausdruck des Primates der
praktischen Vernunft in der Tat an die Spitze stellt, dennoch
aber darf darüber die methodische Reihenfolge nicht umgekehrt
werden. Es mag immerhin die Spitze bilden; den Anfang da-
gegen und das Fundament bildet die Ethik nicht. Die Ethik
aber würde zum Fundament unweigerlich gemacht werden,
wenn ihr, wenn dem Willen die Prägung des Wahrheitswertes
aufgetragen wird.
Auch diese Ansicht begünstigt die Metaphysik, wenngleich
nur in der Ueberspannung, welche den Standpunkt Fichtes
bildet. Auch dieser vollzieht eine Umkehrung der Methode.
Er leitet die Wahrheit im letzten Grunde von der Ethik ab.
Ethik entsetzt daher die Logik, deren methodisches Recht viel-
mehr es bleiben muss, den Wert der Wahrheit zu bestimmen.
Wo daher die Logik umgangen, wo ihre erste Instanz verleugnet
wird, da ist man unrettbar der Metaphysik verfallen; ihren Zwei-
deutigkeiten, ihren Verschlingungen, ihren Verwirrungen, ihren
UnWahrhaftigkeiten.
Wenn die Logik für die Bürgschaft der Wahrheit ver-
worfen wird, so entsteht der Verdacht, dass derjenige Sinn der
Wahrheit, den sie zu verbürgen vermag, verworfen und ver-
achtet wird. Jedenfalls wird er als nicht zureichend erächtet.
Dieses Urteil darf nicht als ein Vorurteil erscheinen; vielmehr
beruht es auf der Unterscheidung von Sein und Sollen. Ein
Anderes aber ist es, die logische Wahrheit als nicht zureichend
zu erkennen für den ethischen Anspruch; ein Anderes hin-
gegen, die erstere darum für die letztere preiszugeben, und die
letztere ausser Zusammenhang zu setzen mit der ersteren. Diese
Wendung allein bezeichnet die Tendenz der Metaphysik, und sie
ist es, gegen welche wir hier die Aufmerksamkeit erregen.
Wenn derjenige \Vert der Wahrheit, den die Logik zu bieten
vermag, hintangestellt, verdächtigt und verworfen wird, so muss
die Frage entstehen: ob es eine andere Wahrheit als die der
Logik geben könne; eine andere als die, welche auf dem Grunde
der Logik beruht und von diesem Grunde prinzipiell und
methodisch nicht abweicht?
Idee und Ding an sich. 23
Von welcher Art könnte eine andere Art von Wahrheit sein?
Ihr Inhalt muss doch der Mensch bleiben. Welches Problem
des Menschen, welches Interesse am Menschen kann und darf
ein neues Problem der Wahrheit erwecken, nachdem der Wert
der Wahrheit, den das Denken der menschlichen Wissenschaft
ausmacht, in Zweifel gezogen ist? Muss nicht der Verdacht ent-
stehen, dass an Stelle wissenschaftlicher Begrifle und Erkennt-
nisse Wahngebilde der Mythologie treten könnten? Und muss
nicht vor Allem der Verdacht entstehen, dass die Arten und
die Grade der Gewissheit, welche die Logik unterscheiden
lehrt, auf diesem Wege nivelliert und beseitigt werden?
Hier müssen wir nun auf einen verhängnisvollen Mangel
in der Formel von Sein und Sollen, wie in ihrer Durch-
führung, hinweisen. Wir sagten schon oben, das Sollen müsse
doch auch ein Sein bedeuten. Die Unterscheidung vom Sein darf
nimmermehr dem Sollen den Wert des Seins benehmen, das
Sollen vom Sein ausseht iessen. Nur das Sein der Natur, als der
Natur der Naturwissenschaft, soll hier das Sein bedeuten, und
von diesem Sein soll das Sollen unterschieden w^erden. Was
bleibt ihm dann aber für eine andere Art von Sein? Unsere
Frage geht hier nicht auf den Inhalt dieses Seins — auf den
soll sie später gerichtet werden, — sondern auf den methodischen
Wert dieses Seins. Welcher Wert der Wahrheit ist ihm zuzu-
sprechen?
Hier kommen wir auf eine tiefste Schwierigkeit in Kants
Terminologie, nämlich auf das Verhältnis der Idee zum
Ding an sich. Gerade hier hat Fichte eingesetzt, und hier
konnte er zu der Einbildung kommen, dass er Kant zu ver-
bessern berufen sei. Wir wissen von der Logik her, dass das
Problem des Dinges an sich von Kant nicht vollständig
aufgelöst worden ist, und dass es von ihm nicht auf-
gelöst werden konnte, weil er die BegritTe der Realität und der
Wirklichkeit nicht zu voller Klarheit und Sicherheit gebracht
hat Hier haben w4r nun zu sehen, wie dieser Grundmangel
auch mit einem solchen in der Bestimmung der Idee zusammen-
hängt. Wenn wir jedoch den Mangel in der Idee betrachten,
müssen wir vorerst ihren Vorzug uns vergegenwärtigen.
24 Ideen und allgemeine Naturgesetze.
Der Wei:t des Terminus der Idee liegt in der Unter-
scheidung von Sein und Sollen. Kant hat den Tiefblick gehabt,
der ihm das Geheimnis der platonischen Idee enthüllte. Die
Idee sei in den neueren Sprachen in Missbrauch gekommen;- ihr
Sinn sei schwankend, ihr Vorzugswert sei hiniallig geworden.
Die Idee sei keineswegs mit der Vorstellung gleichzusetzen. Aber
freilich dürfte sie auch mit der Erkenntniss nicht gleichgesetzt
werden. Diesen Fehler habe Plato begangen; er habe eben
Sein und Sollen nicht unterschieden. Auch ihm sei daher
das Schicksal der Metaphysik beschieden gewesen; auch ihm sei
es gegangen wie der Taube, die den Widerstand der Luft nicht
abgeschätzt, die im luftleeren Räume habe fliegen wollen. Daher
beschränkt Kant den Gebrauch der Idee, abgesehen von dem
regulativen Gebrauche in den biologischen Erfahrungs Wissen-
schaften, auf den praktischen Vernunftgebrauch, auf das Sollen
der Ethik.
Sicherlich wäre jedes Misstrauen gegen die Absicht Kants
in Bezug auf die Ausprägung dieses Wertes der Idee völlig un-
begründet; dagegen spricht allein schon der dithyrambische
Preis der Idee und ihre Auszeichnung für das grosse Gebiet der
Ethik, das er mit ihr und kraft ihrer aufrichten wollte. Aber
bei rückhaltlosester Anerkennung dieser mächtigen Wurfkraft
in der Idee müssen wir dennoch auf das Verhältnis achten, in
welchem sie zum Ding an sich steht. Diese F'rage tritt bei ihr
bedrohlicher und verlanglicher auf, als bei dem Naturgesetze und
seinem Prototyp, dem synthetischen Grundsatz. Denn bei dem
letztern lässt es sich leichter einsehen, dass das Ding an sich
ihm gegenüber nur ein (iebild des unwissenschaftlichen, des
dogmatischen Aberglaubens sei. Man hat das Naturgesetz in
Händen; man konstatiert in ihm die Naturkraft, und in dieser
das Sein und Wirken der Natur, und man fragt noch nach dem
Ding an sich. Man hat sich zu der kritischen Einsicht erhoben,
dass die Dinge der Natur die Objekte unserer Wissenschaft, also
mit dem alten platonischen Worte Erscheinungen seien; und
jetzt versteigt man sich zu der scheinbar kritischen Skepsis, dass
sie nur Erscheinungen seien. So wird das Brot in Stein verwandelt.
Wie war denn der Ausdruck bei Piaton entstanden? Bei
ihm bedeutete er das Ding, sofern es durch das wahrhafte Sein
Die Idee in der Ethik. 25
der Idee noch nicht beglauhigt wai\ In dem Umfang dieser Be-
glaubigungen war Plato in Fehlern befangen geblieben. Es
konnte scheinen, als ob nur und ausschliesslich die Idee des
Guten den wahren und vollen Wert des Seins zu gewährleisten
vermöchte; dass dagegen die anderen Ideen, die mathematischen^
den Schleier der Erscheinung noch über den Dingen ausbreiteten.
Jetzt aber ist ja dieses Misstrauen von der Erscheinung genommen;
jetzt hat die Erscheinung in dem Naturgesetze ihr wahrhaftes
Sein erlangt; jeder Anflug des Scheins ist von der Erscheiniuig
entfernt: wie kann man noch zweifeln, dass das Ding an sich
sich schlechterdings auflöst in den Wert einer methodologischen
Formel, in der ja auch allein ihr Wert bestimmt und beschrieben
wird, als einer regulativen und heuristischen Maxime?
Im theoretischen Vernunftgebrauche also darf es keine Frage
bleiben, dass es Kants klare Absicht war, diesem Terminus der
alten Metaphysik, mit dem diese den Hausfrieden der Vernunft
zu stören und aufs schwerste in ihrem Hesitzrechte sie zu ver-
letzen pflegte, den Garaus zu machen; wenngleich er allerdings
seine Auseinandersetzungen nicht mit dem ruhigen, klaren Satze
beschlossen hat, da.<is das Ding an sich nichts Anderes im
theoretischen Vernunftgebrauche zu bedeuten habe, als was die
regulative Idee zu leisten hat.
Anders aber steht es um die Flthik. Wenn hier das Ver-
hältnis der Idee zum Ding an sich nicht vollständig klargestellt
ist, so wird der Seinswert des Sollens dadurch in eine gewisse
Fraglichkeit gerückt. Es entsteht dann nämlich der Verdacht,
als ob die Idee doch nur eine Idee wäre, der gegenüber und
hinter der im Ding an sich der eigentliche und gediegene Vorrat
des Seins sich eröflnete, oder vielmehr verberge oder verschlösse.
Dieser Verdacht beschleicht dann auch die Formel, als ob sie in
diesem Sinne vom Sein das Sollen abtrennte; als ob das Sollen,
wenn zwar nicht einen Katechismus von Geboten, so doch ein
Phantasiegebiet frommer HotTnungen zu bezeichnen hätte.
Das ist die grosse Gefahr, welche allezeit für die menschliche
Sittlichkeit besteht; die grösste Gefahr, welche die wissenschaft-
liche Ethik zu bestehen hat. Denn diesen Gesichtspunkt, der als
solcher schon nicht unbedenklich ist, höhlt der Aberglaube und
die populäre Missgunst gegen die Vernunft, welche von der
26 Der Scinswerth des Soilens.
sogenannten Metaphysik beschönigt und unterstützt wird, zu der
grossen Lücke aus, welche das Stückwerk aller menschlichen
Wissenschaft offen lasse. Und diese Lücke gelte es auszufüllen;
auszufüllen mit Wahrheiten, die nicht wissenschaftliche Wahr-
heiten sein dürfen. Hier also muss jede' Spur einer Lücke, jeder
Schlupfwinkel sorgfältig beseitigt werden, damit die Mächte der
Finsternis die Redlichkeit und die Rechtlichkeit des menschlichen
Wahrheitseifers nicht anschwärzen und nicht ankränkeln können.
Daher muss die Idee restlos in dem Sollen aufgehen.
Es darf für sie kein Ding an sich im Hintergrunde stehen bleiben.
Die Idee ist das Sollen. Die Ideen bedeuten nichts Anderes als
Vorschriften des praktischen Vernunftgebrauchs, welche im
Sollen zusammengefasst werden. In diesem Sollen liegt der
Seinswert der Ethik. Dieses Sollen beschreibt und bestimmt
das Wollen, welches den Inhalt der Ethik bildet. Nichts Anderes
bedeutet das Sollen als das gesetzmässige W^ ollen; das Wollen
gemäss den Vorschriften, den Gesetzen der Ethik, welche die
Ethik zur Ethik machen; welche daher auch das Wollen selbst
bedingen und ermöglichen. Denn nur im Sollen besteht das
Wollen. Ohne Sollen gäbe es kein Wollen, sondern nur Be-
gehren. Aber durch das Sollen vollzieht und erobert das Wollen
ein wahrhaftes Sein.
Ein solches wahrhaftes Sein dem Inhalt des sitt-
lichen Wollens sicherzustellen, wird ein Hauptaugen-
merk der vorliegenden Ethik sein. Darauf wird sie ihr
dringlichstes Interesse richten, und dai'in wird sie die Selb-
ständigkeit und die Eigenart der Ethik zu begründen suchen.
Es darf kein Zweifel bleiben, dass die Ethik es nimmermehr mit
einer transscendenten Schäfervvelt zu tun habe, dieweil Realität
doch nur die der sinnlichen Natur sei. Es muss durchdringende
Klarheit und genaue Sicherheit über den Seinswert geschaffen
werden, welcher den Schöpfungen des Sittlichen beiwohnt
Daher muss die Ethik von der Psychologie, sofern die-
selbe die Grundlegung der Ethik beansprucht, durchaus abgetrennt
werden. Denn diese Leitung kommt unentrinnbar entweder
dem Naturalismus oder dem Supranatural ismus, nicht selten auch
und nicht zufälligerweise Beiden zugleich zu Gute. Beide aber
werden dem Eigenwert des sittlichen Seins nicht gerecht. Daher
Ethik des reinen Willens. 27
pflegen sie sich zu verbünden, um ihre beiderseitigen Mängel
zu ergänzen. Der naturalistische Mensch erscheint den An-
wandelungen des Sittlichen gegenüber als ein Untermensch. Da
verschmäht man es denn nicht, ihn supranaturalistisch zu einer
Art von Uebermensch hinaufzuschnellen.
Die Mjihologie mit ihrer Transscendenz und ihren Schatten-
bildern menschlicher Wesen ist nicht ausgestorben, in der Reli-
gion lebt sie fort. Und dass diese Art eines angeblich sittlichen
Seins vor der Abfertigung geschützt werde, dass sie mythologische
Scheinwesen darstellte, dafür soll eben die Assekuranz bei der
Metaphysik sorgen, welche dem Intellekt überhaupt den Wert
der Wahrheit abspricht, um ihn scheinbar unverfänglich dem
Willen zu überantworten. Schärfstes Misstrauen verdient eine
Ansicht vom W^illen, welche diesen auf Kosten des Intellekts
grosszieht. Der methodische Verdacht gegen die Psychologie,
als Grundlegung der Ethik, rechtfertigt sich bis zu populärer
Deutlichkeit an dieser wieder modern gewordenen Abirrung.
Unsere Ethik definiert sich als Ethik des reinen
Willens. Nicht schlechthin mit dem Willen hat es die Ethik
zu tun; einen solchen gibt es nicht. Nur die Ethik vermag zu
entscheiden, ob es einen Willen gibt oder nicht gibt. Und nur
von ihr erst kann die Psychologie es lernen, ob es einen Willen
geben darf und kann. Aber da die Ethik nur den reinen Willen
als Willen anerkennt, so wird auch sie darin von der Logik
abhängen. Denn nur die Logik bestimmt den ßegrilT der Rein-
heit. Die Reinheit ist der platonische Ausdruck, welcher den
methodologischen (irundcharakter der Erkenntniss bezeichnet.
W^enn anders nun die Ethik eine Lehre vom reinen Willen ist,
so muss sie, als Lehre und auf Reinheit bezogen, eine Art von
Erkenntniss sein. Die Bestimmung dieser Art hängt von der
Anwendung ab, welche dem Begrifl'e der Reinheit in Bezug auf
den Willen zukommt. So wird der Ethik die zweite Stelle
im System der Philosophie zugewiesen; die zweite nach
der ersten, welche der Logik gebührt; der Logik, nicht aber der
Psychologie.
Der Schein, dass die Ethik auf die Psychologie gegründet
werden müsse, könnte aber in dem Problem des reinen
Wollten s eine neue Bestärkung gewinnen. Und diesen Schein
28 Die Geschichte.
glauben wir betrachten zu müssen, bevor wir den Begriff der
Reinheit, wie die Logik ihn feststellt, von dorther entlehnen, um
ihn für das Problem des Willens zur Verwendung zu bringen.
Dem Reinen stellt man das Unreine entgegen, das Gemischte. ,
Die Empirie aller Art enthält die Mischungen der Elemente,
w^elche die Logik, und demzufolge die Ethik zu sondern hat, um
die Grundlage als das Reine von den Nebenbestimmungen zu
unterscheiden. Unausweichlich ist es daher, dass eine Erfahrung
gegeben sein und aufgesucht w^erden müsse, an welcher diese
Untersuchung auf Reinheit zu vollziehen ist. Diese Erfahrung
wird nun eben doch wieder die des menschlichen Seelenlebens
sein müssen, die aber unvermeidlich das Gebiet der Psychologie
bildet. Wir brauchen nun die vorigen Erwägungen nicht etwa
zu wiederholen; alier wir können sie auf einen andern Schau-
platz dieses Seelenlebens übertragen, von dem aus das psycho-
logische Vorurteil eine neue Gefahr für die Ethik bildet.
Diesen neuen Schauplatz bildet die Geschichte. Handelt
es sich wirklich in der (ieschichte um eine neue Form des
psychologischen Vorurteils? Wir haben das psychologische Vor-
urteil bereits in zwei mächtigen Grundformen erw^ogen: in der
Korrelation von Individuum, Besonderheit und Allheit; und zu-
letzt in dem Problem des Willens. Bei der Geschichte kommen
diese beiden Momente in Frage. In allen Kontroversen, w^elche
den Wert der Geschichte als Wissenschaft betrelTen, bildet das
erste, wie das zweite Moment, den eigentlichen Kern der Streit-
frage; denn beide Momente treten dabei zusammen.
Im letzten Grunde handelt es sich bei allen Fragen über
den Wert einer Wissenschaft umdenBegrifi des Gesetzes. Nur
w^o es Gesetze gibt, gibt es Kräfte; denn Kräfte sind Nichts als
objektivierte Gesetze. Worin liegt die bewegende Kraft der Ge-
schichte? Man sage nicht, in welchem Gesetze; denn in der Kraft
ist das Gesetz schon vorweggenommen. Die Frage bezieht sich
unmittelbar auf die seelische Kraft, auf das Bewnisstsein und
seine Art; wenn anders sowohl die Naturkraft, wie eine m>iho-
logische, die nur von Aussen stiesse, ausgeschlossen ist. Mithin
handelt es sich nur um den Menschen, und um welche Potenzen
und Richtungen in seinem Bewusstsein?
Das Ideal des Weisen. 29
Beachten wir zunächst den Streit der Gesichtspunkte in den
Begriffen des Individuums und der Besonderheit. Der Heroen-
kultus hat nicht nur die Religion beeinflusst und gefördert,
sondern auch die Politik. Nach einer neuern Ansicht soll die
Polis hauptsächlich auf ihm und durch ihn begründet sein. Der
Heros ist über die Mythologie hinaus im Individuum als die
treibende Kraft der Geschichte in Geltung geblieben. Alle Ge-
schichte ist nur der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich
bespiegeln. Die Geschichte ist nur die Spiegelung, der Reflex;
die Lichtquelle liegt einzig und allein im Individuum. Das ist
der Grundgedanke derStoa; der Gedanke, welcher selbst nur die
Konsequenz ihres Naturalismus ist. Wenn die Natur das letzte
Gesetz der Sittlichkeit enthalt,, so wird dabei die Korrektur mit-
gedacht: dass die Natur das Richtige darstelle, die richtige Natur
sei. Diese richtige Natur aber kann sich im Menschen nur in
seltenen Exemplaren darstellen. Daher entsteht der Begriff vom
Ideal des Weisen.
Der Weise stellt die Natur dar. ?> bleibt aber nicht ledig-
lich Ideal; er wird Natur; er ist Natur. Aber nur im auserwählten
Individum tritt diese Natur in die Wirklichkeit. Die sonstige
Wirklichkeit ist nicht nur von ihr verschieden, sondern sie steht
im Widerspruch zu ihr. Der Sinn und Zweck der Wirklichkeit
des Ideals ist es, Vorbild zu sein für die von ihr verschiedene,
eigentliche Wirklichkeit. W^arum wird nun aber in dieser Welt-
ansicht dennoch der W^eise als Natur bezeichnet?
Hierin liegt ein tiefer Widerspruch, wie er durch das ganze
System der Stoa hindurchgeht. Ideal und Natur; Beides soll
zugleich bestehen; Beides aber schränkt einander ein und verletzt
einander. Dieser Stoizismus ist in das Christentum über-
gegangen. Gott ist Individuum geworden. Wir sehen hier von
dem Problem des Monotheismus gänzlich ab, und achten nur
auf die ideale Bedeutung, welche Christus als Individuum für die
Menschheit hat. Seine Bedeutung als Gott denken wir nur und
ausschliesslich unter dem Gesichtspunkte seiner Bedeutung als
Mensch, also lediglich für die menschliche Konstituierung der
Sittlichkeit. Im Grunde ist dies auch aliein die tiefste W^urzel
der Ansicht für die Gottheit Christi; zwar nicht bei Paulus; viel-
leicht auch noch nicht bei Johannes; aber schon ganz unver-
30 Christus als Individuum.
kennbar bei den griechischen Vätern. Und so wirkt sie in der
Geschichte der Philosophie weiter. Christus ist das Ideal des
Menschengeschlechts bei dem frommen Malebranche und bei
Leibniz. Von dieser undogmatischen, idealsten Auffassung
aus müssen wir hier das Individuum des Gottmenschen in An-
spruch nehmen.
Man wende nicht ein, dass man den Begriff des Ideals ver-
nichte, wenn man das Individuum beseitigt; denn das eben ist
die Frage, die wir hier erwägen: ob das Ideal, ob die Sittlichkeit
in einem Individuum darstellbar sei. Es wäre verkehrt, zu sagen,
dass darum eben Christus Gott sei; denn nicht um Gott handelt
es sich hier, sondern um den Menschen; nicht um die Heiligkeit^
sondern um die Sittlichkeit.
Man sage auch nicht, dass die Geschichte das Ideal des
Individuums zur Voraussetzung habe für ihre Entwickelung und
ihren Fortschritt; denn auch das ist hier die Frage, deren Ent-
scheidung nicht vorweggenommen werden darf: ob das Individuum
die alleinige oder überhaupt die echte bewegende Kraft der Ge-
schichte sei. Und die Präokkupation wird in Christus nur um so ver-
wickelter und erschwerender, als er zugleich Gott und Mensch^
also nicht allein Mensch ist, dennoch aber bei idealster Auffassung
das Ideal des Menschen bedeuten soll.
Das ist der grosse Gedanke der freien sittlichen Kritik,
durch welche Lessin'g die Emanzipation von der historischen
Religion errungen hat: dass er die Nachahmung Christi als den
tiefen Schaden der christlichen Sittlichkeit erkannt hat. Und
für das wissenschaftliche Interesse der Ethik wenigstens wird
dieser Schaden dadurch nicht gebessert, dass er den Trost hinzu-
fügt: wohl ihnen, dass er ein so guter Mensch noch war. Ob
dieser Umstand für den Fortschritt der Geschichte von ent-
scheidendem Einfluss gewesen ist, auch das darf hier nicht vor-
weggenommen werden: es ist und bleibt vielmehr die Frage: ob
der Begriff der Geschichte durch den Begriff des Individuums
erfüllt wird.
Noch eine Schwierigkeit muss in dem Begriffe des Individuums
Christi hervorgehoben werden, durch welche die des stoischen
Ideals gesteigert wird. Das Ideal des Weisen soll doch nicht
nur in Einem Individuum wirklich werden; Christus aber ist.
Christus als einziges Individuum. 31
als der Gottmensch, der Einzige. In ihm bildet das Individuum
nicht nur einen Gegensatz, sondern einen Widerspruch zur Be-
sonderheit. Daher ist diese Ketzerei am meisten esoterisch ge-
blieben, welche das ewige Evangelium und den ewigen Christus,
die Analogie von Christus und Adam erahnte. Diese geschichts-
philosophische Ansicht hängt innerlichst mit der sozialistischen
Triebkraft der Geschichte zusammen; sie wurde in ihrer Bluts-
gemeinschaft mit der Politik erfasst und ausgerottet.
Darin aber besteht der schwere Anstoss, den Christus als
Individuum bildet: dass er als das einzige Individuum gedacht
werden muss. Schon für alle geistige Kultur besteht dieser An-
stoss; denn das Reich der Vernunft ist das Reich der Geister.
Die Mehrheit von Individuen wird für die Ausgiessung des
heiligen Geistes gefordert. So unerschöpflich das Individuum ist,
so unerschöpft)ar ist der Geist diurch ein einziges Individuum.
Und so unerschöpflich der Inhalt der Sittlichkeit ist, so wenig
kann ein Individuum zulänglich sein, ihn zu erfüllen.
Der stoisch-christliche Gedanke von der idealen Macht des
Individuums, wie er in der Stoa wenigstens im Naturalismus
wurzelte, hat die gesamte Ansicht von den eigensten Quellen der
Geschichte beeinflusst und beherrscht. Und dieser Einfluss hat
sich oft genug, wie nicht minder auch in unserer Zeit, in dem
Materialismus der Macht-Anbetung biossgestellt. Denn in der
Geschichte werden nicht die Armen und die Mühseligen zu Heroen,
sondern die Mächtigen. Die geschichtliche Ansicht wird daher
zur leitenden in der Politik.
Der sittliche Wert einer geschichtlichen Idee tritt alsdann
zurück hinter die Frage, auf welches Individuum sie zu taufen
sei. Hinter dem Individuum steht die Partei. So tritt das
Individuum in Verbindung mit der Besonderheit. Handelt es
sich denn aber um den Gegensatz des Einzelnen und des Be-
sondern bei der Frage um die Grundkraft der Geschichte? Ist
nicht vielmehr der Einzelne selbst nur ein Glied in der Kette der
Besonderheit? Liegt es nicht vielmehr schon im Begriffe des
Individuums, dass er in eine Mehrheit von solchen nicht zwar
sich spalte, sondern vielmehr in ihnen sich entfalte? Den wahren
Gegensatz zum Individuum bildet für den Begriff der Geschichte
nicht die Besonderheit, sondern die Allheit.
82 Volk und Staat.
Man kann daher auch nicht sagen, dass in letzter Instanz
das Volk den Gegensatz bilde zum Individuum. Denn das Volk
bildet allenfalls für die Anthropologie auf physischer Grundlage
einen einheitlichen Begriff, mithin eine Allheit. Im politischen
Sinne der Geschichte dagegen tritt erst der Staat in die sittliche
Mission ein, welche in einer verhängnisvollen Zweideutigkeit ge-
meinhin dem Volke zuerteilt wird. Das Volk zerfällt in Stände,
für welche der Geburtsadel das noch immer nicht abschreckende
Beispiel bildet. In seinen sozialen Ständen bildet das Volk ein
Aggregat von Besonderheiten, und 'bleibt somit selbst eine Be-
sonderheit. Der Begriff des Staates erst stellt den Begriil der
Allheit dagegen auf, als einer bezwingenden Einheit, welcher alle
jene Partikularitäten unterworfen werden müssen.
Wie sehr der Begrifl des Volkes an sich, ohne dasVerhältniss
zum Staatsbegrifle, eine Besonderheit bildet, das macht der Kampf
der Völker-Individualitäten gegen einander unverkennbar.
Freilich ist dieser politische Inhalt der Weltgeschichte nicht
etwa lediglich aus dem Gesichtspunkte des Gegensatzes dieser
Besonderheiten zum AUheitsbegrifle der Menschheit zu betrachten.
Das wäre so abgeschmackt, als es unrichtig ist. Die Falschheit
des Gedankens, dass die Völker-Individualitäten an und für sich
den letzten Inhalt und Gegenstand der Geschichte bilden, beruht
keineswegs auf dem etwaigen Vorurteil einer idealen Einheit,
welche an und für sich der Volksbegriff bildet, sondern sie be-
steht allein in der mangelhaften Ausführung der Innern, sach-
lichen Korrelation des Volksbegriffs zum Staatsbegriffe.
Der Kampf der Rassen und der Stämme ist unsittlich; ist
widersittlich; ist das sittliche Hemmnis der politischen (ieschichte.
In ihm betätigt und erschöpft sich das Volk als Besonderheit.
Die Einheit des Volks dagegen ist ein Grundgedanke der
politischen Sittlichkeit, weil sie vielmehr die Einheit des
Staats bedeutet. Der Staat ist der ethische Faktor im
Blutbegriffe des Volkes.
So kommen wir auf den tiefen Gegensatz zum Indi-
viduum im Begriffe der Geschichte. Nicht um den Unter-
schied zwischen Einzahl und Mehrzahl handelt es sich; nicht
um den Unterschied des Ranges und des Vorranges einzelner
Protagonisten auf der Weltbühne: nicht um den Unterschied
Die Personen und die Tatsachen. 38
auch zwischen den Sprechern und dem Chor, welchen die Menge
bildet, die nach dem bisherigen Gange der Geschichte von der
selbständigen und selbsttätigen Mitarbeit an der Kultur ausge-
schlossen geblieben ist. Alle diese Unterschiede wären doch nur
relative und transitorische unter dem Gesichtspunkte der Be-
sonderheit. Nur scheinbar wird das Individuum daraus heraus-
gehoben, während es seine wahrhafte Bedeutung aus einer ganz
andern logischen Rücksicht empfangt.
Der echte Gegensatz besteht zwischen der Be-
sonderheit und der Allheit. Der Besonderheit gehört das
Individuum nach der Bedeutung, in der es gemeinhin verstanden
und gefordert wird, als ein Glied an. Die Allheit dagegen kann
sich auch auf das Individuum, wie auf die Besonderheit be-
ziehen ; aber damit werden Beide etwas Anderes und etwas Neues.
Der Zusammenschluss, den die Allheit vollzieht, lässt die Einzelnen
nicht mehr in dem losen Gefüge der Besonderheit schweben;
die Allheit verfestigt sie und sichert und begründet sie in einer
schöpferischen Einheit. Sie werden verwandelt und wieder ge-
boren; als Individuen selbst neu geboren.
Worin liegt nun aber diese Einheitskrafl der Allheit, wie
wir sie in unserer modernen Bildung den Ständen und Rassen
gegenüber im Staate anzuerkennen haben? In den einzelnen
Individuen kann sie nicht liegen; denn diese gehören ja samt
imd sonders in die Vorstufe der Partikularität. Man sieht, wir
kommen so auf einen ganz andern Gegensatz zu dem Individuum;
auf den Gegensatz zwischen der Person und den Personen
überhaupt einerseits und Tatsachen andererseits. Tat-
sachen, Zustände, Einrichtungen, sie bilden die Massenerschei-
nungen, w^elche den Individuen gegenüberstehen. Nicht der
Massenschritt der Einzelnen ist es, der die Massenmacht bedeutet;
sondern die abstrakten Tatsachen sind es, in denen alle Realität der
Dinge dieser Welt besteht. Welcher Art sind nun diese Tatsachen?
Die Streitfragen über den BegrifT der Geschichte setzen hier
von Neuem ein. Und an diesem Punkte werden die alten Fragen
über das Verhältnis zwischen dem Willen und dem Intellekt
wieder lebendig und zu verschärfter Bedeutung pointiert. Es
handelt sich um den Gegensatz zwischen den materiellen
Machtverhältnissen und den Ideen.
3
84 Die materialistische Geschichtsansicht.
In allen Zweigen der geschichtlichen Forschung ist es
dieser Gegensatz, welcher den Geist und die Methode derselben
bestimmt. Nicht allein in der Geschichte der Wirtschaft, des
Staates und des Rechtes, sondern nicht minder auch in der Ge-
schichte der im engern Sinne sogenannten Geisteswissenschaften,
ja bis in die Geschichte der Philosophie hinein dreht sich bei-
nahe Alles um diesen Unterschied und Gegensatz. Es kommt
daher Alles darauf an, diesen Gegensatz, der in einem Netz von
Zweideutigkeiten verstrickt ist, in voller Schärfe klarzustellen,
wenn die Grundlegung der Ethik gelingen soll. Die Disposition
des Problems, welche diese Einleitung zu entwerfen hat, kann
diese Klarstellung nicht vollenden; sie muss sie aber vorbereiten
und einleiten.
Wir haben zuvörderst darauf zu achten, dass dieser Gegen-
satz falsch oder wenigstens ungenügend formuliert sein muss,
weil seine beiden Glieder nicht genau bestimmt sind, und daher
keineswegs einen Widerspruch bilden müssen. Welche Be-
deutung haben die Ideen, die den realen Machtverhält-
nissen entgegengestellt werden? Sind die Ideen gleich den
Begriffen; sind sie allgemeine theoretische Ideen, wie könnten
sie dann zu den realen Dingen, welche die Geschichte bewegen,
im Gegensatz stehen? Müssten sie doch vielmehr die Begriffe
dieser Dinge sein. Und wie könnten andererseits die realen
Dinge und Verhältnisse von den- Begriffen abgetrennt bestehen,
wenn doch diese Begriffe die Begriffe von ihnen selbst sind?
Diese blosse theoretische Bedeutung von Begriffen kann demnach
die Idee in diesem Gegensatze nicht haben.
So kommt man auf den Unterschied zwischen den
theoretischen Begriffen und den sittlichen Ideen. Um
diesen Gegensatz handelt es sich bei dem Gegensatze zwischen
den Machtverhältnissen und den Ideen. Hier wird der Streit um
die sogenannte materialistische Geschichtsansicht ver-
wickelt und verworren. Denn bei dieser Unterscheidung wirkt
die ethische Gesinnung vorwiegend mit; und es wäre sehr ver-
kehrt, die ethische Betrachtung dabei ausschalten und gegen die
rein theoretische zurückdrängen zu wollen. Dieser Unterschied
darf vielmehr garnicht bestehen bleiben, da es sich im letzten
Grunde ja nur um ethische Ideen handelt. Es könnte also sehr
Die sittlichen Ideen und die Kulturmächte. 85
wohl der Fall sein, dass man im Eifer und Unwillen über einen
heuchlerischen Gebrauch der sittlichen Ideen auf unsittliche
Machtverhältnisse hinwiese, um in ihnen die treibende Kraft der
bisherigen Geschichte zu entlarven. Dann wäre es also nichts
weniger als Materiaiismus, sondern vielmehr ein verhaltener
Idealismus, der diese Geschichtsansicht leitet.
Andererseits aber ist es freilich unrichtig und muss zu
schiefen Auffassungen führen, wenn man auf diese Schlagworte
pocht, und damit verdecken will, dass es nicht nur theoretische
Begriffe sind, welche in den realen Machtverhältnissen sich ver-
körpern — darüber würde ja heutzutage kein Streit mehr zu
fähren sein — , sondern dass es in der Tat die ethischen Ideen
sind, welche, wie immer verschleiert und mangelhaft entwickelt,
nichtsdestoweniger in jenen realen Verhältnissen und Einrich-
tungen sich selbst zur Erscheinung bringen. Es ist eben doch
nicht richtig, dass der Zwang der Natur und insbesondere der
tierischen Natur im Menschen jene Einrichtungen der Kultur
hervorgebracht hätte, die man nur heuchlerischer Weise die
sittliche Kultur nennen dürfte, die vielmehr lediglich die wirt-
schaftliche heissen müsste. Es ist nicht richtig, die Natur des
Menschen als solche lediglich unter dem Gesichtspunkte des
Raubtiers zu fassen, um allenfalls für das Geistige und das Sitt-
liche anderweit einen Raum zu schraifiren.. Woher aber diesen
Raum beziehen, und wohin ihn verlegen?
Bei dieser affektvollen Charakteristik kommt das Geistige
und das Sittliche in die schwer entrinnbare Gefahi', in ein Luft-
gebilde zu zerrinnen. W^ird es doch eben aus lauter Hohn und
Ingrimm in den Hintergrund geschoben. Es ist, wie man deut-
lich hier erkennt, wiederum der Fehler in der Bestimmung des
Verhältnisses von Willen und Intellekt, der hier gemacht
wird. Wenn der Wille lediglich der der Selbstsucht und der
Habsucht wäre, der die Einrichtungen der Kultur hervorbrächte,
so müsste man eine andere Art von Willen erdenken und
erschaffen, von dem die sittliche Kultur ausgehen könnte. Denn
es wäre grundfalsch, diese etwa dem Intellekt zu übervs^eisen^
weil alsdann der Unterschied zwischen Sein und Sollen zu nichte
würde; und weil alsdann der fundamentale Unterschied, auf dem
der Sinn für Wahrheit beruht, der Unterschied zwischen der
3*
86 Die Logik Voraussetzung, nicht selbst Ethik.
mathematischen Naturwissenschall und Allem, was sonst im
Geistigen und Sittlichen Wissenschaft werden kann, verwischt
imd vereitelt würde.
Wir dürfen also, ohne Missverständnis, Verdächtigung und
Verunglimpfung der sozialistischen Geschichtsauffassung
begehen zu müssen, dennoch den Unterschied, den sie klaffend
macht zi^ischen den realen Machtverhältnissen und den sitt-
lichen Ideen methodisch aufheben; wenngleich damit keineswegs
gesagt werden darf, dass der sachliche Unterschied aufhörte,
weil die Ideen in den Dingen zur Deckung kämen und aufgingen.
Dies würde dem Begriffe des SoUens widersprechen, den der
Devise gemäss die sittlichen Ideen bedeuten. Aber es ist falscher
Realismus und Nominalismus, einerseits die Dinge hinzustellen
als Gebilde der wirtschaftlichen Triebe, andererseits aber die sitt-
lichen Aui'gaben als Schreckgespenster und gleichsam als post-
historische Mächte aus dem bisherigen Dunkel der Geschichte
bisweilen wetterleuchten zu lassen.
Die Ethik hat sich vielmehr mit der Geschichte in das
logische Einvernehmen zu versetzen : dass sie ihre eigenen Ideen,
wie unreif und verkrüppelt immer, dennoch wiederzuerkennen
hat in den Gebilden der wirtschaftlichen Welt. Denn das ist
die Alternative, der man nicht ausweichen kann: Entweder ist
alle Kultur in ihren Institutionen das Werk des Teufels, und der
Wille selbst damit nur die Kraft des Bösen; dann föUt aber auch
die Möglichkeit hinweg, dass der Intellekt eine so heterogene
seelische Macht sein könnte, dass er, und nur er die Kraft zum
Guten vollzöge. Oder aber der Intellekt ist nicht auf das Böse
gerichtet; und der ihm verwandte Wille geht auf das Gute;
und seine Schöpfungen sind daher, teilweise und mangelhaft zwai',
dennoch aber Darstellungen der sittlichen Ideen, und nicht
allein der theoretischen Ideen.
Denn das ist der Grundgedanke, der uns nicht verlassen
darf: die Ethik hat die Logik zur Voraussetzung; aber die
Logik ist an sich nicht Ethik.
So hat die Ethik auch die Naturwissenschaft aller Art zur
Voraussetzung; aber sie geht in dieser nicht auf. Mithin sind
und bleiben zwar die sittlichen Ideen von den theoretischen Be-
griffen zu unterscheiden; aber dieser Unterschied darf die Ver-
Die Weltgeschichte des Geistes. 37
wandischaft unter ihnen nicht aufheben. Dies wäre aber der
Fall, wenn der Gegensatz zwischen den realen Dingen, in denen
die theoretischen Begriffe sich realisieren, und den sittlichen Ideen
unausgleichbar wäre.
Das ist der Grundfehler in jeder materialistischen Parole:
dass mit der Aufhebung alles Verhältnisses und aller Korrelation
zwischen dem Sittlichen und dem Geistigen der Grund des reinen,
erzeugenden Bewusstseins nivelliert und vernichtetwird. In der
Tat sind die sittlichen Ideen nicht ausschliesslich sittliche, sondern
auch theoretische; trotz allem Unterschiede, der zwischen beiden
Arten gemacht werden muss. Denn Beide sind Arten des reinen
Bewusstseins; die einen desDenkens, die anderen des Willens. Wenn
dagegen die sittlichen Ideen nicht als Ursachen der Kultur und
Geschichte gelten sollen, dann wird das Bewusstsein und der
Geist überhaupt verleugnet. Damit erst kommt der Materia-
lismus unausweichbar in diese Denkrichtung. Dann sagt man
unkritischer Weise, die Natur selbst habe aus ihrem Boden und
ihrem Klima heraus mitsamt den Menschen diese Gebilde zur
Entwickelung gebracht, welche das Spielzeug der Menschenwelt
sind. Damit erst enthüllt sich diese materialistische und natura-
listische Geschichtsansicht als die Aufhebung der Geschichte.
Denn Geschichte, als Geschichte der Menschen und ihrer Werke
und Taten, ist Geschichte des Geistes und der Ideen; oder aber:
es gäbe keine Weltgeschichte, sondern nur Naturgeschichte.
Aus allen diesen Betrachtungen ergibt es sich, dass die Ge-
schichte, ihrem Begriffe nach, die Voraussetzung der Ethik nicht
bilden kann; dass sie vielmehr für ihre Grundbegriffe und Pro-
bleme die Ethik voraussetzt; dass sie die fortschreitende Bestim-
mung des Inhalts dieser Begrifle nicht ohne die Leitung der Ethik
durchführen kann. Die Verbesserung des Willensbegriffs hängt,
wie wir sahen, von dem Begriffe der sittlichen Ideen ab, nach
deren Verhältnis zu den theoretischen Begriffen.
Und von hier aus erst lallt das richtige Licht auf den Begriff
des Individuums. Nicht der Einzelne einer Besonderheit ist das
Individuum; und dies bliebe er auch, wenn er als Einziger ge-
dacht wird. Denn der Uebermensch muss doch alsbald in die
Schranken seines Milieus zurückgeführt werden. Dafür sorgt
schon trotz aller hero-worship der Kampf der Meinungen und
88 Das Individuum der Idee.
der Ideen. Und gegen eine solche Ausnahmestellung des Kraft-
menschen bildet eben die Milieu-Ansicht die milde Reaktion.
Wir sehen jetzt nun aber, dass der Gegensatz zwischen dem
Individuum und den Einrichtungen, den materiellen, wie den
idealen, ein ganz schiefer und falscher ist. Die Individuen gehen
freilich nicht auf in den Einrichtungen und den Ideen; denn die
Ideen ragen, und ebenso selbst die Einrichtungen, an Universalität
über die grösste Individualität hinaus. Dennoch aber müssen
die Ideen, wie sie sich in Einrichtungen verwirklichen müssen,
so auch in den Individuen zur Darstellung und zur Erzeugung
kommen. Und so stellt es sich endlich heraus, dass das Indi-
viduum nichts Anderes ist als das Individuum der Idee.
Auch die Sociologie kann der Ethik nicht als Voraus-
setzung gesetzt werden. Was den Begriff der Gesellschaft betrifft,
so werden wir darüber weiterhin genauer zu handeln haben.
Hier soll nur auf den methodischen Gesichtspunkt geachtet
werden, von welchem die Gesellschafts-Wissenschaft geleitet wird.
Der Sinn des Ausdrucks Gesellschaft ist im Gegensatze zu den
festen und scheinbai* fertigen Gebilden der Geschichte, wie sie
sich in dem des Staates zusammenfassen, entstanden, und wird in
diesem Gegensatze fortgedacht. Der dynamische Gesichtspunkt
der Bewegimg tritt an die Stelle der Statik, welche Staat und
Recht insbesondere nach Art einer abgeschlossenen Natur er-
scheinen lässt. Aber dieser förderliche Gesichtspunkt der Be-
wegung führt hier zu der Unklarheit, welche unter anderen Titeln
soeben bei der Geschichte betrachtet wurde. Diese betrifft den
Begriff der Entwickelung.
Da der Gesichtspunkt der Bewegung auf Menschen zur An-
wendung kommt, so muss die .Bewegung zur Entwickelung
spezialisiert werden. Denn was die Bewegung für den materiellen
Punkt bedeutet, das soll die Entwickelung für das biologische
Individuum leisten. Und als ein biologisches wird zuvörderst
auch das soziale Individuum gedacht. Wie die organische Ent-
wickelungsgeschichte aus der Zelle den Organismus entwickelt,
so sucht die Sociologie sich zur Entwickelungsgeschichte zu
machen für die daher von ihr gern so benannten sozialen
Organismen. Aus einfachen niedrigsten Elementen strebt sie
Die Sociologie und die Entwickelung. 39
die kompakten, mächtigen, vielgliedrigen Einrichtungen der
Kultur zu entwickeln. Wir erörtern jetzt nicht etwa abschliessend
den methodischen Wert der Sociologie; wir sind weit davon ent-
fernt, ihren Nutzen zu bestreiten. Nur ihr Verhältnis zur Ethik
steht hier in Frage, und wir erwägen, dass sie der Ethik nicht
als Voraussetzung dienen darf. Dem widerspricht gerade ihr
methodischer Grundbegriff der Entwickelung.
Die biologische Entwickelungsgeschichtc setzt die genaue
Kenntnis des fertigen Organismus voraus. Es ist nicht ein all-
gemeines, schwankendes Bild des normalen Organismus, welches
der Embryologie vorschwebt, sondern der ganze Organismus und
jedes Organ desselben in seiner physiologischen Normalität bildet
den genauen Vorwurf. Besteht ein Analogon dieses exakten
Organismus nun aber in dem sozialen Organismus und
seinen sozialen Organen? Ist die Anwendung nicht viel-
mehr eine Metapher, die ein hinkendes Gleichnis bleiben muss?
Schon das Verhältnis der Organe zu dem Organismus fällt
dabei aus. Einzelne soziale Einrichtungen mag man als soziale
Organe betrachten können, aber es ist schon bedenklich, sie als
soziale Organismen zu bezeichnen. Denn der Organismus ist
die Einheit der Organe. Wo gäbe es diese aber in den
einzelnen sozialen Einrichtungen? Und wo gibt es eine Einheit
für sie alle, so dass man den Organismus auf diese Einheit des
Ganzen übertragen könnte? Bildet der Staat etwa diese Einheit?
Es wäre freilich seine Aufgabe; erfüllt er sie aber? Und tritt
nicht vielmehr, gerade weil er sie nicht erfüllt, der Gesichts-
punkt der Gesellschaft berichtigend ein,' damit nicht etwa der
Skeptizismus und Nihilismus des Anarchismus Platz greifen
dürfe?
Es zeigt sich sonach ein Widerspruch in der Aufgabe
der Sociologie, der durch die richtige Bestimmung ihres Ver-
hältnisses zur Ethik aufgehoben werden kann; ohne diese aber
ihr Problem unsicher und ungenau macht. Sie wird von dem
Gedanken getrieben, dass die Gebilde der Kultur nicht gleichsam
abgeschlossene Substanzen von absolutem Werte seien; und sie
benutzt den Gesichtspunkt der Entwickelung, um die rohen
Keime aufzudecken, aus denen sie erwachsen. Im Allgemeinen
zwar mag dies angängig scheinen; die wildesten Formen und
40 Das Nonnalgebild.
Regeln der Begattung, wenn sie nur Regeln der Paarung sind,
mögen als Elementargebilde der Monogamie anzusehen sein, und
ebenso mag es mit den elementarsten Festsetzungen des Erb-
rechts und des Eigentums anzunehmen sein. Aber über all-
gemeine und daher nicht genau zutreffende Analogieen wird man
dabei nicht hinauskommen. Immer wird man die Ideen und
die idealen Gefühle, welche die höheren Stufen von den
niedrigen zwar fein, aber umsomehr genau unterscheiden^ mit
in Betracht zu ziehen haben, so dass das elementare Gebild
dadurch unausweichlich kompliziert wird.
Man sieht, der Widerspruch steigert sich zu einem doppelten.
Man geht davon aus, das fertige Gebild als ein geschlossenes ab-
zulehnen. Dem widerspricht aber der wissenschaftliche Begrift
der EntWickelung, welche vielmehr die normale Ausgestaltung
des Organismus zur methodischen Voraussetzung hat. Eine
solche Normalität wird hier aber gerade bezweifelt und bestritten,
und zwar im doppelten Sinne der Norm: sowohl als
funktionale Richtigkeit, wie als Musterbild und Vorbild. Es soll
vielmehr gezeigt werden, wie die scheinbar vollendeten sozialen
Gebilde vmserer hochmütigen Kultur noch in den Kinderschuhen
stecken. Wenn das nun aber der wohltätige Sinn dieser
Forschungsrichtung ist, so muss sie einsehen, dass ihr die Norm
fehlt, welche von der wissenschaftlichen Entwickelungs-Methodik
genau und klar vorausgesetzt wird.
Da die Sociologie nun aber trotz dieser methodischen
Grundgebrechen, nach allgemeinen geschichtlichen Gesichts-
punkten arbeitend, lichtvolle Ergebnisse und aufklärende Ein-
sichten fördert, so stellt sich ein doppelter Widerspruch ein:
indem der zweite den ersten zu berichtigen sucht. Indem näm-
lich die Gedanken und Gefühle, welche, wie z. B. bei der Ehe
und beim Eigentum, die höheren späteren Gestaltungen derselben
beeinflussen, bei den niedrigen Formen schon unumgänglicher
Weise mitberücksichtigt werden, so %vird dadurch eine Art von
Normalgebild dennoch vorausgesetzt und zum Vorwurf der
Entwickelung gemacht.
In dieser Vorwegnahme korrigiert sich aber nicht nur die
Methodik der Sociologie, als die der Entwickelung; sondern die
ganze Frontrichtung derselben verändert sich dadurch. S»e
Die dialektische Bewegang. 41
kann nicht mehr gegen die Individuen gehen, um diese in
die Massen auf- und untergehen zu lassen; denn sie braucht und
gebraucht diese Individuen in den sittlichen Gedanken und Ge-
fühlen. Oder könnte es Gedanken und Gefühle geben, ohne
dass es Individuen gäbe? Sie kann daher auch nicht gegen die
Ideen gehen, um diese etwa durch die Einrichtungen zu er-
setzen; denn in diesen letzteren selbst muss sie die Ideen schon
vorwegnehmen. Sie kann keinen Gegensatz, geschweige Wider-
spruch zwischen Beiden aufrecht erhalten. Es ist nicht richtig,
dass die Ideen verdampfte Einrichtungen sind; vielmehr sind
die Einrichtungen geronnene Ideen.
So stellt es sich denn heraus, dass der Widerspruch, an
dem die Sociologie krankt, durch die Berichtigung ihres Verhält-
nisses zur Ethik gehoben werden kann. Sie ist nicht die
Voraussetzung der Ethik; sondern die Ethik dient still-
schweigend als Voraussetzung der Sociologie und der
sozialen Entwicklung. Diese Voraussetzung bildet jedoch
die Ethik nicht als ein Glied des Systems der Philosophie,
sondern als eine fingierte Verbindung sittlicher Gedanken. Es
kommt nun aber darauf an, an Stelle dieser wohlgemeinten
Fiktion die F2thik innerhalb ihrer systematischen Verfassung
treten zu lassen; unter Voraussetzung der Logik und dennoch
als Ethik des reinen Willens, von eigenem Inhalt und in eigener
Methodik: nach, aber neben; neben, aber nach der Logik der
reinen Erkenntniss. Diese bleibt die Voraussetzung. Aber sie
weist auf die Ethik hinaus. Und die Geschichte aller Art hat
zwar in erster Linie die Logik zur Voraussetzung; aber von
dieser allgemeinen, formalen Grundlage abgesehen, liefert nicht
die Psychologie ihr den Inhalt ihrer Begriffe, sondern allein und
grundlegend die Ethik.
Die Auseinandersetzung mit dem Begriffe der Entwickelung
fordert nun aber noch eine Ergänzung nach einer centralen
philosophischen Seite hin. Wir kommen dabei wieder auf die
Metaphysik zurück, aber wie sie in ihren klassischen Formen
durch die Weltgeschichte des philosophischen Denkens einher-
geht. Der Gesichtspunkt der Entwickelung beherrscht den Ge-
dankengang Hegels. Die dialektische Bewegung ist nichts
42 Die angebliche Identität von Logik und Ethik.
Anderes als die Entwickelung; und das fertige Gebiid wird dabei
nur zu deutlich überall vorausgesetzt. Schon Schelling wurde
von der Entwickelung bestimmt; seine Potenzen sind nichts
Anderes als Stufen der Entwickelung. Dieser durchgreifende
Gesichtspunkt hat vielleicht nicht wenig dazu beigetragen, die
Philosophie der Romantik nüchterner und modern realistischer
erscheinen zu lassen, als sie in ihrer abstrakten Symbolik sonst
erschienen wäre. Hegel insbesondere hat ja die geschichtliche
Forschung nach allen Seiten so innerlich angeregt und befruchtet,
dass man diese seine dialektische Bewegung als das Vorbild und
die Vorzeichnung der geschichtlichen Forschung betrachten zu
dürfen glauben konnte. Es kommt hinzu, dass die dialektische
Bewegung den Gesichtspunkt der Entwickelung für das gesamte
System der Philosophie selbst lebendig gemacht hat. Es fragt
sich nur, ob .das System der Philosophie dabei in allen seinen
Gliedern lebendig geworden, oder etwa in einzelnen getötet worden
ist. Wie steht es um die Ethik?
Wir waren schon darauf aufmerksam gewesen, dass Hegel
keine besondere Ethik geschrieben hat, so wenig als Schelling.
Hat doch auch Spinoza nur eine Ethik geschrieben, in welcher
die Logik oder Metaphysik enthalten ist. So sollte auch
Hegels Logik die Ethik enthalten. Die Idee, wie der Begriff
in seiner höchsten Vollendung benannt wird, entwickelt sich als
das Absolute. Und dieses Absolute bedeutet die Sittlichkeit in
ihren höchsten Formen. Man weiss, wie die Schulen an diesem
Punkte in die äussersten Extreme auseinandergingen. Die Re-
ligion ist eine solche Form des Absoluten; aber die Hegelianer
nahmen die entgegengesetztesten und feindlichsten Positionen in
Bezug auf das Problem der Religion ein. Der Staat voral) ist
eine solche Form des Absoluten; aber die Hegelianer spalten
sich in politische Reaktionäre und Revolutionäre. Der Gesichts-
punkt der Entwickelung hat sich dabei nicht als ein unzwei-
deutiger LeitbegrifT erwiesen.
Man könnte nun denken, die Entwickelung sei zu unmittel-
bar auf die konkreten Einrichtungen und Verhältnisse der
Geschichte übertragen worden, auf die Religion, auf das
Recht und auf die Geschichte überhaupt, wie nicht minder
andererseits auf die Kunst. Gewiss liegt in dieser an sich
Der Fehler des Pantheismus. 4H
imponierenden unvermittelten Anwendung der dialektischen
Methodik eine unverkennbare Fehlerquelle; aber der eigentliche
Grund des Fehlers ist dahiit doch nicht bezeichnet. Er liegt
vielmehr in dem pantheistischen Centrum des Systems: in der
Centrierung des Systems der Philosophie und alles
Seins in der Natur.
Dabei darf und kann es kein Sollen geben, welches vom
Sein verschieden wäre. Die Idee ist nicht gleich dem Sollen,
während der Begriff gleich dem Sein ist; sondern die Idee ist
nur die Entwickelung des Begriffs; also bleibt sie der Mittel-
punkt des Seins, welches zugleich das Sollen einschliesst. So
wird, w^as sonst Ethik ist, zu einem Entwickelungsprodukte der
Logik. Dens sive Natura. Dabei bleibt es. Und das ist und
bleibt der Grundfehler alles Pantheismus, also auch des-
jenigen der Identitats-Philosophie. Es heisst nicht: Natura,
necnon Deus, wenn man einmal diesen Ausdruck für das Problem
des Sittlichen, des Gegensatzes wegen, einsetzen darf.
Darin besteht der Naturalismus der dialektischen Ent-
wickelung. Die Idee tritt wie eine Naturmacht auf; ist sie
doch eine Kategorie des Seins. Und als Naturmacht erscheint
sie auch dem geschichtlichen Interesse, welches ja an sich zu-
gleich das spekulative ist, weil die Entwickelung, die dialektische
Bewegung beide Interessen nicht etwa nur vereinigt, sondern
schlechterdings in eins setzt. Daher ist es die alte dogmatische
Metaphysik, nur im modernen geschichtlichen Kleide, welche
hier an die Stelle der Ethik tritt.
Das Schicksal des Menschen und der Welt wird entrollt;
es wird aber nicht gefragt, ob etwa dem Schicksal gegenüber
eine eigene Rolle dem Menschen zufallt; und zwar eine doppelte,
nämlich nicht nur lediglich die eines Handelnden, wobei wieder
fraglich werden könnte, ob er nicht geschoben wird; sondern
die des Wissenden. Aber dieser Wissende muss über sein Schicksal
hinwegfragen. Nicht um dieses ist er in erster Linie, noch
im letzten Grunde interessiert, sondern um die Art, um den Sinn
und das Recht dieser seiner Rolle als eines Handelnden.
So führt uns der Gegensatz zur Metaphysik auf den
Gegensatz zur Mythologie und zur mythologischen
44 Das Schicksal des Individuums.
Religion. Die Mythologie wird von der Angst des Individuums
getrieben, nicht sowohl um seine Sünde, sondern um sein Schick-
sal, bestenfalls infolge seiner Sünde. Immer aber bleibt es das
Dasein des Individuums, ob es ein Ende habe; und was an
diesem Ende dennoch aus ihm wird, sodass das Ende doch
eigentlich kein Ende sei. Nicht viel besser wird das Interesse
auf der goldenen Kehrseite, wenn das selige Ende endlos ist und
das Individuum sich ewig seines erhöhten Daseins erfreuen kann.
An dieser Mythologie des Individuums hat die Kunst erheblich
mitgewirkt, und die mythologische Urkraft der Religion ist da-
durch ebenso genährt worden, wie zugleich der Mutwille der
Metaphysik durch jene Transscendenz bestärkt wurde.
Das Schicksal wurde, wie in der dramatischen Poesie, nicht
nur die dunkle Macht, der man nicht entfliehen könne; sondern
alle Fragen über das Wesen des Menschen wurden auf diese
auswärtige Quelle zurückgeführt. Das ist das Unsittliche in
jenem Gedanken des Schicksals. Und das Drama selbst
widersetzt sich dem Mythos, indem es den Helden zwar zum
Leidenden macht, nicht minder aber auch zum Handelnden.
Er handelt in seinem Leiden selbst, in welchem er dem Schick-
sal unterworfen ist, doch zugleich, wie aus eigenem Wollen,
gegen dieses Schicksal.
Auch in der Religion wird freilich die Tatkraft des
Menschen aufgerufen. Im Christentum soll die Sünde des
Menschen nicht lediglich die Erbsünde, die Sünde Adams sein;
sondern die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen bleibt für die
Handlungen des Menschen vorausgesetzt. Und wenn freilich für
die gute Richtung der Glaube an Christus zur Bedingung ge-
macht wird, so lässt sich dieser ja, wie wir schon sahen, als der
Glaube an den idealen Menschen deuten. Aber das bleibt auch
hier der Zusammenhang mit dem Mjihos, dass es sich im letzten
Grunde immer doch um das Schicksal des Individuums handelt,
um dessen ewiges Heil oder seine ewige Verdammnis.
Es ist also nicht allein der Begriff des Individuums, der
hier das Hemmnis der Ethik bildet, wie er überall in seiner Ein-
seitigkeit und innerlichen Unreife die Selbständigkeit der Ethik
verhindert; sondern es ist eben das Interesse am Schicksal,
welches der Ethik durchaus widerstreitet, welches dem Mvlhos
Das Interesse der praktischen Vernunft. 45
angehört,- und der Religion nur verbleibt, sofern sie in der
Mythologie stecken bleibt. Das Schicksal ist ein Pendant
des Chaos.
Hierdurch wird zugleich der Gegensatz zu einer klaren
Aufhebung gebracht, der zwischen der theoretischen und
der praktischen Vernunft besteht. Dass. zwei Arten des
Interesses unterschieden werden müssen, das steht ausser F'rage;
der Unterschied von Sein und Sollen bedeutet dies. Das eine
ist <las theoretische Interesse an dem Sein der Natur; das andere
ist das praktische Interesse, das Interesse an der Handlung und
an dem Willen. Nun ist aber auch dieses Letztere ein Interesse
der Vernunft, also auch eine Art von theoretischem Interesse.
Hier ist der Punkt, an dem die Unterscheidung zwischen Willen
und Intellekt immer schlüpfrig wird. Jetzt dagegen sehen wir,
worauf es ankommt.
Freilich soll das Problem der Ethik auch ein Wissen be-
deuten, ein strenges, genaues Erkennen; andernfalls könnte der
Wille nicht der reine Wille sein; wie wir das später zu erwägen
haben. Aber dieses Interesse der praktischen Vernunft ist ge-
richtet auf die Erkenntniss dieses reinen Willens und der von
ihm ausgehenden Handlung. Durch diesen Willen und diese
Handlung soll der BegrüFdes Menschen zur Bestimmung kommen.
Um den Begriff des Menschen, sofern er in seinem Willen und
seiner Handlung gegründet ist, soll es sich in der Ethik handeln;
nicht aber um das Schicksal des Individuums. Das Letzlere
bleibt eine theoretische Frage, nämlich eine Frage der mj'iho-
logischen Wissbegier, die sich mit der Kunst und sogar auch
mit der Religion verbinden mag; diese Frage steht jetzt jedoch
garnicht zur Verhandlung. Und sie darf mit dem Problem der
Ethik nicht verquickt werden. Die Ethik hat andere theoretische
Interessen, die immer ausschliesslich auf den Willen und auf
die Handlung gerichtet sein müssen; die indessen immer unver-
meidlich verkümmern, wenn sie auf das Schicksal des Indivi-
duums bezogen werden.
Von hier aus wird auch der Gegensatz klarer, der zwischen
Glauben und Wissen in vielfachen Wendungen behauptet und
erneuert wird. Ausser Betracht bleiben mag hierbei diejenige Grund-
stimmung, welche den Glauben auf heilige Bücher bezieht; wenn-
46 Glauben und Wissen.
gleich sie auf dieselben die Vorschriften für den Willen gründet.
Der Glaube an ein Buch ist vielmehr ein Wissen; gleichviel
welche Lehren aus diesem Buch entnommen werden. Und auch
wenn an die Stelle des Evangeliums Christus selbst gesetzt wird,
so wird auch dieser zu einer Quelle und einer Bürgschaft des
Wissens, wenngleich man dasselbe als Erleben bezeichnet.
Wie sehr es sich bei dieser ganzen Antithese um eine
Korrelation zum Wissen handelt, das kann man überall aus der
Einschränkung erkennen, welche am Wissen verübt und ver-
sucht wird. Das Wissen soll nur vom natürlichen Menschen^
wie von der Natur überhaupt handeln können; das Sittliche da-
gegen sei ihm versagt und fremd. So wird das Vernunft-Interesse
am Sittlichen verkürzt, die Theorie der Ethik bestritten. Wenn
aber die Philosophie der Ethik verworfen wird, womit soll man
alsdann salzen?
So kommt es zu der unausweichlichen Konsequenz, dass
der Glaube, der dem Wissen entgegengestellt wird, der Vernunft
und ihren theoretischen Interessen widersprechen und Trotz
bieten muss. Jetzt soll der Glaube von höherer und ganz anderer
Art sein, und eine ganz andere Gewissheit bieten, als die dem
Weissen möglich ist. Freilich ist es eine ganz andere Art von
Wissen, die das Interesse des Glaubens bildet: es ist das Schick-
sal des Individuums, um das sich Alles in ihm dreht. Wenn
dabei auch, wie nicht verkannt werden soll, das, was der Mensch
tut und treibt, durchaus mit in Betracht gezogen wird, so macht
es doch nicht die Hauptsache, geschweige die eigentliche und
einzige Sache aus, um die es sich handelt. Wäre das der Fal l
so würde man nicht den Gegensatz zum Wissen festhalten und
immer wieder umprägen, um dem Glauben eine höhere und
andere Art der Gewissheit verdanken zu können.
Es bleibt also dabei, dass der Glaube einen Gegensatz bilden
und befestigen soll gegen die Ethik, als ein Glied des philo-
sophischen Systems. Und diesen Widerspruch begünstigt eine
Metaphysik, welche der Berufung auf den Glauben das angeblich
philosophische Wort redet; die Möglichkeit der Ethik wird da-
durch vernichtet.
E^ gibt noch eine andere Gefahr, welche die Ethik in ihrem
wissenschaftlichen Charakter zu allen Zeiten bedroht hat, und
Die ethische Kultur. 47
welche neuerdings wieder aufgetaucht ist. Diese besteht in der
Tendenz der sogenannten ethischen Kultur. Freilich wird man
einer Bestrebung vor Allem seine Sympathie schenken mögen,
welche in dieser von Verwirrung des Menschengefühls und wirt-
schaftlicher Habsucht aufgeregten Zeit das sittliche Panier auf-
recht hält, um die Menschen wes Glaubens und w^es Stammes
um sich zu scharen und unter sich zu vereinigen. Aber dieses
unmittelbare Gefühl ist schon für die Politik kein zuverlässiger
Wegweiser; die Philosophie der Ethik darf sich nicht von ihm
beirren lassen. Auch die Sophistik war keineswegs immer un-
sittlich, weder in ihren Lehrern, noch in ihren Lehren. Aber
Sokrates schlug sie doch aufs Haupt, indem er den Satz in die
Welt brachte: die Tugend ist Wissenschaft. Und diese Wissen-
schaft heisst zugleich Erkenntniss. Und diese Erkenntniss ist
Philosophie, systematische Philosophie.
Gegen, die Philosophie und ihre Ethik richtet sich der
Ausspruch Kultur. Als ob es auf die Uebung und Pflege der
Sittlichkeit allein ankäme, und nicht vielmehr im ersten Grunde
auf die Erkenntniss. Dies könnte noch als ein harmloser Irrtum
erscheinen, obwohl die Sophisten es aussprachen, dass die Tugend
eine Sache der Werke sei, und dass sie nicht der logischen
Gründe bedürfe. Die Philosophie hätte ohnehin schon dadurch
ein begründetes sachliches Interesse, der Beeinträchtigung zu
widerstreben, welche damit dem System der Philosophie zu-
gemutet wird. Aber das Gebrechen dieses Gedankens lässt sich
noch allgemeiner fühlbar machen.
Durch die Beschränkung des sittlichen Problems auf die
Kultur wird das Vorurteil genährt, als ob die Sittlichkeit
etwas Selbstverständliches wäre, worüber eigentlich kein
Zweifel bestehen könne, worüber nur die Philosophie und allen-
falls auch die Religion die Skepsis alarmiere. Und sogleich
kommen alle unklaren und zweideutigen Stichworte dieser Losung
zu Hilfe: dass das Sittliche angeboren sei; dass der Mensch gut
sei, nämlich das Individuum; dass ihn nur der Pluralis der
Menschen schlecht mache. In allen diesen menschenfreund-
lichen Ansichten, welche auch wieder in vielfachen Nuancen
durch alle Zeitalter schwirren, wiederholt sich derselbe Grund-
fehler: dass der Mensch in seiner psychologischen Natur gedacht
48 Die Selbstverstftndlichkeit des Sittlichen.
wird. Darum wehrt man sich gegen die Philosophie, oder, wie
man es unverfänglicher ausdrückt, gegen die Metaphysik, weil
man sonst mit der Logik anfangen müsste, während man mit
Psychologie bequemer zu fahren glaubt.
Indem mj^n aber wohl oder übel von der Psychologie aus-
geht, so begibt man sich in die Schwierigkeiten, welche von
dort her dem Individuum bevorstehen, und ebenso auch dem
Willen. Und es kann daher schwerlich helfen, wenn man
andererseits die soziale Fahne aufpflanzt, um der Einseitigkeit
des Individuums und dem impulsiven Imperialismus seines
Willens zu steuern. Es kann dabei nicht zu einer Schlichtung
des Gegensatzes kommen; denn wo die Natur des Sittlichen vor-
ausgesetzt wird, und als selbstverständlich in der Natur des
Menschen gilt, da bleibt es bei der angeblichen Correlation von
Individuum und Mehrheit oder Besonderheit, welche, wie wir
wissen, keine richtige, keine erschöpfende Correlation ist. Da
wird nicht von vornherein das Problem aufgestellt, in der All-
heit das rechte Glied der Correlation zu finden.
Bestände diese Einsicht, so könnte es nimmermehr in
Zweifel gezogen werden, dass die ethische Kultur durchaus viel-
mehr auf die Kultur der Ethik sich gründen muss. Denn
die Bedeutungen dieser Allheit in der Geschichte der Kultur zu
mustern und auf ihren ethischen Reingehalt zu prüfen, das ist
eine eminent theoretische Aulgabe, in deren Bestimmung und
Beleuchtung ebenso, wie in ihrer Behandlung und Durchführung
der Werl der Ethik mit Sicherheit anerkannt werden muss.
Von diesem Problem der Allheit lenkt die ethische
Kultur ab, weil die Selbstverständlichkeit des Sitt-
lichen am Individuum hängt.
Damit aber kommen wir auf einen noch schwerern Fehler
in diesem Gedanken. Indem er von der Allheit ablenkt im Aus-
gang, lenkt er zugleich ab von dem Zusammenhang der Probleme,
in dem das Sittliche steht, und in dem allein es behandelt
werden muss. Der Staat stellt diesen Zusammenhang dar.
Daher darf prinzipiell nur in den politischen Bewegungen das
Sittliche der praktischen Kultur unterzogen werden. Wenn es von
diesem Zusammenhange abgelöst wird, so bleibt es der Domäne
überlassen, gegen welche eigentlich der Widerstand erhoben wird.
Woher und Wohin? 49
Der Religion will die ethische Kultur entgegentreten, um
die Exklusivität, der diese anheimfällt, zu beseitigen. Sie ist so
konsequent, auch den Einseitigkeiten der Politik zu begegnen;
dennoch aber begibt sie sich ausserhalb des politischen Kampf-
gebietes. Daher verfällt sie unrettbar dem Seitenweg einer
religiösen Sekte. Wo immer die Sittlichkeit ausserhalb der
Politik zum Problem gemacht wird, da ist trotz aller Feindschaft
gegen die religiöse Dogmatik die Sackgasse des religiösen Con-
ventikels unvermeidlich.
Es wird aber auch gegen die Religion ein verhängnisvoller
Fehler hierbei begangen, der das Verhältnis der Ethik zur
Religion tief berührt. Dass die Religion, als Glaube, vielmehr
Wissen sei, und dass dieses Wissen auf das Schicksal des
Menschen gerichtet sei, haben wir betrachtet. Die Ethik dagegen
sei gerichtet auf den Begriff des Menschen, sofern er aus seinem
Willen und seiner Handlung ableitbar werde. Der Unterschied
ist einschneidend; ob sein Inhalt aber vollauf befriedigt'?
Sollte denn das Schicksal des Menschen lediglich eine
mythologische Vorfrage der Kultur sein, welche auf demselben
Wege auch die Frage nach dem Schicksal der Welt erledigt?
Würde nicht vielmehr der Religion der Charakter des Wissens
zuzuerkennen sein, wenn sie diese Fragen, obzwar sie schon den
Mythos bewegten, dennoch zu ihren Fragen machte; selbst wenn
sie sie nicht zu lösen vermöchte? Es ist sicherlich nicht allein
das Interesse des Köhlerglaubens, welches auf das Woher und
Wohin der Welt und des Menschen sich richtet. Non liquet zu
sagen, hat nur einen berechtigten Sinn, nachdem man eine lang-
wierige Untersuchung durchgeführt hat. Es ist aber das Symptom
einer grossen innerlichen Kurzsichtigkeit, wenn mau glaubt, das
Interesse an diesen Fragen abschneiden und als eitel abtun zu
können. Ist es doch vielmehr der Sinn für den Innern Zu-
sammenhang alles Seins, der in diesen primitiven Fragen schon
sich kundgibt. Die Welt darf mit mir nicht anfangen und mit
mir nicht enden. Darum darf ich selbst nicht enden. Es kommt
jedoch nur darauf an, und das vorzugsweise ist zu fragen: wer
und was ich selbst bin. Und es ist somit wiederum der Begrifl*
des Individuums, der das Problem bildet.
Mithin kann es nicht so sich verhalten, dass die Ethik mit
4
50 Ethik und
diesen Fragen gar nicht sich zu befassen hätte; sind sie doch in
dem Problem des Individuums mit enthalten. Die Ethik soll
nur nicht unvermittelt auf jenen Ausdruck des Problems hin-
steuern; vielmehr auf ilirem Wege der Mittel habhaft werden,
um da zu landen, wo Mythos und Religion Schiflbruch leiden
und versanden.
Die Frage nach dem Woher stellt sich die Ethik bei ihrem
Ausgange von der Logik. Wir werden dies zu l)etrachten haben.
Und das Wohin bildet die Sclüussfrage der Ethik, ohne die sie
ihren Abschluss nicht erreichen wiirde.
Nicht so ist mithin das Verhältnis zwischen Ethik und
Religion zu denken, dass die Ethik jene Urfragen der Religion
als Kinderfragen der Menschheit abtäte; sondern dahin wird es
zu fassen sein, dass die Ethik jene Fragen, deren Lösung der
Religion versagt bleiben mu3s, weil ilir für deren Bearbeitung
die methodischen Mittel fehlen, ihrerseits auf sich nimmt; und
keineswegs in der Resignation, dass sie dal>ei in einem Non
liquet stranden müsste. Die Uebertragung des Woher und
des Wohin muss sie sich zu ihrer Aufgabe machen.
Diese Fragen gehören allerdings zum Begriffe des Menschen.
Daher wird auch die Ethik eine andere Stellung zur Religion
einehmen, als sie der ethischen Kultur und aller Art von Zeit-
stimmung vorschwebt, welche der Religion aus dem Wege geht.
Der Grundirrlum ist in allen diesen Richtungen, dass das Sitt-
liche etwas Natürliches und somit etwas Selbstverständliches sei.
Schon die Philosophie sei dabei überflüssig: die Religion dagegen
schlechterdings vom Uebel. Nur auf den letzten Punkt wollen
wir hier eingehen: berührt muss freilich auch der erstere dabei
werden.
Das Sittliche soll natürlich sein, das soll heissen, es sei
dem Menschen angeboren, wie es alle seine Triebe sind. Denn
über die Triebe hinaus darf man dabei wohl nicht gehen. Das
Denken und Erkennen gilt in jenem Lager nicht für angeboren,
sondern nur das Emptinden und Wahrnehmen, aus dem das
Denken und Erkennen sich, wie man sagt, entwickele. So soU
sich auch das sittliche Fühlen und Wollen aus den Instinkten
und Triebbewegungen allgemach entwickeln. So versteht man
das Angeborene: die allmähliche Entwickelung aus natürlichen
Die Ideen und die Individuen. 61
Triebkräften. Und diese Entwickelung macht das Sittliche zu
einem natürlichen Ertrag und Ergebnis, wonach es als et^'as
Selbstverständliches erscheint. Die ethische Begründung sei daher
nicht bloss überflüssig, sondern bedenklich und verdächtig, weil
sie den Anspruch zu erheben scheint, etwas Eigenes, Neues als
das Sittliche zu entdecken.
In der Tat kann dieser Anspruch als etwas Befremdliches
erscheinen. Die Kultur arbeitet seit Jahrtausenden auf ein Sitt-
liches hin, und alle theoretische Kultur ist an der Ausbildung
dieser Einsichten beteiligt; wie könnte es da zu verstehen sein,
dass die Ethik etwas Anderes ausführen und auch nur anstreben
könnte, als die methodische Bestimmung des Begriffs vom Sitt-
lichen, zu welcher alle Arten der Kultur mit der Kenntniss seines
Umfangs zugleich auch die Merkmale zu liefern haben, die in
jenem Begriffe vereinigt werden? Freilich erfordert die Ver-
einigung zugleich die Bearbeitung jener Merkmale; aber die
Kultur allein kann sie an den Tag bringen.
Zur Kultur gehört auch die Religion. Und wie wenig es
ihr auch gelungen ist und gelingen konnte, die Sittlichkeit auf
Erden zu verwirklichen, so kann doch nur eine parteiische Ver-
blendung und ein agitatorischer Schlachtruf sie für Priesterbetrug
ausgeben, und allen ihren Wert für die sittliche Kultur ab-
leugnen. Der Fehler dieses Urteils liegt wiederum nur in der
Ansicht, dass das Sittliche natürlich, weil selbstverständlich sei,
und dass nur die Religion diese Natur des Sittlichen verdorben
und unkenntlich gemacht habe. Der Fehler lässt sich auch als
ein solcher in der geschichtlichen Einsicht bezeichnen. Die
Religion gehört der Geschichte auch in Rücksicht auf die Ge-
schichte der sittlichen Ideen an. Diese bilden vorzugsweise den
Inhalt der Geschichte.
Wir sind im Vorigen bemüht gewesen, das Verhältnis des
Individuums zu den Einrichtungen und den Ideen klarzustellen,
und wir haben das Individuum erkannt als das Individuum der
Idee; denn auch die materielle Kultureinrichtung ist Darstellung
der Idee. Jetzt gilt es umgekehrt das Verhältnis der Idee zu
dem Individuum ins Auge zufassen. Die sittlichen Ideen sind
nicht von selbst gewachsen, sondern Individuen haben sie ge-
dacht und hervorgebracht. Wer waren diese Individuen? Sicher-
4»
62 Die Propheten.
lieh waren es auch Philosophen und Dichter und Richter und
Staatsmänner; aber vielleicht nicht nur zeitlich vor ihnen allen^
sondern der eindringenden Energie und der Wucht nach waren
es die Stifter der Religionen, welche die sittlichen Ideen
erdachten, für ihren Wert stritten und ihr Leben dahingaben.
In neuerer Zeit ist der typische historische Charakter auf-
gedeckt worden, den die israelitischen Propheten im Leben
der Menschheit einnehmen. .^Er hat Dir gesagt, o Mensch, was
gut ist." Dieser Ausspruch bildet die Devise des Prophetismus.
Gott ist es, der verkündet. Das ist die Schranke. Nicht der
menschliche Geist, nicht die wissenschaftliche Vernunft ist die
Quelle und das souveräne Mittel. Diese Schranke bezeichnet der
mythologische Begriff der Offenbarung.
Aber die Offenbarung bleibt nicht bei diesem mytholo-
gischen Ausgang stehen. Die Schranke zerbricht sich selbst; die
auswärtige Quelle Hiesst unversehens in eine eigene über: in die
der menschlichen Vernunft, sofern der Begriff der Vernunft den
Menschen mit Gott vereinbart und versöhnt. Gott verkündet
dem Menschen. Und was verkündet er dem Menschen? Wa,s
gut ist. So macht der Prophetismus das Gute zum Inhalt der
Religion. Nichts Anderes soll fernerhin der Vorwurf und das
Interesse der Religion sein als das Sittliche. Nichts Anderes also
als der Mensch; vielmehr die Menschen, wie sie der Eine Gott
in die Eine Menschheit vereinigt. Der Name Gott soll fernerhin
schlechterdings nichts Anderes zu bedeuten haben als die Bürg-
schaft für diesen Gedanken, für diese Ueberzeugung von der
Einen Menschheit.
Für das Wesen und die Natur Gottes interessiii sich der
Mythos, der daher auch der Mehrheit der Götter bedarf. Wenn
anders es aber nach den Propheten nur Einen Gott gibt, so gibt
es für seine Natur und sein Wesen kein inneres, eigenes, sondern
nur ein auswärtiges Verhältnis, nämlich zu den Menschen. Da-
her muss er transscendent sein; er bildet die Grundlage zu
dem Verhältnis, als des.sen anderes Glied der Mensch gefordert
wird; damit die Verhältnisse unter den Menschen, welche die
Sittlichkeit ausmachen, vollziehbar werden. Nicht der Mensch
also fordert für seine subjective Stützung Gott; sondern zur
objectiven Begründung der Sittlichkeit wird Gott gefordert-
Die Transscendenz Gottes. 53
Daher ist er die transscendente Voraussetzung. Sein BegrilT und
sein Dasein bedeutet nichts Anderes, als dass es kein Wahn sei,
die Einheit der Menschen zu glauben, zu denken, zu erkennen,
<iott hat es verkündet. Gott verbürgt es; sonst hat er Nichts zu
bedeuten, Nichts zu besagen. Seine Eigenschaften, in die man
sein Wesen entfaltet, sind nicht sowohl die Eigenschaften seinier
Natur, als vielmehr die Richtungen, in welche jenes Verhältnis
zu den Menschen und an den Menschen ausstrahlt.
Wenn man nur an die beiden Attribute Gottes, an die
Liebe und Gerechtigkeit, denkt, so muss es einleuchten, welchen
intimen Anteil die Religion an der Sittlichkeit hat; auch an
dem Denken und Ausbilden der sittlichen Einsichten, die man
freilich von Hegriflen und Erkenntnissen unterscheiden inuss.
Es ist daher l'nwissenheit und Unbildung, wenn man die Religion
mit ihren sittlichen Schätzen und Quellen verdächtigt und ent-
behrlich zu machen glaubt; wie will man sie denn ersetzen, zu-
mal wenn man auch die Philosophie als Metaphysik ablehnt?
Es bleibt dann eben nur die populäre Trivialität übrig in ihrer
grossen Zweideutigkeit und Zweischneidigkeit.
Wenn selbst aber die etliivsche Litteratur für die Religion
eingesetzt würde, so würde diese dadurch doch nicht ersetzt
werden. Das werden wir späterhin in anderem Zusammenhange
zu ei-weisen haben. Wir werden dabei auf die eigentlichen
Fehler der Religion einzugehen haben. Diese aber, die man
allgemein wohl fühlen mag, dürfen doch nicht zu dem histo-
rischen Irrtum verleiten, dass die Religion die Kenntniss des
Sittlichen nicht gefördert hätte.
Dieser Irrtum ist nicht nur ein Fehler der historischen
Bildung, er schädigt zugleich die Disposition der Ethik. Wir Wissen
jetzt, was die Unterscheidung zwischen dem theoretischen und
dem ethischen Interesse zu bedeuten hat. Wir haben auch schon
eingesehen, dass das praktische Interesse durch das theoretische
gefördert wird. Die Formulierung des Aristoteles ist sehr un-
glücklich und verwirrend. Die Ethik hat keineswegs zu ihrem
Problem, „dass wir Gute werden'*, welches im Gegensatz stände
zu dem Problem, „was das Gute sei**; denn durch die Erkenntniss
des Guten soll das Gut werden der Menschheit herbeigeführt
werden. Das theoretische Interesse dient dem praktischen. In-
54 Verhältnis von Religion und Kunst
dessen wie sehr dieser Zusammenhang immer vorzugsweise auf
die beiden Arten des Vernunftinteresses sich bezieht, so ist er
doch nicht auf dieselben eingeschränkt und festgebannt.
Wenn anders daher die Religion an der Kenntniss des Sitt-
lichen unverächtliche Verdienste hat, so verscherzt und verliert
man ihre praktische Mitarbeit, wenn man für die sittliche Kultur
sie abweist und ausschaltet. Und der Verlust ihrer Mitarbeit ist
nicht das Einzige, was dabei zu bedenken ist. Ein anderer, nicht
minder schwerer Schaden besteht darin, dass sie selbst infolge
dieser Abweisung auf eine schiefe Bahn geschoben wird. Nicht
nur das mythologische Interesse wird dann wieder in ihr über-
mächtig, sondern in die anderen Zweige der Kultur verschlingt
sie sich immer dichter, je mehr sie von der Richtung auf das
Sittliche abgedrängt wird.
In dieser Verschlingung mit allen den verschiedenen Zweigen
der Kultur besteht die eigentliche Schwierigkeit und Gefahr der
Religion. Und dieser tiefste Grund, der ihr Wesen fraglich
macht, wird verschroben bei dieser Verzichtleistung auf sie für
das Sittliche. Darin liegt der grösste Schaden in diesem Fehler
der historischen Bildung. Dieser Gedanke erfordert eingehendere
Betrachtung. Vor Allem ist es das Verhältnis zur Kunst,
welches der Religion wie eingeboren ist. Erwächst sie doch aus
dem Mythos, der selbst die Wurzel der Kunst in sich enthält.
Mit der Kunst schafft sie sich ihren Kultus. Freilich scheint sie
in demselben innerhalb des Mythos befangen zu bleiben. Daher
eifern die Propheten gegen den Kultus.
Aber der Kultus dient ja nicht allein der Gottesverehrung,
sodass er durch die Menschenliebe, in der allein der wahre
Gottesdienst besteht, ersetzbar würde; sondern er dient zugleich
doch auch der Sammlung des Menschen und seiner Andacht an
die Gedanken der Sittlichkeit. Diese Sammlung und diese An-
dacht fördert der Kultus, indem er der Kunstmittel sich be-
mächtigt, um die Gedanken in Gefühle zu zerschmelzen; von
ihrer begrifflichen Gebundenheit sie abzulösen und in das neue
Geflecht der Gefühle sie einzulangen. Hier wächst ihnen un-
zweifelhaft eine neue Kraft zu; es ist jedoch ebenso unzweifel-
haft, dass dadurch ihre Klarheit, ihre Einfachheit und ihre
Sicherheit gefährdet wird.
Das Uebersinnliche. 55
Der Wert der aesthetischen Gefühle liegt in der eigenen
Reinheit und Selbständigkeit der Werke der Genies. Die Kunst
des Genies aber geht ihre eigenen Wege, wie sehr sie immer
mit der Religion sich zu verbinden scheinen mag. Die wahre
Kunst wird niemals der Religion dienstbar; sie bemächtigt sich
vielmehr nur des religiösen Stoffs, wie des mythischen überhaupt,
um ihn mit ihren eigenen Mitteln zu ihren eigenen Zwecken
und zu ihrem eigenen Inhalt zu gestalten. Die Kunst wird nicht
von der Religion abhängig, wohl aber umgekehrt die Religion
von der Kunst. Dadurch aber wächst die Gefahr der Religion.
Denn sie befestigt sich dadurch im Mythos, . von dem sie durch
die Freiheit der Poesie scheinbar abgelöst wird. In der Kunst
aber tritt sie in einen neuen Zauber ein, der sie für das Sitt-
liche befangen macht.
Das ist ja die grosse Macht der Kunst, dass sie ihren Ge-
bilden die Illusion der Wirklichkeit verleiht. Da nun aber die
Religion, wie sie sich mit der Kunst im Kultus verbindet, das
Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu künstlerischer Dar-
stellung bringt, so zieht sie das Uebersinnliche in die
Reize der aesthetischen Sinnlichkeit hinein, und so begibt
sie sich, wie freiwillig, in die Urzeit des Mythos zurück. Die
Kunst gibt ihr das seelische Geleit. Der Abstand der Religion
von der Ethik, sofern diese auf der Verbindung des praktischen
und des theoretischen Interesses berußt, wnrd dadurch weiter
und gespannter.
Indessen entsteht aus der innerlichen Verbindung von
Religion und Kunst noch eine andere Gefahr, welche die Religion
für die Ethik bildet. Die Kunst entspricht einer eigenen Richtung
des reinen, erzeugenden Bewusstseins. Daher bildet die Aesthetik
ein eigenes Glied des philosophischen Systems. Diese Eigenart
lässt sich wiederum nicht ausschliesslich, nicht methodisch durch
Psychologie entwickeln. Vom psychologischen Gesichtspunkte
aus würde man denken können, die Kunst gehe aus einem Kunst-
triebe hervor, wie er sich auch bei den Tieren schon zeige.
Daher scheint unser deutsches Wort so bezeichnend: Kunst ist
Können; das Vermögen zu schaffen und zu bilden. Bilder
zu entwerfen und zu gestalten, welche im Scheine der Wirk-
lichkeit mit der Natur wetteifern.
56 Die sogenannten sozialen Kunstwerke.
Ist denn aber diese Richtung des Könnens der Kunst eigen-
tümlich? Schlägt nicht vielmehr dieser Trieb, zu bilden und
zu schaffen, noch ganz andere Richtungen ein? Zunächst kann
man sagen, dass alle diese Richtungen des ßildens aus einem
Triebe nach Aussen hervorgehen. Dieser Trieb nach Aussen
ist es ja aber, welcher vor Allem den Willen und die Handlung
bezeichnet. Wenn nun der Trieb des Schaffens und des Bildens
nach seinen verschiedenen Wegen und Richtungen in diesem
Triebe nach Aussen wurzelt, so wurzelt er im Willen. Und
wenn die Kunst in dem Triebe des Bildens im letzten und tiefsten
(irunde charakterisierbar wäre, so würde ihr eine Eigentümlich-
keit für das philosophische System nicht zukommen; denn sie
würde mit dem Willen und also mit der Ethik zusammenfallen.
Welche andere Richtungen sind es denn aber, die der
Trieb des Bildens und des SchatTens einschlägt? Bei dieser
Frage stehen wir vor den wahrhaften Mächten und Tatsachen
der sittlicben Kultur. Und das Problem der Ethik hängt an
der Charakteristik dieser Mächte und dieser Tatsachen. Der
psychologische Gesichtspunkt lässt es als natürlich erscheinen,
dass der Trieb, nach Aussen zu wirken und zu schaffen, und
diesem SchafTen Gestalt und Dauer zu verleihen, alle sozialen
und politischen Gebilde hervorgebracht habe; alle Ver-
bindungen der Menschen seien diesem Triebe entstammt. Man
scheut die Analogie mit der Kunst nicht; alle diese sozialen und
politischen Schöpfungen seien Kunstwerke; der Staat wird als
das höchste Kunstw^erk gedacht.
Indessen mehr als Analogie soll auch in diesem Vergleiche
nicht liegen. Wie der Trieb nach Aussen sich zu einem Triebe
des Schaffens in der Kunst spezialisiert, so zweigt er sich anderer-
seits zu einer andern Art des Könnens ab, nämlich zu der des
Bezw^ingens, welches gegen Andere und auch gegen sich selbst
gerichtet wird. Das Wort, welches für diesen Trieb in vielen
Sprachen gebraucht wird, weist auf eine Wurzel hin, welche
der des Könnens verwandt ist. Die Macht tritt als ein Trieb
des menschlichen Bew^usstseins auf. Und die sozialen und
politischen Bildungen werden als Mächte der Kultur wirksam.
In diesen Mächten der politischen Kultur gilt es uns, die Objekte
der Ethik zu erkennen; diejenigen Tatsachen der Kultur, welche,
Religion und Politik. 67
analog der Natur, die Objekte der Erkenntniss zu bilden haben;
der ethischen, wie die Tatsachen der Natur die Objekte der
theoretischen Erkenntniss bilden.
Bevor wir diesen Gedanken weiter verfolgen, wollen wir
die Betrachtung, welche die Religion betraf, nunmehr fortseticen.
Jeizi haben wir die neue politische Schöpfung kennen gelernt,
mit welcher die Religion von Anfang an Verbindungen einzu-
gehen sucht, die für Beide, für die Religion, wie für den Staat,
unablässige Kollisionen und Konflikte mit sich führt; schwere,
bittere Kämpfe, an denen bald die Religion, bald der Staat zu
verbluten droht. An dieser Stelle soll jedoch nur die Schwierig-
keit erwogen werden, welche aus jener Verbindung der Re-
ligion mit der Politik für die Ethik entsteht.
Von Anfang an hatten wir gesehen, dass es sich in der
Ethik um den Begrifl" des Menschen handelt; dass für diesen
BegritT aber es ankomme auf die richtige Correlatiön zu dem
BegriflV des Individuums. Die Mehrheit, als Besonderheit, bildet
nicht das entsprechende Correlat; vielmehr nur die Allheit. Es
muss nun darauf ankommen, welche der konkurrierenden
Mächte, die Religion oder der Staat, die richtige Allheit zu liefern
vermag.
Dem oberflächlichen Scheine und dem lauten Ansprüche
nach will die Religion alle Besonderheit aufheben und alle
Menschen in eine Allheit vereinigen. Der Staat dahingegen
scheint dieser Allheit Widerstand zu leisten, indem er die Viel-
heil der Völker in der Partikularität der Staaten stabiliert.
Indessen schränkt der StaatsbegrifT diesen Partikularismus durch
<las Völkerrecht und durch den Staatenbund w^ohl oder übel
ein. So korrigiert sich die scheinbar unumgängliche Besonder-
heit in dem Plan einer Allheit, der mit der Methodik des Rechts
entworfen wird. Man denke sich dementsprechend einen Bund
der Religionen. Der Gedanke scheint einer satyrischen Utopie
anzugehören.
Warum alier ist eine solche mit der eigenen Methodik der
Religion herbeizuführende Verbindung der Religionen ein unmög-
licher Gedanke, an dessen Stelle nur die Toleranz und der-
gleichen Schlafmittel treten können? Weil die Religion eben den
Anspruch auf Wissen erhebt; weil sie das Wissen vom Menschen
58 Der Partikularismus der Religion
und von Gott und von der Welt, als der Schöpfung Gottes, zu lehren,
lehren zu können sich anmasst. Es kann jedoch nicht zwei
Wissenschaften geben,, die denselben Inhalt an Pro-
blemen hätten. Wenn es deren gibt, so können sie sich nicht in
eine Einheit verbinden; sie müssen einander ausschliessen. Es
liegt mithin der Partikular ismus im Begriffe der Religion.
Und dieser Partikularismus ist um so gefährlicher, als er
durch einen angeblichen Universal ismus gefälscht wird. Nur wenn
die Religion sich selbst aufgibt, das heisst, wenn sie die Sitt-
lichkeit allein und ausschliesslich zu ihrem Problem macht, nur
dann kann die Allheit der Menschen ihr wahrhaftes Ziel werden.
Dann aber muss sie, um ihren Lehrgehalt zu einem Wissen zu
machen, in Ethik sich aufheben. Die Religion, als Religion, ist
an die exklusive Partikularität gefesselt.
Auf diesem Innern Unterschiede zwischen Religion
und Staat beruht die Anstössigkeit der Verbindung, welche die
Religion mit dem Staate eingeht. Zunächst fällt die Abhängig-
keit in die Augen, in welche sie sich dabei begeben muss. Wie
die Kunst mit der politischen Macht sich verbindet, so tritt auch
die Religion im Kultus diesem Bündnis bei. Die Ahnen der
Macht werden in der Poesie die Helden der Sage und des Epos
und der politischen Lyrik. Und in der Religion des Kultus
werden diese Heroen zu Göttersöhnen und Göttern. Indessen ist
diese Politisierung der Gottheiten der geringere Schaden bei dieser
Verbindung.
Das tiefere, unheilbare Gebrechen liegt in der Nach-
ahmung des Staates, in der Bildung einer selbständigen Zu-
sammenfassung der Glaubensgemeindc nach dem Muster des
Staates: in der Kirche. Die Theokratie bildet hierbei die ge-
ringere Gefahr; denn sie negiert den Staat, den sie vielmehr in
sich resorbiert. Dies ist ein Gedanke, der der Ethik zu statten
kommen könnte, wenn nämlich die Religion ohne Rest in Sitt-
lichkeit und mithin in Ethik aufginge. Diesen Anspruch jedoch
konnte und wollte die Kirche weder im Heidentum, noch im
Christentum durchführen. Nur um Abhängigkeit des Staates von
der Kirche handelt es sich; Sekten allein sind es, welche die
Auflösung des Staats in die Kirche, damit aber auch die der
Kirche selbst anstreben.
Staat oder Kirche? 59
So gibt es denn zwei Grundformen für das grosse Zusammen-
leben der Menschen und der Völker: eine geistliche und eine
weltliche. Welche aber ist die sittliche? Das ist die Gewissens-
frage der Weltgeschichte. Ist es etwa nur eine von ihnen? Dann
wird die andere zu einer Verirrung im sittlichen Sinne. Und
diese Verirrung wird nicht etwa dadurch gemildert, dass es ein
natürlicher Kunsttrieb oder auch ein Machttrieb sei, welche die
Völker zur weltlichen Unsittlichkeit verführen.
Oder sollten etwa Beide nicht lediglich den sittlichen Weg
beschreiben, weil noch etwas Anderes eine jede von ihnen
zu bedeuten hätte? Welches Andere könnte es dann aber geben,
wenn man hier von der Kunst abzusehen hat, ausser Wissen-
schaft und Sittlichkeit? Religion und Politik dürfen keine
Korrektur und kein UebertrefFen der Wissenschaft und der Sitt-
lichkeit entbieten. Wir wiederholen die Frage: welche von
Beiden ist die sittliche Grundform?
Die Frage bedarf einer genauem Präzisierung. Sie darf
nicht schlechthin im geschichtlichen Sinne, mit Bezug auf die
bisherige Weltgeschichte, verstanden werden. Denn in dieser
hat der Staat ebensowenig, wie die Kirche, den sittlichen Weg
eingehalten. Und während für die Kirche wenigstens der An-
spruch auf Sittlichkeit fast immer erhoben wurde, hat man in
der Politik und in der politischen Geschichte gerade in schein-
bar machtvollen Zeiten auf die Sittlichkeit verzichtet. Dennoch
dürfen wir uns von solchen Erscheinungen nicht bestimmen
lassen, wenn wir die richtigen Kulturobjekte ßnden wollen, auf
welche die Ethik zu reflektieren hat. In diesem methodischen
Sinne wird die Frage gestellt. Und auf diesen hin war von
vornherein das Misstrauen gegen die Religion, als Kirche, ge-
richtet worden.
Betrachten wir die Position der Kirche noch allgemein aus
dem Gesichtspunkte der Allheit, so sehen wir, wie das politische
Dasein davon berückt wird. Bis in die ethischen Konventikeln
hinein erstreckt sich diese Verdächtigung des Staatslebens. Und
doch kann und soll der Staat nicht entbehrlich gemacht werden.
So wird das Misstrauen unfruchtbar, und verdirbt nur das gute
Gewissen und die Freudigkeit des politischen Daseins und
Wirkens. Wenn anders aber der Staat nicht entbehrt, nicht er-
60 Verhältnis der Ethik zur Rechtslehre.
setzt werden kann für das Völkerleben, so kann nur dies das
Problem sein: wie die Sittlichkeit, die seiner nicht entraten kann,
<lurch ihn und in ihm verwirklicht werde.
Durch ihn allein muss sie Wirklichkeit werden;
es kann nicht zwei Wege geben, Sittlichkeit zu voll-
ziehen. Daran müssen wir festhalten. Es gibt keine halbe
Sittlichkeit, die sich durch eine andere Hälfte erganzen iies^e.
So stellt es sich durch diese methodische Ueberlegung heraus,
dass der Weg der Religion, als der Kirche, der sittliche Weg der
Menschheit nicht sein kann. Denn ihr Ziel muss die Parti-
kularität sein und bleiben. Das Problem der Ethik aber ist:
mit der Allheit das Individuum in Correlation zu setzen, und in
«lieser die Einheit des Menschen zu vollziehen.
So hat ims das Bedenken wegen der Verbindung, welche
im Kultus zwischen der Religion und dem Staate eingegangen
wird, auf eine fernere methodische Grundfrage geführt, nämlich
auf das Verhältnis der Ethik zur Staatslehre. Von hier
aus aber erölTnet sich zugleich die Perspektive auf noch eine
andere Wissenschaft, mit welcher die Staatslehre in engster
methodischer Verbindung steht, nämlich mit der Rechts-
wissenschaft.
Die Staatslehre ist notwendigerweise Staatsrechtslelirc. Die
Methodik der Staatslehre liegt in der Rechtswissenschaft. Wie
sehr auch andere Wissenschaften in Mitwirkung treten müssen,
um den Begrift' der Staatswissenschaft zu konstituieren, so bildet
doch unstreitig die Rechtswissenschaft die methodische Grund-
lage. Wenn man die Volkswirtschaftslehre und ihre Hilfswissen-
schaften für die Staatslehre in Betracht zieht, so treten unver-
sehens die Staatswissenschaften im Pluralis ein. Die Staatsv/issen-
schaft, ihr BegritT, ihre Methodik ist vorzugsweise durch die
Rechtswissenschaft bedingt.
Der soeben gebrauchte Ausdruck vorzugsweise verbirgt oder
vielmehr er stellt eine Unbestimmtheit und Unsicherheit bloss.
Die Staatswissenschaft ist demnach nicht ausschliesslich von der
Rechtswissenschaft abhängig. Von welcher andern Art von Er-
kenntniss ist sie denn aber abhängig? Von der Volkswirtschaft
und ihrem Anhang .sehen wir ab; sie rechnen wir hier auf die
Die Handlung. 61
Seite des Rechts. Denn schliesslich können diese Wissenschaften
selbst des Rechts sich nicht entschlagen. Die Werte müssen
Rechte werden. Die andere Art aber von Erkenntniss, auf welche
die Staatswissenschaft angewiesen ist, wir kennen, wir suchen
sie hier in der Ethik.
Es kommt nun darauf an, das Verhältnis umzustellen, wenn
anders die Ethik das Glied eines philosophischen Systems ist.
Innerhalb desselben hat sie auf die Kultur sich zu beziehen,
ebenso wie die Logik auf die Natur, auf die Wissenschaft von
der Natur bezogen ist. In allen Formen und Wissenschaften,
welche die Kultur zum Inhalt haben, fanden wir aber, dass die
Ethik in ihnen vorausgesetzt werde und werden müsse. Dem
Problem nach wird dies freilich auch bei der Rechtswissenschaft
nicht anders sein können; indessen macht sich hier ein metho-
discher Unterschied geltend.
Die Geschichte operiert mit den Begriffen des Menschen in
den verschiedenen Formen und Gebarungen seines Daseins. In
allen diesen nimmt sie aber, wie wir es betrachtet haben, den
Menschen in seinem psychologischen Sinn, den sie selbst ab-
strahiert und plastisch gestaltet. Seine Handlungen, wie sehr sie
immer sie als Handlungen von Individuen darzustellen beflissen
ist, sie muss dieselben zugleich doch auch wieder in ihrer Be-
dingtheit durch allgemeinere Einflüsse betrachten. So werden
unversehens die Handlungen in Leidenschaften und in
Gefühle verflochten und schier verwandelt; der genaue Begriff
aber, durch den allein die Handlung geleitet wird, er tritt zurück
und wird notwendigerweise zurückgestellt, wenn anders nicht
die Individuen allein und isoliert den Lauf der Geschichte be-
stimmen.
Anders steht es und geht es in der Rechtswissenschaft
zu. In ihr handelt es sich vor Allem um Handlungen. Es ist
daher wohl nicht zufallig, dass das Wort für Handlung das
Grundwort der gesamten juristischen Technik wird: Actio ist
die Handlung und die Klage. Ein Recht, welches nicht
klagbar ist, ist kein Recht. Daher ist auch der Begriff der Hand-
lung rechtlich an den Begriff der Klagbarkeit geknüpft. Die
Durchführung des Rechts vollzieht sich im Prozess. Daher ist
andererseits auch der Begriff des Rechts an den der Handlung
62 Ethik die Logik der Geisteswissenschaften.
geknüpft. Die Handlung bedeutet, als Actio, nicht zwar den
Rechtsanspruch, aber den Gerichtsanspruch.
So wird das Recht in die Handlung gelegt, als in seinen
Ursprung und seinen eigentlichen Inhalt. Denn die Form des
Rechts ist nicht etwa nur die äusserliche Form, und auch nicht
nur das bedeutsame Symbol; sondern sie ist das methodische
Mittel, das Recht zu flnden, zu entdecken, zu erzeugen. Diese
Doppelbedeutung hat die Handlung als actio: sie ist zugleich
Handlung und Behandlung.
Wir erkennen sonach die innerliche Bedeutung, welche der
juristischen Technik beiwohnt; und daraus lernen wir den
methodischen Wert der Rechtswissenschaft erkennen.
Dieser methodische Wert ist nicht allein auf die Staatswissen-
schaften zu beziehen; vielmehr erstreckt er sich auf die Geistes-
wissenschaften überhaupt, mithin auch auf die Ethik. Und es
entsteht die Frage nach dem Verhältnis, welches in Bezug
auf die Geisteswissenschaften zwischen der Rechts-
wissenschaft und der Ethik anzusetzen sei. Diese Frage wird
von grundlegender Wichtigkeit für die Methodik der Ethik selbst.
Wir wissen von der Logik her, wie diese im Zusammen-
hange steht mit der Mathematik. Zwar gibt es auch für die
Mathematik allgemeine Voraussetzungen, welche selbständig in
der Logik gelegen sind. Aber für den Aufbau und Ausbau selbst
dieser Grundlagen ist die Logik auf die Mathematik angewiesen.
Das haben wir sogleich in dem Urteile des Ursprungs erkannt
Es besteht also ein deutliches Wechselverhältnis zwischen
der Logik und der Mathematik. Die logischen Motive,
welche der Mathematik eingeboren sind, wachsen in ihr so in-
haltvoll aus, dass die Logik von diesem Inhalte in ihrer eigenen
Inhaltsbestimmung abhängig wird. Bleibt es doch Geist von
ihrem Geiste, der dort Fleisch geworden ist, und den sie als
neuen Geistesinhalt in ihr Gebein einzufügen hat.
Aehnlich ist es mit dem Verhältnis der Ethik zur Rechts-
wissenschaft bewandt: Die Ethik lässt sich als die Logik
der Geisteswissenschaften betrachten. Sie hat die Begriffe
des Individuums, der Allheit, sowie des Willens und der Hand-
lung zu ihrem Problem. Alle Philosophie ist auf das Faktum
von Wissenschaften angewiesen. Diese Anweisung auf das
Die Rechtswissenschaft das Analogen der Mathematik. 63
Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in
Kants System.
Das Analogon zur Mathematik bildet die Rechts-
wissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geistes-
wissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre
Mathematik bezeichnet werden.
Wenn dieser Gedanke seine methodische Richtigkeit be-
währt, so erötTnet sich der Ethik eine sichere Grundlage für die
Ermittelung und Begründung des BegritTs vom Menschen, welche
ihr Problem ist. Alsdann wird das Gebiet des Menschen von
der Unsicherheit und Unklarheit befreit, mit denen dasselbe be-
haftet sein muss, wenn es vorwiegend auf die Religion be-
zogen wird, in welcher das Verhältnis des Menschen zu einem
andern grundlegenden Begriffe aufgebaut wird. Hier dagegen
handelt es sich nur um den Menschen. Denn dass es sich auch
um Menschen handelt, das bildet keinen Widerspruch und
keinen Gegensatz; vielmehr fordert der Begriff des Menschen die
Menschen.
Allgemein wird darin die Schwäche der Ethik gesehen,
dass sie sich nicht auf den Rückhalt einer Wissenschaft berufen
kann. Daher hat der Ausdruck der moralischen Gewissheit
einen geringschätzigen Sinn. Man nimmt deshalb, wenn man
nicht grundsätzlich auf die Religion sich zurückzieht, zur Psycho-
logie eines moralischen Sinnes oder zur Aesthetik eines
moralischen Gefühls seine Zuflucht; auf die Wissenschaft
resigniert man. Allenfalls ist man froh, sich hinterher zu einiger
Bestätigung ethischer Annahmen ihrer Zustimmung versichern
zu können. Selbst Kant, der das der Mathematik entsprechende
Analogon eines Faktums suchte und forderte, hat es nicht in
einer Wissenschaft gefunden. Er hielt die Rechtslehre von der
Sittenlehre getrennt, und stellte für beide besondere metaphysische
Anfangsgründe auf.
Das Letztere mag immerhin nicht unzweckmässig sein, sofern
die Rechtsphilosophie als eine Disciplin mit der vollen Entfaltung
und Entwickelung der Rechtsprobleme und Rechtsbegriffe sich
zu befassen hat. Wenn aber der systematische Zusammenhang
der Rechtsphilosophie nicht auf die Logik beschränkt werden
darf, wenn sie vielmehr auf Schritt und Tritt mit den Problemen
h4 Das Naturrecht.
und Begriffen der Ethik zusammenstösst, so begreift es sich^
dass die Rechtsphilosophie auf dem Grunde der Ethik mehr
oder weniger bewusst errichtet und behauptet wird. Ist es
doch der alte Zusammenhang des positiven Rechts mit
dem Naturrecht, der immer wieder durchbricht. Und wie
sehr man das Naturrecht bestreiten, oder gar durch den Ersatz
eines richtigen Rechts ersetzen zu können vermeint, so wird
durch solches Anstürmen das Vernunftrecht, welches dem Ge-
danken des Naturrechts beiwohnt, wobei von dessen Ausführung
ganz abgesehen werden darf, nur desto inniger bekräftigt. Der
sittliche, man möchte sagen, der heilige Wert dieses weltge-
schichtlichen Princips wird gerade durch alle jene Opposition
nur um so kräftiger einleuchtend und eindringlich gemacht.
Der Gedanke des Naturrechts beruht auf dem altgriechischen
Urgedanken der ungeschriebenen Gesetze (ä^patpos vd|i.oi). Wie
früh man auch zur schriftlichen Festsetzung von Grundgesetzen
geschritten ist, so hat man doch das Bedürfnis gefühlt,,
von allem Schriftlichen eine Urform der Gesetzlichkeit abzu-
sondern, und diese zur Grundlage aller Gesetzlichkeit zu machen.
Es muss zugestanden werden, dass dieser Gedanke mit der grie-
chischen Religion zusammenhängt; aber es ist nicht die Religion
des Kultus, sondern die der Sittlichkeit, welche in diesen primi-
tiven Zeiten mit den Anschauungen über Staat und Recht zu-
sammenwirkt.
Bald halte dieses eigene Motiv der griechischen Sittlichkeit
unmittelbaren praktischen Nutzen zu stiften. Die Sophistik brach
herein, und sie machte aus dem Nomos, der bei Pindar der
König hiess, den Tyrannen der Konvention und der Mode. Da
vertrat das ungeschriebene Gesetz die ewige Grundlage der Natur
und der Wahrheit. Es macht dem Euripides keine Ehre, dass
auch ihm die ungeschriebenen Gesetze nicht sympathisch sind.
Seit Sokrates ging die Philosophie ihre eigenen Wege,
jenen Ursinn der griechischen Sittlichkeit genauer zu bestimmen.
Je mehr aber der klassische Geist der Philosophie verfiel, desta
mehr klammerte man sich wieder an das Zauberwort der Natur^
in welchem damals der Gegensatz ausgesprochen wurde gegen
die Satzung der l^ebereinkunft und der Willkür. So wurde in
der Stoa die Natur zu einem Terminus für die Bezeichnung
Das Uebersinnliche. 55
Der Wert der aesthetischen Gefühle liegt in der eigenen
Reinheit und Selbständigkeit der Werke der Genies. Die Kunst
des Genies aber geht ihre eigenen Wege, wie sehr sie immer
mit der Religion sich zu verbinden scheinen mag. Die wahre
Kunst wird niemals der Religion dienstbar; sie bemächtigt sich
vielmehr nur des religiösen StolTs, wie des mythischen überhaupt,
um ihn mit ihren eigenen Mitteln zu ihren eigenen Zwecken
und zu ihrem eigenen Inhalt zu gestalten. Die Kunst wird nicht
von der Religion abhängig, wohl aber umgekehrt die Religion
von der Kunst. Dadurch aber wächst die Gefahr der Religion.
Denn sie befestigt sich dadurch im Mythos, von dem sie durch
die Freiheit der Poesie scheinbar abgelöst wird. In der Kunst
aber tritt sie in einen neuen Zauber ein, der sie für das Sitt-
liche befangen macht.
Das ist ja die grosse Macht der Kunst, dass sie ihren (iC-
bilden die Illusion der Wirklichkeit verleiht. Da nun aber die
Religion, w*ie sie sich mit der Kunst im Kultus verbindet, das
Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu künstlerischer Dar-
stellung bringt, so zieht sie das Uebersinnliche in die
Reize der aesthetischen Sinnlichkeit hinein, und so begibt
sie sich, wie freiwillig, in die Urzeit des Mythos zurück. Die
Kunst gibt ihr das seelische Geleit. Der Abstand der Religion
von der Ethik, sofern diese auf der Verbindung des praktischen
und des theoretischen Interesses berufit, wird dadurch weiter
und gespannter.
Indessen entsteht aus der innerlichen Verbindung von
Religion und Kunst noch eine andere Gefahr, welche die Religion
für die Ethik bildet. Die Kunst entspricht einer eigenen Richtung
des reinen, erzeugenden Bewusstseins. Daher bildet die Aesthetik
ein eigenes Glied des philosophischen Systems. Diese Kligenart
lässt sich wiederum nicht ausschliesslich, nicht methodisch durch
Psychologie entwickeln. Vom psychologischen Gesichtspunkte
aus würde man denken können, die Kunst gehe aus einem Kunst-
triebe hervor, wie er sich auch bei den Tieren schon zeige.
Daher scheint unser deutsches Wort so bezeichnend: Kunst ist
Können; das Vermögen zu schaffen und zu bilden. Bilder
zu entwerfen und zu gestalten, welche im Scheine der Wirk-
lichkeit mit der Natur wetteifern.
66 Ethik und Rechtswissenschaft.
Es hat sich nun aus dieser Verbindung, welche insbesondere
bei Hugo zwischen dem Naturrecht und der Kantischen Philo-
sophie sich vollzog, die historische Rechtsschule e^ltwickelt,
die an und für sich daher keineswegs einen Widerspruch, oder
auch nur einen Gegensatz gegen die naturrechtliche Ansicht bildet.
Wenn man die Rechtswissenschaft nicht borniert auf die Tech-
nik der Auslegung bestehender Gesetze; wenn man auch die
Wissenschaft der Gesetzgebung in ihr anerkennt, so wird
man niemals den Geist verleugnen dürfen, der in dem alten
Worte des Naturrechts einen Ausdruck gefunden hat. Es kann
keine Rechtswissenschaft sich ausdenken, auf ihre letzten Gründe
sich zurückdenken lassen, die den Zusammenhang mit der Ethik
verschmäht. Das Recht des Rechtes ist das Naturrecht
oder die Ethik des Rechts.
Indessen besinnen wir uns, wie wir auf die bedenkliche
Frage des Naturrechts hier zu sprechen kamen; es geschah in
dem Gedankengange, dass die Ethik überall von aller Wissen-
schaft verlassen schien; dass Kant selbst das Naturrecht von
der Ethik abtrennte. Wir wollen nun aber nicht sowohl von
dem Naturrecht und der Rechtsphilosophie hier ausgehen, sondern
von der Ethik. Die Ethik aber soll uns nicht zum Naturrecht
zurückführen, sondern zur positiven Rechtswissenschaft.
Ob dabei und darin Rechtsphilosophie, und somit eine
neue Art von Naturrecht entstehen kann, das mag für jetzt auf
sich beruhen. Hier gilt es, dies ins Auge zu fassen, dass durch
die Hinweisung der Ethik auf die Rechtswissenschaft das ge-
suchte Analogon eines theoretischen Faktums gefunden wird.
So wird die Ethik von ihrer exklusiven Bezogenheit auf Religion,
Psychologie und auf inexakte Sammel Wissenschaften freigemacht;
und die Möglichkeit einer erkenntnissmässigen Gewissheit wächst
ihr damit zu. Die moralische Gewissheit erlangt theoretischen Wert.
Es kann für einen modernen, sozial-ethisch gestimmten
Geist keinem Zweifel unterliegen, dass die Verbindung der
Ethik mit der Rechtswissenschaft förderlich und notwendig
ist. Dass dabei die sogenannten übersinnlichen Interessen zu
kurz kämen und geschädigt würden, dieses Bedenken wird nicht
ernstlich dagegen aufkommen können. Das wissenschaftlich
Ernsthafte an diesen Fragen dürfte in dieser Gesellschaft der
Religion und Politik. 57
analog der Natur, die Objekte der Erkenntniss zu bilden haben;
der ethischen, wie die Tatsachen der Natur die Objekte der
theoretischen Erkenntniss bilden.
Bevor wir diesen Gedanken weiter verfolgen, wollen wir
die Betrachtung, welche die Religion betraf, nunmehr fortsetzen.
Jetzt haben wir die neue politische Schöpfung kennen gelernt,
mit welcher die Religion von Anfang an Verbindungen einzu-
gehen sucht, die für Beide, für die Religion, wie für den Staat,
unablässige Kollisionen und Konflikte mit sich führt; schwere,
bittere Kämpfe, an denen bald die Religion, bald der Staat zu
verbluten droht. An dieser Stelle soll jedoch nur die Schwierig-
keit erwogen werden, welche aus jener Verbindung der Re-
ligion mit der Politik für die Ethik entsteht.
Von Anfang an hatten wir gesehen, dass es sich in der
Ethik um den Begrifl" des Menschen handelt; dass für diesen
Begriff aber es ankomme auf die richtige Correlation zu dem
Begritfe des Individuums. Die Mehrheit, als Besonderheit, bildet
nicht das entsprechende Correlat; vielmehr nur die Allheit. Es
niuss nun darauf ankommen, welche der konkurrierenden
Mächte, die Religion oder der Staat, die richtige Allheit zu liefern
vermag.
Dem oberflächlichen Scheine und dem lauten Ansprüche
nach will die Religion alle Besonderheit aufheben und alle
Menschen in eine Allheit vereinigen. Der Staat dahingegen
scheint dieser Allheit Widerstand zu leisten, indem er die Viel-
heit der Völker in der Fartikularität der Staaten stabiliert.
lndes.sen schränkt der Staatsbegriff diesen Fartikularismus durch
ilas Völkerrecht und durch den Staatenbund wohl oder übel
ein. So korrigiert sich die scheinbar unumgängliche Besonder-
heit in dem Plan einer Allheit, der mit der Methodik des Rechts
entworfen wird. Man denke sich dementsprechend einen Bund
der Religionen. Der Gedanke scheint einer satyrischen Utopie
anzugehören.
Warum aber ist eine solche mit der eigenen Methodik der
Religion herbeizuführende Verbindung der Religionen ein unmög-
licher Gedanke, an dessen Stelle nur die Toleranz und der-
gleichen Schlafmittel treten können? Weil die Religion eben den
Anspruch auf Wissen erhebt; weil sie das Wissen vom Menschen
68 Der Wille und die Handlung.
strittig sein; das Problem des Willens muss aufrecht bleiben,
oder man müsste dem Begriffe der Obligation entsagen. Die
Verpflichtung geht auf den Willen.
Der Wille ist auch mehr als bloss Gesinnung, was
freilich Voluntas auch ist. Die Gesinnung ist ein Inneres, das
Innere überhaupt. Damit ist ein tiefes Moment des Willens ge-
troffen; aber seine eigentliche Quelle ist dadurch nicht be-
leuchtet. Sein Weg, seine Laufbahn wird, zwar nicht klar und
unzweideutig, aber in einer gewissen Richtung durch dieses
fromme Wort allerdings bezeichnet; indessen die eigentliche
Triebkraft des Willens wird durch den Hinweis auf das Innere
dennoch gehemmt. Der Wille geht auf das Aeussere, und
nur in dieser Selbstentausserung vermag er sich zu entfalten und
zu vollziehen. Der Wille muss Handlung werden.
Handlung ist das Grundproblem der Ethik. In der
Handlung ofienbart sich der Mensch. Die Handlung ist das
Leben des sittlichen Menschen. Und die Handlung, wir sahen
es schon, ist gleichsam zum Ausdruck des Rechts geworden.
Die Rechtshandlung wird beglaubigt durch die Prozesshandlung.
In allem Recht, im Privatrecht ebenso, wie im Strafrecht, bildet
der Begriff der Handlung die durchgängige Voraussetzung. Sie
beruht freilich auf der des Willens, aber sie fällt nicht mit ihr
zusammen.
Die eigentliche Schwierigkeit in dem Problem der Hand-
lung besteht in der Möglichkeit ihrer Zusammenfassung
aus den einzelnen Momenten, aus denen sie sich zusammen-
setzt. Die Frage ist eben, ob sie sich aus solchen einzelnen Bei-
trägen zusammensetzen lässt, ob sie nicht vielmehr in diese zer-
fallt. Es gibt doch keine Handlung, schon im gewöhnlichen
Sinne, geschweige in dem der Rechtsgeschäfte, welche nicht aus
einer schier unübersehbaren Menge von Ansätzen und Fortsätzen
bestände. Es gibt doch keine Handlung, welche blitzartig auf-
tauchte und verliefe. £iner solchen scheinbaren Handlung wird
vielmehr der Charakter einer unwillkürlichen, einer Reflex-
bewegung zuerteilt. Man kann daher sagen, das ganze Problem
der Psychologie komme hier zur Erscheinung.
In aller Psychologie ist eigentlich nichts Anderes die
Frage als: wie Einheit begreiflich werde bei und an dieser
Die Einheit der Handlung 69
wirren, so muss es scheinen, Mannichfaltigkeit von Vorgängen
und Elementen; wie die Einheit des menschlichen Bewusstseins
dabei möglich werde. Sie also ist überall das eigentliche Pro-
blem. So ist sie es vornehmlich auch in der Handlung. Bliebe
die Bew^egung in diesen atomistischen Ansätzen hängen, so
könnte sie nimmermehr zur Handlung sich ausweiten und sich
verdichten. Die Ausdehnung ist zunächst notwendig; aber sie
darf nicht ein Hangen und Schweben bleiben; sie muss Festig-
keit und Halt gewinnen. Diesen Halt und Zusammenhang kann
nur ein Begriff geben: der alte Grundbegriff der Einheit. Die
Handlung muss Einheit der Handlung werden. Die Ein-
heit der Handlung macht den Begriff der Handlung aus.
Mit dem Begriffe der Einheit eröffnet sich uns sogleich der
Zusammenhang der Rechtswissenschaft nicht allein mit
der Ethik, sondern auch mit der Logik. Nur die Logik kann
lehren, was die Einheit zu bedeuten hat; dass sie vor Allem nicht
mit der Einzelheit verwechselt werden darf. Und so zeigt sich
an diesem fundamentalsten Begriffe die Voraussetzung, welche
die Logik für die Ethik bildet. Hier kommt es uns nun
auf die Einsicht an, dass die Einheit der Handlung eine Voraus-
setzung des Rechts bildet.
Wir werden später diese Einheit der Handlung eingehend
zu erörtern haben; hier sei nur darauf hingewiesen, dass von
dieser Einheit der Handlung alle die anderen Einheiten abhängen,
mit denen die Rechtswissenschaft operieren muss. Da ist vor
Allem die Einheit des Rechtsobjekts, welche das Rechts-
geschäft voraussetzt. Wie alle Objekte, als Körper der Natur-
wissenschaften, in Relationen sich vollziehen und in ihnen be-
stehen, so ist dies für die Rechtsobjekte unmittelbar erkennbar.
In den Rechtsgeschäften, welche in den Verhältnissen des Ver-
kehrs und der Verträge geschlossen werden, wird das Rechts-
objekt constituiert. Die Einheit, welche der Begriff dieses Objekts
erfordert, besteht in dem Relations-Charakter dieser Obligationen.
Die Einheit der Handlung vollzieht und begründet die
Einheit des Objekts.
Ebenso geht aber auch die Einheit des Rechtssubjektes
aus der Einheit der Handlung hervor, und hat in ihr ihren
tiefsten Grund. Es steht vor Allem ausser Zweifel, dass mehr
70 Die Einheit des Rechtssubjektes.
noch als das Rechtsobjekt das Rechtssubjekt das eigentliche
Problem der Rechtswissenschaft bildet. Es ist für alle Rechts-
geschäfte nicht nur der Inhalt, auf den sie alle hinzielen; es ist
zugleich der Quellgrund, aus dem sie alle herfliessen und her-
geleitet werden müssen. Planmässiges, zielbewusstes Denken hat
die Handlung, hat das Rechtsgeschäft zur Voraussetzung. Diese
Voraussetzung beschränkt sich nicht auf das Problem der Hand-
lung; sie erstreckt sich auf den Träger, auf den Urheber dieser
Handlung.
Und wenn auch nur der Träger in Frage käme, in dem
alle Fäden des Rechtsgeschäfts zusammenlaufen, so wäre das
Subjekt schon unerlässlich; wieviel mehr, da es sich in der Tat
in eminenten Fällen um den Urheber handelt. Macht doch das
Recht sogar noch besondere materielle Erschwerungen für den
Begriff des Rechtssubjektes, indem es z. B. den Sklaven als
Menschen zwar anerkennt, nicht aber als Person. Und die
Person erst bildet das Rechtssubjekt. So unverkennbar ist
es, dass das Recht in einem strengen und praegnanten Sinne den
Begriff des Rechtssubjekts fordert. Und zugleich ist schon aus
diesem Beispiel ersichtlich, dass es die Handlung sei, von welcher
das Rechtssubjekt abgeleitet, und mit der es verknüpft wird.
Das Rechtssubjekt muss Einheit des Subjekts sein.
Es ist kein Subjekt ohne Einheit denkbar. Man könnte sich vor-
stellen, dass es dem Objekt an Einheit gebräche; Subjekt und
Einheit aber decken sich vollständig. Nun haben wir schon
überlegt, wie schwer es der Psychologie werden mag, aus der
übergrossen Mannichfaltigkeit der psychischen Vorgänge die Ein-
heit des Bewusstseins, und in ihr die Einheit des Subjekts fest-
zustellen. Und doch ist diese das letzte Anliegen der Ethik.
Wäre es da nicht ein grosser methodischer Vorteil, wenn die
Ethik für dieses ihr centrales Problem nicht lediglich auf die
Psychologie angewiesen wäre, und allenfalls noch auf die Theologie
für die Abnormität des Bewusstseins der Sünde, wie auf eine
ethische Pathologie; wenn sie vielmehr für alle Normalität
und Abnormität das Ich von der Einheit des Rechts-
subjekts ableiten könnte.
Nun stellt sich hier aber gerade eine schwere Bedenklich-
keit entgegen. Das Recht fordert zwar die Einheit des Subjekts,
Die Associationen. 71
and es muss ihr gelingen, für alle Rechtsgeschäfte dieselbe durch-
zusetzen; anderenfalls würde der Begriff des Rechtsgeschäfts hin-
fällig. Eine Rechtshandlung lässt sich nicht in Teile zerbrechen;
und das Rechtssubjekt lässt sich nicht in zwei Inhaber spalten.
Nun besteht aber nicht bloss ein grosser und ein wichtiger, sondern
ein fundamentaler und epochemachender Teil der Rechtsgeschäfte
in den Associationen. Wer ist in diesen Verbindungen, welche
in vielartige rechtliche Bedeutungen auseinandergehen, wer ist in
den Mehrheiten, in denen jede dieser Verbindungen besteht, die
Einheit des Subjekts? Scheint es nicht, als ob die Einheit dabei
in die Brüche gehen müsste; als ob das Ich nicht nur zu einem
pathologischen Doppel-Ich, sondern anscheinend normalerweise
in ein Quoten-Ich verwandelt würde? Kann denn aber ein
Sammel-Ich der Einheit des Subjekts gerecht werden und ent-
sprechen?
Hier zeigt sich nun der entscheidende Wert, den wir in der
Verbindung der Ethik mit der Rechtswissenschaft zu erkennen
haben. Wir sind ja von vornherein darauf bedacht gewesen,
die Correlation von Individuum und Allheit all das eigentliche
Problem der Ethik zu erkennen. Das ethische Subjekt muss
also zugleich Allheit und Individuum sein. Der Mensch der
Ethik darf nicht nur als Individuum gelten. So mag ihn die
Religion nehmen, die ihn mit einem auswärtigen Begriffe ver-
bindet. Wenn anders die Ethik dagegen jeden ihrer Methodik
fremden Begriff zu vermeiden hat, um den Begriff des Menschen
zu finden, so ist sie von vornherein auf die Mehrheit hingewiesen,
in welcher allerwärts der Mensch sich darstellt.
Es ist nur Schein, dass er lediglich Individuum wäre; wenn
er es ist, und so weit er es ist, kann er es nur darin und da-
durch sein, dass das Individuum vielmehr die Individuen sind.
Die Mehrheit kann von ihm nicht hinweggedacht werden. Es
kommt nur darauf an, dass die Mehrheit nicht Mehrheit, näm-
lich nicht Besonderheit bleibe, sondern dass sie Allheit werde.
Wo gibt es denn aber ein Beispiel für diese Allheit in
der geschichtlichen Menschenwelt? Ist man nicht auf die
Idee der Menschheit dabei verwiesen? Und kann man sich nicht
noch glücklich dabei schätzen, dass die Einheit des Menschen-
geschlechts durch die Rassenphilosophie zwar verhasst^ aber
72 Die Gemeinschaft.
keineswegs hinfallig und zu nichte gemacht wird? Muss man
sich aber wirklich mit der Idee der Menschheit, als dem Bei-
spiel und nicht lediglich dem Vorbild der^ Allheit begnügen?
Seit alten Zeilen spielt der Begriff der Gemeinschaft eine
grosse Rolle in allem sittlichen und religiösen Denken. Gemein-
schaft (xoivcDvia) ist ein wichtiger logischer Begriff in Piatons
Ideenlehre. Und ehe die Religion zur Kirche wurde, wurde sie
ja als Versammlung die Gemeinde. Die Gemeinde der
Betenden und das, Wort Gottes Hörenden war die Vorstufe zur
Kirche der Gläubigen. So liegt für die Religion die Gemein-
schaft im Begriffe der Gemeinde. Man könnte daher annehmen,
dass die Ethik für die Allheit in dieser Gemeinschaft der Glau-
bensgemeinde ihr geeignetes Beispiel besässe. Indessen haben
unsere früheren Erwägungen uns schon hiergegen bedenklich
gemacht. Der kirchlichen Gemeinschaft steckt der Sonderbund
im Blute. Das gerade ist das böse Beispiel, vor dem die Ethik
sich zu hüten hat. Und neuerdings hat ein juristisches Buc^ es
zum Erschrecken klargestellt, was dabei herauskommt, weÄn
man die Gemeinschaft, von biblischen Zitaten geleitet, in ein
Gefüge von immer nur relativen Gemeinschaften auflöst. Solche
relative Sonder -Gemeinschaften sind eben nichts Anderes als
Besonderheiten. Aus ihnen kann nimmermehr eine Allheit
werden.
Dahingegen führen uns die juristischen Associationen
auf den richtigen Weg. Schon geschichtlich haben sie ihre sitt-
liche Mission bewährt, und noch keineswegs vollendet. Die So-
cietas ist zunächst zwar ein Kompagnie-Geschäft; aber ihi* Titel
weist auf die Societas und Socialitas des Menschengeschlechts
hin. Es hängt Brüderlichkeit (fraternitasj an ihr, das spricht
ein altes Wort des römischen Rechts aus. Und so ist die So-
cietas nicht sowohl zur Gemeinschaft geworden in der neuern
Zeit; es ist bedeutsam, dass dieses Wort nicht gewählt wurde;
die Community ist dem administrativen Gemeinwesen vor-
behalten worden; aber die Gesellschaft hat im Sturmlauf der
Revolution, und mehr noch im langsamen Lauf der geschicht-
lichen Hören die sittliche Erziehung des Menschengeschlechts
auf sich genommen. Unter der Devise der sozialen Idee
wird die Reformation der Staaten angebahnt. Vorauf-
Die Allheit und die juristische Person. 78
gegangen aber ist ihr und geht ihr die juristische Methodik und
Technik im Begriffe der Societas.
Wir werden diesen wichtigen Punkt eingehend zu bestimmen
und zu beleuchten haben. Hier sei es genug, darauf hinweisen
zu können, dass in der juristischen Association aller Art es doch
mehrere, viele, ja bisweilen nicht abzählbar viele Subjekte sind,
welche an dem Rechtsgeschäfte teilnehmen und an dem Rechts-
institute teilhaben. So könnte es scheinen, dass dabei die Ein-
heit des Rechtssubjektes unmöglich würde, ja als ob sie geradezu
ausgeschlossen werden sollte; was freilich dem Begriffe des
Rechts und der Rechtshandlung widersprechen würde. Es stellt
sich demgemäss vielmehr heraus, dass auf Grund dieser
Mehrheit die wahrhafte Einheit des Rechtssubjektes zu stände
kommt.
Der scheinbare Widerspruch wird dadurch gehoben, dass
diese Mehrheit nicht Mehrheit, sondern Allheit ist. Allheit aber
bildet keinen Widerspruch zur Einheit, sondern zur Einzelheit,
welche eben der Mehrheit angehört. Allheit ist selbst höchste
Einheit wie solche von der Ethik gefordert wird. Das sittliche
Individuum soll nicht eine partikulare Einzelheit bleiben; sondern
kraft der Allheit, in die es eingegliedert wird, zur Einheit des
sittlichen Individuums erhoben werden.
Die juristische Person wird als moralische Person
bezeichnet. In diesem Worte soll freilich nur die nicht natürliche
Wirklichkeit der Personen zum Ausdruck kommen. Lehrreich
ist es aber, dass der Begriff der juristischen Person erst spät in
der Entwickclung der Rechtswissenschaft auftritt. Auch ist es
anerkannt, dass seine Ausbildung im neueren Rechte, über die
frommen Stiftungen des römischen Rechts hinaus, mit der mo-
dernen Entwickelung der Sittlichkeit und so wohl auch der Ethik
zusammenhängt. Auch das ist lehrreich, dass die Familie
niemals als juristische Person definiert wird, obwohl sie doch
von allem sittlichen Nimbus umgeben ist. Sollte etwa gerade
ihre Natürlichkeit die Fiktion der juristischen Person ver-
scheucht haben?
Wir werden später im Zusammenhange mit dem Begriffe
des Volks diese Frage zu erörtern haben. Hier sei nur her-
vorgehoben, dass gerade eine natürliche Corporation, die zur
74 Die Allheit und der Staat.
Einheit eines menschlichen Wesens und zur Personifikation so
viele scheinbar sittliche Veranlassung bietet, dennoch diese
juristische Definition nicht erfahren hat. Rein abstrakte Ver-
hältnisse, Genossenscbaftsbildungen dagegen haben diese
Personifikation herausgefordert. Wie sehr diese freilich auch
Besonderheiten des Erwerbslebens darstellen, so beruhen sie
doch auf der logischen Zusammenfassung der Allheit, wenn
anders ihnen die Konstituierung eines Rechtssubjektes gelingen
soll.
Die Fiktion, wie sie genannt wird, ist vielmehr logische
Fixierung. Die juristische Person entfernt sich von dem sinn-
lichen Vorurteil der Einzelheit und ihrem Charakter der Mehr-
heit; sie constituicrt sich auf Grund der Allheit als Einheit des
Rechtssubjektes. Dieses Beispiel, welches die Rechtswissenschaft
der Ethik darreicht, ist mehr als ein Beispiel; es ist ein Vor-
bild, wie solches anderwärts in keiner Form des Altruismus
gefunden werden kann. Wir werden das später genau zu prüfen
haben.
Endlich hat das Recht, als Staatsrecht, im BegrilTe des
Staates die Einheit einer Allheit zustande gebracht, welche als
das unmittelbare Vorbild der ethischen Persönlichkeit gelten
muss. Wir waren davon ausgegangen, dass Plato die Seele des
Menschen gleichsam in der Seele des Staates der Untersuchung dar-
bietet. Die Staatsseele wird ihm eine neue Art von Weltseele.
Diesen grossen Gedanken haben die Zeiten und Weltalter in sich
aufgenommen, und sie haben ihm je nach den verschiedenen
Weltlagen neue Bedeutungen abgewonnen.
Das Grundmotiv, das überall den Gärungsstoff bildete,
das war der paradoxe Gedanke: der Mensch ist nicht das, was
er in seinem sinnlichen Selbstgefühle zu sein glaubt; in seinem
Staate vielmehr atmet erst seine individuelle Seele auf. Das
ist die grosse Paradoxie, auf die man wohl den heiligen Spruch
übertragen kann: Erfüll' davon Dein Herz, so gross es ist. Man
darf vielleicht hinzufügen: dass gross es werde. Dies ist der
Weg und dies ist das Mittel, das Selbst zu erweitern, und den
BegrifT des sittlichen Menschen in ihm zu erzeugen.
Wir haben die Antinomie von Gesellschaft und Staat
schon berührt, indem wir allerdings sahen, dass der BegrifT der
Das Staatsrecht und die Ethik. 75
Gesellschaft der ungeschichtlichen und der unsittlichen Vor-
stellung eines in seinen jeweiligen Rechten erstarrten Staates mit
der sittlichen Urkraft der Societas entgegentritt. Aber in dieser
Wirkung liegt immer nur eine Bewegung, eine notwendige
Richtung der Bewegung; niemals aber wird durch sie Ruhe und
Gleichgewicht bestimmt. Ohne die Voraussetzung eines solchen
wie immer idealen Gleichgewichts gäbe es nicht nur keine
dauernde und gesicherte Vereinigung von Menschen, sondern
auch nicht einmal die Einheit des menschlichen Subjektes.
Daher muss die Gesellschaft, so wohltätig und so unersetzlich
ihre drangvolle und machtvolle Einwirkung ist, dennoch über
sich selbst hinausgehen; sich selbst aufheben und auf den Staat
zusteuern: in dem sie das Gleichgewicht voraussetzt, das sie für
den Sinn ihrer Bewegungen voraussetzen muss. Wir können es
logisch einfacher und vielleicht noch schärfer ausdrücken, indem
wir die Gesellschaft als die Besonderheit, den Staat aber
als die Allheit erkennen, und somit erst als Einheit.
Wir werden später das Verhältniss zu erörtern haben, in
welchem die Begriffe Volk und Staat zu einander stehen. Hier
wollen wir nur darauf achten, dass wir die Einheit des Menschen
nicht ableiten wollen aus der etwaigen Einheit seines Volks,
sondern aus der notwendigen Einheit des Staates, dem der sitt-
liche Mensch angehören muss. Das Volk ist von dem logischen
Blute der Familie; es stellt die Menschen in ihrer sinnlichen
Natürlichkeit dar. Der Staat dagegen ist ein juristischer Begriff;
der Begrift einer juristischen Person; das Musterbeispiel dieses
Begriffes für den Begriff des sittlichen Menschen. In dieser
Ausbildung des Rechts zum Staatsrechte liegt daher die
eminente methodische Bedeutung der Rechtswissen-
schaft für die Ethik, mit welcher weder die Psychologie»
noch die Geschichte und die Sociologie, noch auch die Religion
in der Praecision und Praegnanz der Begriffe auch nur entfernt
sich vergleichen lassen könnten.
Was ist es denn im letztenGrunde, worauf Alles in der
Ethik ankommt? Von tröstlichen Hoffnungen und von Aus-
schmückungen und Deutungen mythologischer Einbildungen
dürfen wir füglich absehen. Nicht darum darf es der Ethik zu
tun sein, was man glauben dürfe, um hoffen und wünschen,
76 Die Einheit des Menschen.
oder gar um fürchten und zagen zu können; sondern darum
allein darf es sich handeln, was ich zu tun habe, auf dass mein
Tun und Treiben den Wert einer menschlichen Handlung erlange.
Der Begriff der Handlung besteht in der Einheit der Handlung.
Die Einheit der Handlung begründet die Einheit des Menschen.
In der Einheit der Handlung vollzieht sich und besteht
die Einheit des Menschen."
Die Einheit des Menschen, wir können sie als das letzte
Ziel, als den eigentlichen Gegenstand der Ethik bezeichnen. Der
Mensch darf nicht zerrissen und zerfahren bleiben in seinem Tun
und Streben. f> darf sich nicht in jedem Augenblick in ein
anderes Wesen verwandeln. Nicht er würde sich dann ver-
wandeln; sondern die Dinge um ihn, vielleicht auch in ihm
hätten ihn verwandelt. Auch das ist noch ungenau; denn er
wird gar nicht verwandelt, weil er noch gar nicht da ist. So
lange er in einer Mehrheit schwebt, welche aus Einwirkungen
auf ihn und Gegenwirkungen, die von der Mehrheit, die in ihm
gelagert ist, ausgehen, ist sein Selbst noch gar nicht vorhanden.
Erst die Einheit kann es ihm geben; kann ihn zum sittlichen
Wesen machen.
Und diese Einheit, das erkennen wir jetzt, kann erst in der
Allheit, wie der Staat sie darstellt, ihm gesichert werden; auch
methodisch ist sie in dieser Allheit vorzugsweise zu begründen.
Das war schon der Platonische Gedanke. Nicht in der sinnlichen
Einzelheit und Besonderheit liegt die Einheit des Menschen,
sondern in einer abstrakten Einheit, die dennoch die gediegenste
Wirklichkeit zur Erzeugung bringt: in der Einheit der
staatlichen Allheit, in der Einheit der staatlichen
Sittlichkeit.
Dem Staate wird nicht nur Macht zugesproclien, und nicht
nur Handlungsfähigkeit, sondern auch Wille. Dieser Wille kann
nur in einer umgekehrten Metapher als Trieb gedacht werden.
Die Ethik soll hier als Ethik des reinen Willens errichtet
und verfasst werden. Den Begrifl des Reinen kennen wir wohl
von der Logik her, und so dürften wir ihn hier voraussetzen.
Aber die blosse Anw^endung des BegriflFs auf den Willen muss
hier unterbleiben, weil wir den Begriff des Willens zwar erwogen,
aber keineswegs schon zur Bestimmung gebracht haben. Daher
Der reine Willle. 77
<larf die Einleitung* hier abbrechen. Die Darstellung
selbst wird den Begriff des reinen Willens als den
Inhalt der Ethik zu entfalten haben.
Nur dem Vorurteile konnte die Einleitung noch begegnen,
als ob der reine Wille nicht in gleicher Weise für den ge-
(liegensten Inhalt der Ethik die Disposition darböte, wie der Be-
griff der reinen Erkenntniss für den der Naturwissenschaften.
Indem der reine Wille auf die Rechtswissenschaft und auf das
Staatsrecht bezogen wird, so ist jedes Bedenken, welches nach
der Seite jener Skepsis hinzielt, von vornherein beseitigt. Auf
diese grundsatzliche Erledigung muss es aber bei dem Problem
der Ethik vor Allem ankommen.
Denn Nichts schädigt das Problem der Ethik tiefer und
innerlicher als der Verdacht der Subjektivität ihres Inhalts.
Ein matter Schein davon fallt ja allerdings auf die grundlegende
Unterscheidung von Sein und Sollen, wie wir dies betrachtet
haben. Das Sollen muss als reines Wollen den gesicherten Wert
des Seins behaupten dürfen. Jeder Zweifel daran wäre nicht nur
falscher Idealismus, sondern Untergrabung und Vereitelung des
Idealismus. Die Idee ist nicht Hirngespinnst, sondern frucht-
barer und unfehlbarer Leitbegriff der Weltgeschichte. Der reine
Wille wird zum methodischen Mittel desjenigen Inhalts werden
müssen, den die Idee der Sittlichkeit, den der ethische Idealismus
zu verwirklichen hat. Der reine Wille wMrd der Wille des
geschichtlichen Seins, der geschichtlichen Wirklich-
keit werden. Und in dieser geschichtlichen Wirklichkeit wird
er den Begriff des Menschen zur Erscheinung bringen.
Es wird sich zeigen, dass der Gegensatz zwischen Staat
und Menschheit nur ein scheinbarer ist. Indem wir die Ein-
heit des Menschen in der Einheit des Staats zu begründen
suchen, reissen wir nicht etwa den Menschen von der Mensch-
heit los; vielmehr bemächtigen wir dadurch uns des rechten
Mittels, den Gegensatz zwischen den Einzelmenschen und der
universellen Menschheit zu einer wahrhaften Aufhebung zu
bringen. Und die Menschheit wird erst auf diesem methodischen
Wege eine ethische Idee; während sie sonst ein Gedanke des
frommen Glaubens bleibt, der alsdann im günstigsten Falle auf
sein Widerspiel sich stützt, nämlich auf einen naturalistischen
78 Staat und Menschheit
BegrifT; denn mehr als dies ist doch das teleologische Prinzip
von der Einheit des Menschengeschlechts nicht.
Diese Art von Begründung liefe al)er schliesslich auf Das-
seihe hinaus, worauf der Staat reduziert wird, wenn er auf die
Einheit des Volkes begründet wird. Der reine Wille lenkt von
diesen natürlichen Illustrationen ab; er sucht die begrifllichen
(Konstruktionen zu venverten, in welchen die RechLswissensc^haft
die Einheit der juristisi*ben Person zu constituieren und zu bi*-
gründen vermag.
Erstes Kapitel.
Das Grundgesetz der Wahrheit
Die bisherigen Erwägungen bezogen sich auf die Eigenart
und die Selbständigkeit der Ethik gegenüber den Wissenschaften,
die ihr etwa ihr Sonderrecht streitig machen könnten. Auch
unter den Disziplinen der Philosophie wurde ein solcher Anspruch,
den die Psychologie erheben könnte, berücksichtigt und zurück-
gewiesen. Nur eine Art von Bedingtheit blieb gewahrt und wurde
nachdrücklich behauptet: das Verhältnis der Ethik zur Logik.
Die Selbständigkeit der Ethik den anderen Wissenschaften gegen-
über wurde auf ihrer Abhängigkeit von der Logik begründet.
Das geschichtliche Faktum, dass Sokrates den Begriff und also
die Logik im Begriffe des Menschen, also in der Ethik entdeckt
hat, dieses Faktum war unser Leitstern und soll es bleiben. So
verstanden wir auch die Unterscheidung von Sein und Sollen:
erst Sein, dann Sollen; nicht erst Sollen, dann Sein. Aber auch
nicht etwa Sein allein; so wenig als Sollen allein. Logik und
Ethik gehören von Anfang an zusammen.
Lässt sich nun aber dieser Gedanke, der zunächst als ein
historischer Leitgedanke erscheint, auch sachlich durchführen?
Bedenken wir zuvörderst, was diese Durchführung zu bedeuten
hat. Sie wird nicht befriedigt durch den Versuch einer Auf-
lösung der Ethik in Logik; ganz abgesehen von der Frage, ob
der Versuch gelingen könnte. Der Versuch ist unzulässig; die
Ethik soll selbständig neben der Logik bestehen; durch diese
Nebenstellung gerade erst selbständig werden. Die Ueberspannung
des Gedankens in der Sokratischen Formel: Tugend ist Wissen,
80 Die Summe der Logik.
ist als solche erkannt. Bevor wir nun aber an die Erörterung
herantreten, wie die logische Methodik auf die Ethik zur Be-
gründung derselben anwendbar werden kann, wollen wir einem
andern Gedanken Raum geben, der nicht so äusscrlich in seinem
Grunde ist, wie er zunächst scheinen mag.
Wenn die Ethik von der Logik abhängig gemacht wird,
so wird dadurch ihre Selbständigkeit zum mindesten einge-
schränkt; wie sehr sie immer hinterher durch eigene Begriffe
befestigt werden mag. Mit diesem Bedenken operieren die Feinde
der wissenschaftlichen Vernunft gegen die philosophische Ethik.
Aber der Einwand verdient auch ohne diese Rücksicht eine ge-
nauere Betrachtung. Diese hat sich ebenso tief auf die Logik
zu erstrecken, wie auf den Untergrund der Ethik.
In der Tat wird ein neues Glied des philosophischen Systems,
wenn anders es als ein solches Selbständigkeit erlangt, nicht
lediglich in und aus der Abhängigkeit von dem voraufgehenden
Gliede entstehen und bestehen; sondern es wird zugleich kraft
der eigenen Selbständigkeit das Fundament vertiefen, aus dem
es herauswachsen konnte, aus dem es hervorgehen musste. So
verhält es sich mit der Ethik gegenüber der Logik. Wir müssen
den gesamten Ertrag der Logik überschlagen, indem wir das
Neue erkennen wollen, das die Ethik für das Fundament selbst
hinzuzubringen hat. Nicht an die einzelnen methodischen Mittel
der Logik wollen wir jetzt zurückdenken, sondern lediglich auf
die letzte Summe, in der wir den Gesamtertrag der Erkenntniss
zusammenfassen dürfen. Nicht aus den Grundbegriffen, als den
Summanden, wollen wir diese Summe ziehen; sondern in Rück-
sicht auf den Umfang, den alles jenes Wissen beschreibt, auf
welches die Logik orientiert ist.
Diesen Umfang bildet die Natur, und zwar die Natur der
Naturwissenschaft. Gehört der Mensch auch zu dieser Natur?
Gehört die Weltgeschichte auch zu dieser Natur, und also auch
die Einrichtungen derselben in Recht und Staat? Die Logik
der reinen Erkenntniss hat uns darüber belehrt, dass diese Fragen
keine unbedingte Bejahung finden. Nur die methodische* Veran-
lagung ist in der Logik zu suchen; die Constituierung der eigenen
begrifflichen Inhalte dieser Art überlässt sie der Ethik. So ergibt
sich schon hieraus, dass der Umfang der Logik eingeschränkt
Die Grundlagen als Grundlegungen. 81
ist; (lass er, was den Inhalt der Begriffe betrifft, auf den Menschen
der Weltgeschichte sich nicht erstreckt.
Von diesem Umfang aus lässt sich nun aber auch der all-
gemeine Wert, gleichsam der Wertumfang des Wissens bemessen,
über den die Logik verfügt. Es ist immer nur das theoretische
Interesse an der Natur, das die Logik verwaltet; und diese Ver-
waltung bleibt angewiesen auf die methodischen Mittel der
Naturwissenschaft. So ist auch der Erkenntnisswert der Logik
durch die Natur der Naturwissenschaft bedingt. Wir wissen von
der Logik her, dass die letzten Grundlagen der Erkenntniss viel-
mehr Grundlegungen sind, deren F'ormulierungen sich wandeln
müssen gemäss dem Fortgang der Probleme und der Einsichten.
Es ist eitel Wahn, dass darob das Gesetz, das A priori, das
Ewige verflüchtigt und subjektiviert würde; vielmehr wird in
dem geschichtlichen Zusammenhange der Grundlegungen die
Ewigkeit der Vernunft bestätigt.
Das Alles hat seine Richtigkeit; und wir werden es hier
alsbald von neuem zu erwägen haben. Dennoch aber müssen
wir vorher eine Einschränkung betrachten, welche dieser logischen
Gesetzlichkeit an sich anhaftet. Die Grundlagen sind Grund-
legungen. Die Tätigkeit des Legens eines Grundes setzt das
Objekt voraus, dem der Grund zu legen sei. Dieses Objekt ist
zwar nicht schlechtliin die Natur, aber es ist die Natur der
Naturwissenschaft. Daher wird die Natur zunächst wieder in
einer Erkenntniss zum Objekte, nämlich in der Mathematik. Aber
auch diese, so rein sie ist, und je reiner sie ist, ist selbst als
Grund der Natur gelegt. Und obzwar die Grundlagen der Logik
nocli über die der Mathematik hinausragen, so wissen wir doch,
dass diese allgemeineren logischen Begriffe mit denen der Mathe-
matik verwachsen müssen, um Fleisch und Blut anzunehmen,
l'eberall also, in den letzten Grundlagen der Logik bleibt die
innere Beziehung auf das Sein, auf die mathematische Natur der
Naturwissenschaft erhalten. So bleibt die Grundlage buchstäblich
Grundlegung. - Und was folgt daraus für den Wissenswert?
Die höchsten, die umfassendsten Ausdrücke für den Wert
der Erkenntniss bleiben in der Logik die Allgemeinheit und
die Notwendigkeit. Wir haben sie in ihrem methodischen
Werte erkannt: dass sie nicht letzte Ergebnisse und Fest-
6
82 Wahrheit und die Idee des Guten.
setzungeil der Erkenntniss bedeuten, sondern vielmehr neue An-
sätze bilden für die neuen Wege der Forschung. Nicht den
Wert von Axiomen und Grundsätzen haben sie; sondern
als Obersätze des syllogistischen Beweisverfahrens
werden sie brauchbar. Welche anderen Ausdrücke für den
Innern Zusammenschluss und für die allgemeinere Charakteristik
der Erkenntnisswerte gäbe es aber sonst? Es bleiben nur die
Arten des Urteils und der Kategorieen als die allgemeinen Grund-
legungen übrig.
Daher entstehen für die Logik komische Verlegenheiten,
wenn sie — die Wahrheit definieren soll. Die Komik ergibt
sich aus der Situation, in welche die Logik mit dieser Frage
gebracht wird. Sie hat es mit der Richtigkeit zu tun. Und
ihr letzter Halt ist die Reinheit. Was sonst Wahrheit be-
deuten mag, das leistet innerhalb der Logik die Rein-
heit. Woher kommt der Anspruch der Wahrheit überhaupt in
die Sprache der Vernunft?
Wir können auch diesen zarten Vorgang in der griechischen
Philosophie belauschen. Bei Demokrit tritt zum erstenmale in
wissenschaftlicher Bestimmtheit der Unterschied zwischen
Sein und Schein auf. Aber er bezeichnet das Sein nicht so-
wohl als das wahrhafte Sein, als vielmehr als das richtige Sein
(exsTQ dv). Der Ausdruck Wahrheit mag schon ihm angehören, aber
am Sein selbst wird er von ihm nicht verwendet. Erst bei
Piaton tritt das Wort für Wahrheit (akrfisia) in die Richtung der
Bedeutung ein, die ihm eigentümlich geworden ist. Die Idee
überhaupt, insofern sie sich auf das Sein der Natur bezieht, also
die mathematische Idee, sie wird als Sein, als seiendes Sein (Jvtcwc f>)
bezeichnet; Wahrheit bedeutet eine Klimax zum Sein (ouoia xai
aKr^be^a). Wahrheit bezieht sich in dieser Steigerung auf
die Idee des Guten. Wahrheit bezeichnet den Geltungswert der
ethischen Erkenntniss. Diese Bedeutung der Wahrheit hat sich
im Sprachgefühle trotz allen Verwirrungen erhalten.
Indessen bevor wir an dieses Sprachgefühl weiter anknüpfen,
müssen wir die hauptsächliche Verwirrung beachten, die damit
kompliziert ist. Nicht die Ethik allein hat sich den Ausdruck
der Wahrheit vorbehalten können, sondern die Religion hat ihn
ihr streitig gemacht. Nicht zwar von der griechischen Religion
Zusammenhang der Ethik mit der Logik. 83
wird man einen praegnanten Gebrauch des Wortes für ihre
Götter zu tadeln oder zu rühmen haben; wohl aber bemächtigt
sich der Monotheismus dieses Wortes für den einzigen Gott.
Gott ist wahr, und Gott ist die Wahrheit, das sind die tiefen
Ausdrücke, mit denen die Propheten den einzigen Gott erdenken.
Vielleicht darf man sagen, dass charakteristischer noch als die
Einzigkeit die Wahrheit für den Gott der Religion gegenüber
den Göttern der Mythologie ist. Denn der wahre Gott ist der
Grund der Sittlichkeit: die er fordert, und deren Forderung
schlechterdings sein Wesen ausmacht.
Aber das ist der Unterschied, das ist die Kluft zwischen
Religion und Ethik, dass in der Ethik kein auswärtiger Grund
gelegt werden darf. Auch Gott darf für sie nicht den metho-
dischen Grund der sittlichen Erkenntniss bilden. Wahrheit, wie
die Ethik sie zu denken hat, muss Wahrheit der Erkenntniss
sein. Erkenntniss aber ist in erster Linie Logik. Und von dieser
Linie der Logik darf die Ethik nicht abweichen, nicht ablenken.
Auch bei Piaton bildet die Wahrheit zwar eine Steigerung zum
Sein; aber das Sein bleibt eben doch die Voraussetzung. Wahr-
heit ohne Voraussetzung der Logik ist unzulässig.
Indessen die Logik allein hat Richtigkeit, Gesetzlichkeit,
Aligemeinheit, Notwendigkeit; an sich aber keine Wahrheit. Die
Ethik erst bringt die Wahrheit hinzu; aber sie bringt sie hinzu;
sie kann sie nicht aus sich selbst schöpfen; erst in Verbindung
mit der Logik wächst sie ihr zu.
Der Ausdruck, den wir zuletzt gebraucht haben, ist un-
genau. Nicht der Ethik allein wächst die Wahrheit zu, indem sie
mit der Logik sich verbindet und gleichsam mit ihr sich misst;
sondern beiden Arten und Interessen der Vernunft erwächst die
Wahrheit, als ein neues Kennzeichen der Erkenntniss und als das
innere Band, das sie zusammenhält. Ein solches inneres Band,
eine solche methodische Verbindung muss gefordert werden, wenn
anders Wahrheit die Wahrheit der Erkenntniss bedeuten soll.
Die Erkenntniss bildet und bezeichnet die Notwendigkeit des
Zusammenhangs. Nun kommt aber Alles darauf an, in diesem
Zusammenhange selber und allein in ihm die Wahrheit zu be-
gründen; nicht aber etwa allein oder auch nur vorzugsweise in
der P2thik. Das würde auf den Abweg der Religion führen.
6*
84 Die Religion und Prometheus.
Es ist nur die Ausdnickswcise des religiösen Affekts, dem
Plato, wie auch Kant sich hingaben, indem sie den Vorzug des
ethischen Problems in gewaltigen Worten betonten: Plato durch
die Transscendenz des Guten zum Sein (sxexsiva xyjc oüoiac, 8üvd|i£t xo?
Tcpsaßsia üicspeyovtoi;); Kant durch den Primat der praktischen
Vernunft. Der Ethik ist durch solche Vorzugswerte nicht ge-
dient. Wenn im Ucberschwang des sittlichen Gefühls die Logik
gegen die Ethik herabgesetzt wird, so mag die religiöse Sittlichkeit
darüber triumphieren; die Ethik und die ethische Wahrheit wird
dadurch nicht gefördert.
Im Grunde wird auch der Religion durch Ucberschwang
nicht gedient. Wenn die Religion Gott zum Urquell und zum
Bürgen der Sittlichkeit macht, so will auch sie von ihrem Gotte
und von ihrer Sittlichkeit die Natur nicht durchaus abscheiden.
Gott ist ihr ebenso der Schöpfer der Natur, wie er der Urheber
der Sittlichkeit ist. Also auch die Religion will keineswegs
Natur und Sittlichkeit von einander trennen. Die Erkenntniss
hingegen im wissenschaftlichen Sinne geht sie für beide Objekte
nichts an. Aber hiervon abgesehen, führt sie die Verbindung
durch. Gott ist als Schöpfer der Schöpfer des Guten. Welchen
Sinn hätte es daher, von diesem Gotte des Guten die Sittlichkeit
unabhängig zu machen?
Prometheus darf sich gegen Zeus empören, der den Menschen
das Licht vorenthalten will; diese Stimmung kann nicht gegen
den Schöpfer des Lichtes und des Guten aufkommen. Er wird
auch als der Gott der Erkenntniss bezeichnet. Die Erkenntniss ist
ihm nicht fremd, geschweige feindlich. Welchen Sinn hätte die
Prometheische Stimmung gegen diesen Gott der Natur und der
Sittlichkeit? Sollte etwa der eigene Schöpfertrieb des Menschen,
der seine Gebilde hegt, gegen ihn sich Luft machen? Dann
würde es nur fraglich, ob es der Machttrieb im Menschen wäre,
der gegen den Allbezwinger sich auflehnt; oder aber der Kunst-
trieb, der die eigenen Gebilde als die eigenen hütet. Es wäre in
beiden Fällen aber nicht die Sittlichkeit und die Erkenntniss der
Sittlichkeit, welche gegen den Gott, der der Gott der Wahrheit
sein will, die Sprache des Prometheus führen dürfte.
Wenn die VAh'ik daher das Problem der Wahrheit als ein
ihr eigenes auf sich nimmt, so kann sie dies nur im Ein-
Wahrheit in der Verbindung von Logik und Ethik. 85
vernehmen mit der Logik tun. Und in einem ganz neuen Sinne
wird die Wahrheit von ihr zum Problem gemacht werden
müssen.
W^ahrheit bedeutet den Zusammenhang und den
Einklang des theoretischen und des ethischen Problems.
Dieser Satz muss allem Aufbau der Ethik voraufgehen. Wir
bezeichnen ihn daher als den Grundsatz der Wahrheit.
Bevor an den Aufbau der Ethik herangetreten werden mag,
bevor der Versuch unternommen wird, eine Erkenntniss vom
Menschen, als dem Menschen der W^eltgeschichte, zu entwerfen,
muss diese Gewissheit festgestellt werden, dass über diesem neuen
Bau der alte der Logik und derNaturerkenntniss nicht hinfallig wird.
Und wenn der neue Bau in die Wolken ragte, er müsste ein
Luflgebilde bleiben, wenn er nicht mit der Logik im letzten
Grunde vereinigt wäre; wenn er nicht, wie gediegen immer sein
eigenes Fundament sein mag, dennoch in diesem selbst mit jenem
logischen Fundamente zusammenhinge und aus ihm entspränge.
Das muss der Grundgedanke sein, der uns von der Logik
zur Ethik hinüberleitet; der uns im Beginne der Ethik auf die
Logik wieder zurückfühii. In der Logik allein gab es keine
Wahrheit. Aber auch in der Ethik allein kann es keine Wahr-
heit geben. In der Verbindung von Logik und Ethik
allein ist Wahrheit zu suchen; für diese Verbindung allein
ist sie zu fordern. Nur diese Verbindung gilt uns als Wahrheit.
Ohne diese Verbindung Hessen wir es ebenso gern bei der
logischen Richtigkeit und Notwendigkeit bewenden, und ver-
zichteten auf eine Offenbarung der Sittlichkeil, die uns über die
Bescheidenheit der Erkenntniss hinaus verlockt. Kein Glied der
Erkenntniss für sich allein darf Wahrheit beanspruchen; in der
Kette allein, welche die Glieder bilden, darf die W^ahrheit liegen
und bestehen. Aber die Kette, das geistige Band, fordern wir als
das Grundgesetz der Wahrheit. Wenn es am Beginne der Ethik
aufgestellt wird, so erklärt sich dies daraus, dass hier erst <las
neue Problem entsteht.
W^as bedeutet es nun aber, dass der Grundsalz der W^ahr-
heil auf die Verbindung <les theoretischen und des ethischen
Problems gerichtet sein, den Zusammenhang und den Einklang
beider Probleme bedeuten soll? Wenn keines der beiden
8G Lessings Parabel.
Glieder, aus denen die Kette besteht, die Wahrheit enthalten soll,
wie kann sie dann in der Kette liegen? Die Frage kann weiter
geführt werden: wie können die Glieder zu einer Kette sich
zusammenschliessen, wenn nicht durch eine verbindende Methode
dieser Zusammenschluss eingerichtet würde? Diese verkettende
Methode suchen wir.
Wir suchen diese Methode aber von vornherein hier als
eine vereinigende, die Ethik mit der Logik verknüpfende Methode.
So fordert es das Grundgesetz der Wahrheit. Es ist nicht ledig-
lich eine Uebertragung der in der Logik fruchtbaren Methode
auf die Ethik, zu dem Versuche, ob sie auch in dieser sich frucht-
bar erweisen werde; sondern darin greift ihrerseits die Ethik
über die Kompetenzen der Logik zurück, dass sie die Einheitlich-
keit der Methode für beide Vernunftinteressen voraussetzt. Diese
Voraussetzung vollzieht das Grundgesetz der Wahrheit. Es ist
nicht eine Uebertragung, sondern es ist eine Rückwirkung, die
sich hier geltend macht. Es ist ein neues Licht, welches das
Prinzip der Wahrheit über die Grundmethode der Logik ergiesst:
dass sie auch, dass sie ebensosehr die Ethik erzeugt. Man sieht,
dass die Einheitlichkeit, wie sie hier begründet wird, sich von
der mehr oder weniger psychologischen Ansicht unterscheidet,
welche eine Einheit der Vernunft voraussetzt, bei der absichtlich
oder unvermeidlich der Unterschied der Probleme nivelliert wird.
Bevor wir nun aber diese die beiden Arten von Problemen
verbindende Methode, die wir nicht erst zu nennen brauchen, in
Erwägung nehmen, erscheint es nicht überflüssig, den Sinn und
Wert der Wahrheit, als einer Methode, zu betrachten. Nach
der Parabel bei Lessing hält der Vater in der einen Hand die
Wahrheit, in der andern das Suchen nach Wahrheit. Wir ver-
zichten dagegen nicht nur auf die Gabe der einen Hand; sondern
wir erkennen schlechterdings den Unterschied der beiden Hände
nicht an. Was die Wahrheit für den Vater bedeuten mag, ge-
hört nicht in den Umkreis unserer Probleme. Und wir lassen
uns auch den Wert, den das Suchen nach Wahrheit hat, nicht
durch die Skepsis vereiteln, dass es eine Wahrheit anderer Hand
gäbe. Das Suchen der Wahrheit, das allein ist Wahrheit. Die
Methode allein, mittelst deren Logik und Ethik, beide zugleich,
nicht eine allein, erzeugbar werden, diese vereinigende, diese ein-
Die Sittlichkeit in Wissenschaft und Recht. 87
heitliche Methode, sie vollbringt und verbürgt die Wahrheit.
Wenn man zwei Hände unterscheiden will, so geben sie, die
eine Logik, die andere Ethik. Aber beide geben kraft derselben
Methode. Und diese Kraft gilt uns als Wahrheit.
Die Wahrheit besteht in der einheitlichen Methode der
Logik und der Ethik. Sie kann nicht als ein Datum offenbart
werden. Sie kann nicht als eine Tatsache der Natur, oder der
Geschichte, vorliegend oder enthüUbar angenommen werden.
Sie ist kein Schatz, sondern ein Schatzgräber. Sie ist Methode;
aber keine isolierte, noch isolierbare Methode; sondern eine
solche, welche die grundsätzliche Verschiedenheit von Vernunft-
interessen harmonisiert. Der Methode der Wahrheit spricht es
Hohn, die Logik und die Wissenschaft verächtlich zu machen,
insofern man ihre Notwendigkeit in Zweifel zieht und ihre
Reinheit verdunkelt. Alles fromme Gerede vom Stückwerk des
menschlichen Wissens ist vom Uebel, gehört in diejenige Päda-
gogik, welche Mephisto an dem Schüler ausübt. Die Wahrheit
besteht in der Anerkennung der wissenschaftlichen Vernunft.
Sie beruht auf ihr.
Aber sie erstreckt sich weiter. Es spricht ebenso der Wahr-
heit Hohn, wenn Staat und Recht als etwas Menschliches, demnach
Irriges und Sündhaftes dargestellt werden. Sie sind Gebilde des
sittlichen Geistes. Sie sind nicht Ausgeburten des Instinktes und
des Machttriebes. Das mag auf den Bienenstaat passen. Aber
so wenig in deren Bau die Mathematik zur Wissenschaft er-
wacht und geistig lebendig wird, so wenig ist der Geist des
Rechtes und des Staates in jenen Gebilden des Instinktes zu
erkennen. Der Instinkt widerspricht der Wahrheit in Bezug auf
die Ethik. Es gibt keine andere Sittlichkeit als die in Recht
und Staat.
Wenn die Religion etwas Anderes und Eigenes zu sein be-
hauptet, so unterschlägt sie die Beziehungen, welche sie selbst
auf Recht und Staat in sich hat und unterhält; und ferner begibt
sie sich aus dem praktischen Vernunftinteresse heraus und etabliert
sich als Wissenschaft, ohne sich freilich als dieselbe auszugeben.
Damit aber wird ihr Anspruch xmd Einspruch hinfallig; denn
sie ist nicht Wissenschaft. Nur Logik macht W^issen zur Wissen-
schaft. Und nur Ethik, im Zusammenhange und auf Grund
88 Die Methode der Reinheit.
der Logik, ermöglicht Sittlichkeit nach dem Grundgesetze der
Wahrheit.
Bevor wir aber weiter die schier unerschöpfliche Bedeutung
dieses Grundgesetzes der Wahrheit erwägen, müssen wir endlich
an die Bestimmung und Beleuchtung der verbindenden Methode
selbst herangehen. Wir kennen sie von der Logik her. Und
indem wir die Quintessenz der Logik der neuen Wahrheit gegen-
über ziehen wollten, nannten wir die Reinheit. Die Reinheit
macht die Logik zur Logik der reinen Erkenntniss. Sie begründet
den LehrbegrifT des Idealismus. Sie ist die schöpferische Methotle
Piatons. Aber auch hier ist der Zusammenhang von Logik und
Ethik unverkennbar. Freilich hat Plato in dem reinen Scliauen,
als dem Erschauen, für die Mathematik die Reinheit vorzugs-
weise wirksam gemacht, und bis auf den Namen ist sie bei ihr
erhalten geblieben; aber das reine Schauen selbst war doch aus
den leiblichen und seelischen Reinigungen hervorgegangen, welche
der orphische Kreis zur Seelsorge machte. So ist die Reinheit
sittlichen Ursprungs. Und diesen Ursprung hat sie nicht nur bei
Piaton bewahrt, sondern, wo in der neueren Philosophie das
Reine auftritt, da wird es zunäclist zwar auf den hitellekt be-
zogen; es soll aber auf den Willen und auf die Sittlichkeit hin-
zielen. So beruht die Wahrheit auf der Reinheit. So entfaltet
sich die Reinheit zur Wahrheit.
Um nun aber das Reine für die Ethik in Kraft zu setzen,
vergegenwärtigen wir uns zuvörderst, was es in der Logik zu
bedeuten hat, und zu leisten vermag. Vor Allem befreit es uns
von dem Vorurteil der Dinge; von dem falschen Anfang mit
den Dingen, vor dem schon Descartes gewarnt hat, indem er das
reine Denken wieder lebendig machte. Die Gegebenheit von
Dingen darf uns nicht berücken, als ob sie den unerlässlich
richtigen Anfang der Untersuchung bildete; als ob man sclilechter-
dings an diese Gegebenheit, als an die unerlässlichc Gewissheit,
anknüpfen müsste. Die Reinheit lehrt dagegen: nicht die Dinge
sind das Erste, worauf die Untersuchung der Dinge selbst, sowie
die auf den Wert dieser Erkenntniss gerichtete, zu achten hat;
sondern die Erkenntniss von den Dingen, sofern sie in einer
Wissenschaft gegeben ist, muss allemal das Erste .sein. Nicht
also die Dinge, sondern die wissenschaftlichen Erkenntnisse sucht
Das Ding und die Sache. 89
die Reinheit klarzuslellen. Dadurch erst können die Dinge selbst
festgestellt werden. Sie sind nur scheinbar gegeben. Die Rein-
heit erst bringt sie an den Tag. Nur im Dämmerlichte des
Problems und des Vorwurfs scheinen sie gegeben zu sein.
Bedarf nicht etwa auch die Ethik dieser Methode der Rein-
heit, um von dem Vorurteil der Dinge zu emancipieren? Die
Dinge heissen hier die Sachen. Schon logisch ist die Methode
notwendig, um den Begrift der Sache zu erzeugen und zu ent-
wickeln; wie er zu einer Sache der Wirtschaft wird, zu einem
Gut, zu einer Ware; und wie das Recht ihn zu einem Rechts-
objekt stempelt, zu einem Eigentum.
Aber schon das Verhältniss von Wirtschaft und Recht lässt
den Nutzen der theoretischen Reinheit übergehen auf das ethische
Gebiet. Denn die Sache, die als Ware in der Wirtschaft ver-
braucht wird, ist gemeinhin nicht ein Naturprodukt, sondern
ein Produkt der Arbeit. Deckt sich nun aber ihr Begriff mit
dem Arbeitsertrage des Arbeiters im rechtlichen Sinne? Ist sie das
Eigentum des Arbeiters? Man sieht, wie das ethische Problem
schon im Begritle der Sache mit dem theoretischen zusammenstösst.
Und so ist überall die Methode der Reinheit die erste Bedingung
für die Bestimmung der sittlichen Dinge, der sittlichen Güter.
Bei Aristoteles stösst uns Nichts so empfindlich ab, wie
seine Gleichgiltigkeit gegenüber dem innern Unterschiede in den
Gütern der Kultur. Die äusseren, die äusserlichen Lebensgüter,
die nur so lange von Wert sind, als eine einseitige Richtung der
Politik sie aufrecht erhält, werden von ihm als nützliche Werk-
zeuge der Tugend anerkannt. Auf diesem Opportunismus, der
den Geburtsadel als ein sittliches Moment konserviert, beruht
innerlichst sein Gegensatz zum Idealismus. Die Methode der
Reinheit fordert Unabhängigkeit gegenüber den Mächten, den
Tatsachen, den Einrichtungen und Besitztiteln der Kultur.
Opportunismus wurzelt im Naturalismus und Materialismus. Die
grosse Wirkung, welche von Rousseau ausging, hatte ihren
Grund und ihr Recht in dieser Freiheit und Tapferkeit gegenüber
allen den grossen Dingen und Mächten, die sich untei dem Namen
der Kultur zusammenzufassen pflegen. Deshalb predigte er gegen
diese Kultur die Natur; er meinte aber die Reinheit. Was er
gemeint hat, das hat Kant gelehrt.
90 Bewusstsein und Selbstbewusstsein.
Die Methode der Reinheil bezieht sich nicht allein auf den
Begriff des Objekts und der Sache, sondern ebenso auch auf den
Begriff des Subjekts, der Person. Die neuere Zeit wird seit der
Renaissance von einem Terminus förmlich gestachelt, der im
Altertum gar nicht vorhanden ist, obwohl das Problem das ganze
Altertum in seiner Tiefe durchzieht. Das Bewusstsein ist dieser
neue Ausdruck. Freilich hängt die Renaissance überall mit der
Antike zusammen, und so auch in diesem praegnantesten Ter-
minus. Conscientia, Mitwissen, stammt wahrscheinlich aus der
stoischen oüvc'Srjai;. Und in der stoischen Terminologie ist die
Begleitung, welche hier dem Wissen zuerteilt wird, deutlich zu
erkennen. Sie besteht in den kontrollierenden höheren geistigen
Instanzen, welche die Stoa der Vorstellung bfeigeselll.
Dennoch aber wird man versucht, dem Mitwissen des
modernen Bewusstseins eine andere innere Sprachform zu er-
denken. Es ist, als ob in diesem Mitwissen die beiden Rich-
tungen des Bewusstseins vereinigt worden seien. Ist es doch
ohnehin manchmal zweifelhaft in den modernen Sprachen, ob
unter diesem mitwissenden Bewusstsein nicht sogar vorzugsweise
das moralische Bewusstsein, das Gewissen verstanden wird. Und
so mag es sich aus dem Problem der Wahrheit erklären lassen^
dass Bewusstsein das Grundwort geworden ist, welches die neue
Zeit von der Antike unterscheidet.
In der Philosophie der neuern Zeit hat sich demzufolge
das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein praezisiert. Das Schick-
sal der neuern Philosophie von Descartes ab lässt sich an der
Entwickelung dieses Begriffs beschreiben. Aus dem Cogito
Descartes' wird die Einheit der Apperception bei Kant, der
diese beiden Begriffe, die er von Leibniz übernahm, seinerseits
vereinigte. Und die Philosophie der Romantik operiert voll-
ständig mit dem Zauberwort des Selbstbewusstseins.
Indessen das Selbstbewusstsein hat eine nähere, eigene
sachliche, vielmehr persönliche Bedeutung, welche unabhängig
ist von der Bedeutung, die ihm als einem Prinzip der syste-
matischen Philosophie gegeben oder zugemutet wurde. Und für
diese nächste Bedeutung hatte Kant vor Allem Descartes gegen-
über zu arbeiten und zu kämpfen. Die Paralogismen der ratio-
nalen Psychologie mussten aufgedeckt werden, um das Ich von
Subjekt und Person. 91
dem dogmatischen Seelenbegriffe frei zu machen, um es aus
dem Horizont einer dogmatischen Psychologie zu entfernen, und
zu einem Zielpunkte der Ethik zu machen. Darin hat sich die
Methode der Reinheit für den Begriff des Subjekts zu bewähren
und durchzuführen. Nicht sowohl um das Seelen-Subjekt der
Psychologie handelt es sich, als vielmehr um das Rechtssubjekt,
um die Person der Ethik. Die Trennung, die Unterscheidung
beider Probleme, des psychologischen und des ethischen, im Be-
griffe des Subjekts ist selber ein wichtiger Ertrag der Methode
der Reinheit. Aber er ist keineswegs der einzige.
Denn die gesamte ethische Constituierung des Subjekts, der
sittlichen Person wie des Rechtssubjekts, vollzieht sich kraft
dieser Methode. Wir würden unsern Aufbau vorwegnehmen
müssen, wenn wir im Einzelnen diese Durchführung darlegen
wollten. Nur dies sei hervorgehoben, dass die sittliche Person
nicht als gegeben, oder in gewissen natürlichen Anlagen und
Bedingungen bestimmt angenommen werden darf. Kein Vor-
urteil'des Charakters, des guten oder des bösen Willens darf
uns beirren und beengen. Das Subjekt ist nicht die Seele, die
daher ethisch so leicht zum Gespenst wird; und das Subjekt
wird nicht schlechterdings geboren, und nicht schlechterdings
vererbt; sondern, wieviel immer Geburt und Vererbung zu be-
rücksichtigen sein mögen, es bleibt doch immer ein neues und
eigenes Problem, welches keineswegs in den gegebenen Momenten
und Bedingungen restlos aufgeht. Auch für den Begriff des Sub-
jektes also befreit die Methode der Reinheit von den Vorurteilen,
denen zufolge heute mehr als jemals Vernunft Unsinn und Wohl-
tat Plage wird.
Diese Bedeutung unserer Methode ist so sehr eingreifend
und so sehr grundlegend, dass man ihretwegen allein die Ethik
mit ihr errichten müsste. Denn welchen Sinn hätte die Ethik,
wenn das Subjekt als gegeben, als geboren und in seinem Milieu
erzogen, schlechterdings zu fassen wäre? Die Ethik ginge dann
eben in Anthropologie auf, die ihrerseits dieses menschliche Sub-
jekt zur Demonstration brächte. Die Methode der Reinheit da-
gegen sucht diejenigen Bedingungen und Begriffe zu ermitteln,
welche den Begriff des Menschen, wie wir jetzt sagen dürfen,
nach dem Grundgesetze der Wahrheit zu Stande bringen. Die
92 Die Zweideutigkeit des Gesetzes
Wahrheit anerkennt nicht ausschliesslich, noch vorzugsweise das
theoretische Interesse an dem Menschen der Natur: sie fordert
zugleich das ethische Interesse an dem Menschen der Kultur und
der Weltgeschichte.
Die Methode der Reinheit erläutert indessen nicht nur den
Begriff des Objekts und den Begriff des Subjekts; sondern ebenso
auch denjenigen Grundbegriff, der das Ziel aller Erkenntniss
bildet: den Begriff des Gesetzes. Wir sind schon darauf auf-
merksam gewesen, wie an diesem Worte in der griechischen
Sprache und Kultur alle Richtungen, Parteiuungen und Irrungen
sich widerspiegeln. Der Nomos ist das Zugeteilte, also auch die
Satzung ($'jv^V;xr^). Andererseits ist er aber auch der Zuteiler,
also auch das Gesetz. In dem einen Falle bedeutet er die Will-
kür und den Wechsel der Convention, in dem andern das Ewige,
dessen Herkunft man nicht kennt; und daher das Unverbrüch-
liche, das alle menschliche Bestimmung überragt, und allem
Guten in den menschlichen Gesetzen als schöpferischer Keim zu
Grunde liegt. *
So schwankt der Begriff des Gesetzes von der Politik, und
nicht minder auch von der Religion her, auch in der Ethik seit
dem Zeitalter der Sophisten. In der Tat ist die Dogmatik des
Gesetzes nicht minder verwirrend, als die des Objekts und des
Subjekts. Wie man vergängliche, auch in der Schätzung der
Menschen vergängliche Güter fälschlich als sittliche ausgibt,
und wie man die Seele nach dem Gleichniss eines Italieners der
Renaissance auf den Stuhl setzen zu können glaubt, um in ihr
die sittliche Person zu etablieren, so schreckt man mit dem
Wort des Gesetzes nicht nur den Zweifel, sondern auch die Be-
gründung zurück. Und es ist nicht allein die Satzung, die in
dem Gesetze nachwirkt; sondern auch das Feste und Unab-
änderliche, welches dem Gesetze den dogmatischen Nebensinn
erhält. Dieser Dogmatismus ist Naturalismus und Empirismus
in der Ethik, wie in der Logik.
Die Logik der reinen Erkenntniss hat hauptsächlich den
Platonischen Grundgedanken wieder zur Entdeckung gebracht,
dass aller Grund des Seins nicht sowohl in an sich gegebenen
Grundlagen angenommen und gesucht werden dürfe, sondern in
Grundlegungen. Die Idee ist Hypothesis. Das ist die einzig
Das Sichere der Hypothesis. 93
zulängliche Charakteristik und Bezeichnung der Idee. Dass sie
Substanz, dass sie das wahrhatte Sein bedeute, das ist nicht die-
jenige Bedeutung, welche Piaton eigentümlich ist. Diese hat
er von Pythagoras und von Parmenides übernommen. Und
dass sie Begriff sei, auch darin besteht keineswegs Piatons letzte
Bestimmung. Diese hat er vielmehr dem Sokrates entnommen.
Die Originalität Piatons besteht allein in der Charakteristik der
Idee als Hypothesis.
Es ist ein Symptom für den äusserlichen Zustand, in dem
sich die selbständig, nämlich isoliert einherziehende Geschichte
der Philosophie befindet, dass sie diesen Terminus in den Pla-
tonischen Worten nicht aufzufinden, und ihn in den Mittelpunkt
seines Lehrgebäudes einzufügen vermochte. Und doch haben
die grossen Geister der mathematischen Renaissance, Copernicus,
wie Kepler, ihn als den eigentlichen Anker hervorgezogen.
Aber auch hier ist es wie bei dem Gesetze ergangen. Auch die
Hypothese schwankt in ihrer Bedeutung.
Bald ist sie der Ausgang und der Grund der Theorie; bald
ist sie nicht viel mehr als Vermutung. Auch hier bildet der
Dogmatismus als Naturalismus und Empirismus die Wurzel des
Vorurteils. Alle Theorie, alles Gesetz kann keinen andern Grund
haben, als den die Grundlegung legt. Und keine andere Sicher-
heit und Gewissheit kann es geben, als welche in der Grund-
legung besteht. Das Sichere der Hypothesis (i6 docpaXsc xf^^ üro&eoscu;),
so beglaubigt Plato selbst seine Hypothesis. Und doch ist sie
auf die Uebereinstimmung mit den Erscheinungen angewiesen,
auf den Erfolg, den sie für die zusammenhängende Erklärung
der Erscheinungen und der Probleme zu erzielen vermag. Erzielt
sie diesen Erfolg nicht, so hat sie sich eben als Hypothesis nicht
bewährt; aber den Geltungswert der Hypothesis kann das einzelne
Beispiel derselben nicht erschüttern. Die Hypothesis, sofern sie
ihren Begriff erfüllt, hat Sicherheit und Gewissheit. Eine andere
Gewissheit gibt es nicht.
So durchbricht der Begriff der Hypothesis das Vorurteil
des Gesetzes für die Naturerkenntniss, das V^orurteil des Natur-
gesetzes. Nicht minder verwirrend für das gesamte Problem
der Ethik ist diese falsche Ansicht vom Gesetze im Sittengesetz.
Von dem Befehl einer auswärtigen Macht dürfen wir absehen;
^ Psyche und Ethos.
darin liegt die geringere Gefahr. Denn wenn Gott, wie im Mono-
theimus, als der gute Gott, als der Gott des Guten gedacht wird,
so mag er immerhin befehlen; kann er doch nur das Gute be-
fehlen. Es bleibt alsdann nur der methodische Unterschied
zwischen der Wissenschaft der Ethik und der Religion übrig,
die dadurch zur Wissenschaft werden müsste, indem sie, was
Sittlichkeit sei, lehren will, während sie die Methodik der Be-
gründung, die zum Lehren gehört, nicht besitzt und sich nicht
aneignen kann. Sonst aber ist der Sinn des göttlichen Ge-
setzes keineswegs die grösste Gefahr für den Begriff des Sitten-
gesetzes.
Die Gefahr des wissenschaftlichen Dogmatismus liegt in dem
philosophischen, dem angeblich metaphysischen Vorurteil, dass
das Fundament der Moral als ein Naturgesetz zu denken
sei, als ein Gesetz in unseren Gliedern. Und nun teilen sich von
dieser Einheit aus die Wege und die Richtungen. Die Einen
sagen, wir täten Alles nur aus Mitleid; die Anderen dagegen,
nur aus Rache. In alle Winde splittert sich der sogenannte
moralische Sinn. Und überall hin wirkt er, und wird er wie
ein Fatum gedacht; wird er doch schon in allen Richtungen und
Deutungen als solches offenbart. Das sei der einzige Halt in
allen Gedanken und Anschauungen der Sittlichkeit unter den
Menschen; dieser Halt liegt in ihrer Psychologie; genauer müsste
man sagen, in der Physiologie; denn die Affekte hat man stets
in die schmale Grenzlinie beider Gebiete verlegt.
Es ist interessant, dabei den Unterschied in den griechischen
Worten zu beachten. Die Psychologie knüpft an die Psyche
an; die Ethik dagegen an das Ethos. Sicherlich ist das Ethos
eine Art objecti vierter Psyche; denn was ist der Charakter
Anderes? Aber darauf gerade ist es abgesehen, dass die Ethik
nicht von der Psyche ausgeht; nicht auf die Psyche centriert ist;
sondern dass ein vieldeutiges Wort dagegen zum Problem ge-
macht wird. Wenn man aber, wie es die Naturalisten des
Affektes tun, das Sittengesetz nur als ein Naturgesetz zu denken
vermag, so kommt man eben auf die Seele und auf die Meta-
physik der rationalen Psychologie zurück; und das eigene
Methodengebiet der Ethik, die an das Ethos anknüpft, geht
verloren.
Die Hypothesis das Werkzeug der Wahrheit. 95
Wie alle unkritische Metaphysik im letzten Grunde mit
dem Naturalismus und dem Empirismus verquickt ist, so zeigt
es sich auch hier. In den Gliedern sucht man das Ewige des
Sittengesetzes zu fassen; in der Geschichte dagegen soll Alles
wandelbar und vergänglich sein. Da soll es nichts Festes und
Bleibendes geben dürfen; da soll Alles nur dem Wechsel unter-
worfen sein. Im Sittlichen also, wie es in der Geschichte der
Menschheit sich ^vollzieht, soll es nichts Absolutes geben; das
Absolute reserviert man für den Verkehr und den Vertrag mit der
Religion. Für die Sittlichkeit bleibt daher nur der platte
Relativismus übrig. Die sittlichen Lehren werden Meinungen.
Und die Meinung ist, wie der HegeFsche Witz lautet, die
Meinige.
Weil die Güter des Lebens und der Kultur, wie sie ins-
gemein verstanden wird, von zweifelhaftem Werte sind; von
einem Werte, der in den Relationen der unsittlichen und der
sittlichen Verhältnisse hin- und herschwankt, darum sollen die
Begriffe des Sittlichen schlechterdings eines gesetzlichen Charakters
entbehren müssen. Die Missdeutung des Sittengesetzes als eines
Naturgesetzes führt zu der Verwechselung des sittlichen Begriffs
und Gesetzes mit einem angeblichen sittlichen Objekt und einem
Gute der Kultur. Der methodische Grund dieser Missdeutung
und dieser Verwechselung liegt jedoch in dem Nichtverstehen
der Reinheit und ihres Ertrages in der Hypothesis.
So bewährt sich die Hypothesis als das Werkzeug
der Wahrheit. Es gibt keine zwiefache Wahrheit; die
Hypothesis bildet auch für das Naturgesetz den Grund der Ge-
wissheit. Daher ermangelt auch die Ethik der Gewissheit nicht,
wenn sie auf einer Grundlegung sich aufbaut. Sie darf ein an-
gebliches Naturgesetz verschmähen, dessen wahrer Wert doch
vielmehr nur auf einer Grundlegung beruht. Sie darf des Ewigen,
auf das sie baut, gewiss bleiben, indem sie dasselbe in einer
methodischen Grundlegung errichtet. So fordert es das Grund-
gesetz der W^ahrheit. Frage bleibt nur, ob die Reinheit, wie
sie für die Begriffe des Objekts, des Subjekts und des Gesetzes in
Aussicht genommen wird, an dem Material sich durchführen
lässt, auf welches das Objekt, das Subjekt und das Gesetz in der
Ethik angewiesen sind.
96 Der Trieb
In der Logik kennt man das entsprechende Material; es
besteht im Denken. Welche psychologische Tätigkeitsform ent-
spricht dem Denken für die Aktion der Sittlichkeit? Die Berück-
sichtigung der Psychologie ist jetzt nicht zu vermeiden; so wenig,
als in der Logik beim Denken. Aber so wenig in der Logik der
Gebrauch des Wortes Denken zu einer weitern Abhängigkeit
von der Psychologie zu führen braucht, dieweil für diese das
Denken nichts Anderes als Vorstellung bleiben müsste, so wenig
droht uns an diesem Kreuzwege der Konflikt mit der Psychologie.
Der natürlichen Reflexion wird die Einsicht entnommen, dass
das Wesen des Menschen in seinem Tun und Treiben sich dar-
legt. Das Tun aber erscheint der natürlichen Beobachtung als
das Resultat von Etwas, für welches das Treiben eine Ursache in
der Sprache ansetzt. Das Treiben rührt vom Triebe her. Aus
ihm entspringt alles Tun. So wird im Triebe eine psychische
Qualität bestimmt. Der Trieb wird zur Grundlage des
Geschöpfes. Im Hebräischen steht Eine Wurzel für Trieb und
Geschöpf. Der Trieb ist der Herd alles Tuns. In ihm liegt der
Quell alles Regens und Begehrens.
Bei dieser natürlichen Psychologie darf es aber nicht ver-
bleiben; und es ist dabei nicht geblieben. Wir haben es schon
beachtet, dass Plato seine Psychologie ebenso in der Ethik, wie
in der Logik, erzeugt und entwickelt; ebenso in der Charakteristik
des Willens, wie in der des Denkens und der Erkenntniss. Wir
werden daher zu verfolgen haben, wie die Methode der Reinheit
den Begriff* des Willens, des reinen Willens zu erzeugen hat.
Der reine Wille entspricht dem reinen Denken, dem
Denken der reinen Erkenntniss.
Nur eine wichtige Vorfrage ist hier noch zu erörtern. Sie
betrink unser Grundgesetz der Wahrheit; nämlich die Einheit-
lichkeit der Methode für Logik und Ethik. Lässt sich auch für
das in Aussicht stehende psychologische Material, für den reinen
Willen, wie für die Grundbestimmungen des reinen Denkens,
die Durchführung der Methode erwarten und in Angrifl' nehmen?
Diese Frage ist methodologisch von entscheidender Be-
deutung; das Problem der Ethik, als einer Ethik des reinen
Willens, hängt an ihr. Aber auch positiv führt sie der Aus-
führung näher. Stellen wir also getrost die Frage: ob sich die
Anwendbarkeit der Continuität 97
GrundbegrifTe, welche die Logik für das Denken der reinen Er-
kenntniss auszeichnet, auch auf die Ethik des reinen Willens
zur Anwendung bringen lassen.
Die Logik vollzieht und begründet die Reinheit im letzten
Grunde durch das Urteil des Ursprungs. Der Ursprung ist
der tiefste Ankergrund, den das reine Denken festlegt. Nichts
darf dem reinen Denken als gegeben gelten; auch das Gegebene
muss es sich selbst erzeugen.. Auch das Was, als das Etwas,
darf ihm nicht das letzte Wort der begriflflichen Sprache sein.
Vor dem Nichts darf es nicht zurückschrecken. Es selbst zwar
bleibt ein Ungedanke, aber als ein Mittel des reinen Denkens
wird es anerkannt. Es ist ein Umweg, den das Denken gehen
muss, weil es bei dem Etwas nicht Halt machen darf. Um dem
Etwas auf den Grund zu kommen, wird von ihm selbst, als
einem letzten Grunde, abgesehen.
Wird doch das Sein selbst sogar zu einem blossen Worte,
zu einem Relationsbegriff. Für den Grund des Seins tritt eine
andere Kategorie ein. Da kann es nicht Wunder nehmen, dass
das Etwas nicht am Anfang stehen kann, so wenig als das Sein.
Darum darf aber auch an der Paradoxie kein ernstlicher Anstoss
genommen werden, welche in unserer Charakteristik das unend-
liche Urteil bildet. Ist es doch dasjenige Urteil, in welchem trotz
allem scheinbaren Spiele mit dem Nichts der Grundsatz der
Continuität sich ausprägt.
Darüber aber entsteht die eigentliche schwere Frage: ob
das Gesetz der Continuität von der Logik auf die Ethik
als übertragbar gelten kann. Mag immerhin der Ursprung
sich für den reinen Willen noch denkbar erweisen; das lässt
sich wenigstens annehmen. Mag demnach auch immerhin die
Realität selbst für die Ausführung des reinen Willens als an-
wendbar gedacht werden können ; die durchgreifende Frage bleibt
immer, ob das Denkgesetz der Continuität auch für den Willen
und also für die Ethik anwendbar werden kann. Es regt sich
der Verdacht, als ob es sich hier nur um eine blosse, leere
Metapher handeln könnte.
Die Continuität ist ja etwas ganz Anderes als die
Identität. Diese, so sehr sie das reine Denken bedingt, mag
auf den reinen Willen übertragbar werden; denn auch in ihm
98 Der Begriff des Willens.
ist Denken vorhanden und nicht auszulöschen. Die Continuitat
dagegen müsste sich ja auf das Wollen selbst übertragen lassen,
wenn anders dieses Wollen, gemäss der Continuitat, aus seinem
Ursprünge erzeugt und dadurch zum reinen Wollen gemacht
werden muss. Hier entsteht also die Gefahr, dass der mathe-
matische Vollwert der Continuitat in Misskredit geraten könnte,
wenn dieser Begriff für die Ethik zu einer historischen Metapher
missbraucht würde; wie sehr immer für den historischen Sprach-
gebrauch dieselbe von Nutzen sein mag. Die Methode der Rein-
heit, auf Grund der Wahrheit, fordert die Einhaltung des strengen
Sinnes der Continuitat
Dieser Zweifel an der Anwendbarkeit der Continuitat auf
den ethischen Begriff des Willens beruht jedoch auf einer mangel-
haften Einsicht von dem ethischen Problem und seinem Ver-
hältniss zum Begriffe des Willens. Mit anderen Worten, es ist
psychologische Befangenheit, unter der dieses Bedenken sich ein-
nistet. Man meint eben, die Psychologie und nur sie habe den
Begriff des Willens zu entwickeln; und man hält es nicht für
buchstäblich richtig, dass die Psychologie keine Competenz, ja
keinen Anlass hätte, vom Willen zu handeln, — vom Willen,
nicht von Trieb und Begierde — wenn nicht die Ethik den
Begriff entdeckte.
Ein Begriff ist es, mit allen Complicationen und Schwierig-
keiten des Begriffs, als der der Wille zu bestimmen ist. Es ist
keineswegs eine unmittelbare Naturtatsache, die zu analysieren
wäre. Wenn es sich aber um eine Complication begrifflicher
Momente handelt, und um eine Vereinigung derselben in die
Einheit des Begriffs vom Willen, so lässt es sich verstehen, dass
das Gesetz der Continuitat bei dieser Begriffsbildung des Willens
in Kraft treten kann; wenn anders die Continuitat nicht lediglich
in der Mathematik und Physik zum Vollzug kommt.
Der Unterschied in der Erörterung des Willens, wie die
Ethik sie anzustellen hat, gegenüber der Psychologie, liegt in der
Berücksichtigung des Begriffs der Handlung. Für die Ethik
kann und darf es kein Wollen geben, das nicht in Handlung sich
vollzieht. Wie sehr man den Entstehungsgründen des Willens
nachspüren und ihrer Entwickelung nachgehen muss, so darf
man doch darauf sich nicht beschränken; sondern man muss
Der Wille und die Handlung. 09
ebenso genau immer auf das Ende achten. Ohne den Ausgang,
den das WoDen nimmt, ist kein Wollen anzunehmen. Die so-
genannte Absicht und die Gesinnung entziehen sich mensch-
licher Einsicht.
Wie sehr femer auch ein Antrieb angeboren und ererbt
sein mag, so darf er dennoch nicht als der Herd und Quell des
Willens, wie die Ethik ihn braucht, anerkannt werden. Alle
diese Psychologie gehört in die Metaphysik des Ding an
sich, die die Rätsel der Welt als Rätsel aufgibt, um sie in Rätsel-
worten lösbar erscheinen zu lassen. Die Ethik trennt den Anfang
des WoUens nicht von seinem Ende ab. Daher gehört für sie
der Wille und die Handlung zusammen. Das ist schon
das erste Zeichen von der Bedeutung der Continuität für die
Ethik des Willens.
Aber sie erstreckt sich weiter. Schon bem Wollen tut sich
eine schier unübersehbare Menge und Mannigfaltigkeit von
Elementen und Ansätzen hervor, die auf Triebbewegungen zurück-
zugehen scheinen. Und indem es aus diesem Gewirr heraus
dennoch zur Handlung kommt, so türmen sich hier dieselben
Hemmnisse nur noch gesteigert auf. Zu dem Gewühl von
Trieben tritt das Gemisch und Gewirr von Gedanken
und Vorstellungen hinzu. Wie soll es dabei zu einer Ein-
heit der Handlung kommen, die dennoch aber gefordert wird;
ohne die der BegritTder Handlung nicht zustande kommen kann?
Hier gerade wird das Denkgesetz der Continuität der Ethik
seine Hilfe leisten. Und hier wird das Urteil des Ursprungs,
und ebenso das der Realität sich wirksam erweisen; wirksam
und hilfreich. Denn es ist freilich ja eine Nachwirkung der
Logik, von der die Ethik hier ihren Nutzen zieht. Aber das ist
ja ihr Recht und ihre Aufgabe. So fordert es das Grundgesetz
der Wahrheit.
Wir w^ollen nicht weiter in der Darlegung dieser Beziehung
des Ursprungs, der Realität und der Continuität auf den Begrifl
des Willens eingehen; würden wir dadurch doch nur der Dar-
legung dieses BegrifTs vorgreifen. Nur ein Moment sei noch her-
vorgehoben, weil es mit dem Problem der Wahrheit zusammen
gehört. In dem Willen, insbesondere auch in der Handlung
bildet das Moment der Bewegung die hauptsächliche Schwierig-
7»
100 Bewegung und Bewusstsein.
keit. Der Wille gilt als etwas Inneres; und wenn er noch so
sehr auf Ansätze und Impulse zurückgeführt wird, so werden
diese als geheimste Regungen des Innern angesehen.
Daher konnte der Gedanke entstehen und Grundlage einer
Weltanschauung werden, und als solcher sich immer wieder er-
neuern, dass der Wille und der Intellekt Dasselbe seien.
Die Handlung dagegen macht auf den Unterschied aufmerksam.
Sie beachtet man daher nicht als einen integrierenden Bestand-
teil des Willens, wenn man auf die Identität ausgeht. In der
Handlung erstreckt sich die Bewegung. Und diese Bewegung
kann nicht lediglich als eine innere genommen werden, wie jene
keimhaften Triebbewegungen; denn sie geht geradezu auf das
Aeussere und auf die Veräusserung aus. So deckt sie denn den
Gegensatz auf, der in dem Willen gelegen ist.
Dieser Gegensatz wird zum Widerspruch unter der herr-
schenden Ansicht von dem Begriffe der Bewegung, demzufolge
die Bewegung zur Materie gehöre: Matter and Motion; das
Denken allein aber das Bewusstsein charakterisiere. Wenn
daher in der Handlung und also auch im Willen Bewegungen
sich vollziehen, so entsteht das schwere Bedenken, dass dadurch
der Wille materialisiert würde. Oder aber es entsteht kein Be-
denken darüber, und man zieht die Folgerung daraus, dass nicht
nur der Unterschied im Allgemeinen hinfallig sei, was uns hier
nicht weiter zu irritieren braucht; sondern auch dass er für den
Begriff des Willens irrelevant sei. Diese Consequenz würde aber
nur dem psychologischen Vorurteil zustatten kommen; denn
für die Ethik dürfte es doch wohl nicht gleichgiltig scheinen,
ob die Handlung aus so heterogenen Elementen, wie die materielle
Bewegung und das abstrakte Denken sind, zur Einheit gebracht
werden kann.
Unsere Logik der reinen Erkenntniss hat nun aber zeigen
wollen, dass diese Heterogeneität nicht vorhanden ist: dass viel-
mehr im Denken selbst, in den reinsten P'ormen des Denkens
die Bewegung auftaucht und sich durchsetzt. So hat sie sich
im Urteile der Mehrheit und in der Kategorie der Zeit
bereits als das schaffende Motiv erwiesen. Es ist also kein
Widerspruch zwischen Bewegung und Denken, wie
zwischen Materie und Bewusstsein; sondern im Denken selbst
Projektion des Voreinander. 101
i^'altet die Bewegung. Und das Denken selbst könnte nicht nur
nicht zur Vollendung, nicht zur Entwickelung kommen; sondern
es könnte gar nicht seine Erzeugung des wissenschaftlichen In-
haltes beginnen, wenn es nicht als reine Bewegung sich zu voll-
ziehen vermöchte.
Wenn aber die Bewegung schon Denken ist, so kann nicht
nur widerspruchslos im Willen Bewegung enthalten sein; die
Eigenart des Willens darf zugleich sich behaupten, welche in
der Bewegung des Triebes und der Handlung sich darlegt; sie
braucht nicht zum Denken des Intellekts nivelliert zu werden.
Bewegung und Denken sind Beide Bewusstsein; Beide
aber selbständige Arten des Bewusstseins, die zwei Arten
der Vernunftinteressen vertreten.
Unsere logische Charakteristik der Zeit wird hier von be-
sonderem Nutzen. Wir fassen die Zeit nicht als Succession des
Nacheinander, sondern als die Projektion gleichsam des Vor-
einander. Die Zukunft geht uns voran, und die Vergangenheit
folgt nach. In dieser Anticipation der Zukunft, auf welcher die
Zeit beruht, betätigt sich nun aber auch die Bewegung und die
Begehrung.
So zeigt es sich, dass die logische Charakteristik der Be-
wegung und der Zeit zugleich in sich enthält die psychologische
Analyse, von welcher die Charakteristik des Willens, welche die
Ethik anzustreben hat, nicht absehen kann. Ja, es bedarf gar
nicht einmal der psychologischen Analyse als einer Vermittelung;
vielmehr steht die ethische Begriffsbestimmung unmittelbai* auf
dem logischen Grunde. Und was Logik und Ethik von Be-
wegung und Willen lehren, davon hat die Psychologie auszugehen.
Man sieht nun aber hieraus zugleich, dass es nicht eine
Anpassung ist, in welcher die Methode der Reinheit von der
Logik auf die Ethik übertragen wird. Denn diese Reinheit,
welche in der logischen Charakteristik der Bewegung zu Tage
tritt, ist an und für sich auf die Ethik bezogen; man könnte
denken berechnet. Die Art des Willens wird bereits durch-
sichtig bei dieser Beleuchtung der Art des Denkens.
Denn das war es doch immer, was den Willen, was die Begierde
vom Denken unterschied, dass sie gleichsam vor uns herhüpft,
während das Denken bedächtig einherschreitet; Schritt nach
102 Bewegung im Denken und Wollen.
Schritt; nicht Schritt vor Schritt. Jetzt aber sieht man nun,
dass ebenso auch das Denken springt und vorauseilt, und in
diesem Vorauseilen und Vorwegnehmen Reih und Glied erst
bildet; in dieser Anticipation seine Ordnung nicht nur, sondern
auch seinen Inhalt erzeugt.
Von dieser Gleichartigkeit aus, die so in Bewegung und
Denken, und also in Willen, Handlung und Denken erkennbar
wird, eröffnet sich die Möglichkeit, die volle Statthaftigkeit der
Anwendung des Grundgesetzes der Continuität. Aber das
wollen wir an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Dahingegen
sei hier nur noch betrachtet, was sich an diesem Beispiel für unser
Grundgesetz der Wahrheit herausstellt. Es bedeutet uns die
Einheitlichkeit des theoretischen, des logischen und des ethischen
Problems. Wir hatten gesagt, dass weder in der Logik allein,
noch in der Ethik allein Wahrheit bestehe; dass sie vielmehr
lediglich in der Verbindung, in der Harmonie Beider enthalten
sei. Es war aber dabei der Ausdruck untergelaufen, dass die Wahr-
heit der Logik erst von der Ethik her zuwachse. Wir hatten den
Ausdruck sogleich zu verbessern gesucht. Jetzt sehen vär es nun
aber deutlich, wie innerlich diese Einheitlichkeit eingerichtet ist.
Schon im Denken regt sich, um es einmal schroff und un-
genau, auszudrücken. Wollen; denn im Denken regt sich Be-
wegung. Da kann es denn wohl nicht Wunder nehmen, dass
das Problem des Willens, wenn es als ein solches ausgewachsen,
ausgereift ist, in innigster methodischer Eintracht mit dem Pro-
blem des Denkens allein zu formulieren, zu behandeln und zu
lösen ist. Die Methode der Reinheit wird nicht lediglich von
der Logik auf die Ethik, so gut es eben gehen will, zu über-
tragen sein; in ihrer ersten Betätigung am Denken selbst strahlt
sie auf das Wollen aus. Daher kann die Ansicht von einem
Widerspruch, oder auch nur von einem Gegensatz der beiden
Probleme und Interessen nur auf einem verhängnissvollen Irrtum
beruhen, der ebenso schwer der Logik anhaften muss, wie er
die Ethik belastet. Das Grundgesetz der Wahrheit, das keine
doppelte Buchführung anerkennt, fordert nicht nur die Einheit-
lichkeit der Methode der Reinheit; sondern es geht, sofern es
von der Logik ausgeht, zugleich von der Zuversicht aus, dass
diese Forderung gnmdsätzHch in Erfüllung gehe.
Das logische und das ethische Problem. 108
Anstatt der Uebertragung, welche man vermutet und arg-
wöhnt, ist es daher, wie es sich zeigt, nur eine Verwandlung
des Problems, als welche der Unterschied von Ethik und
Logik sich herausstellt. Und wie alle Verwandlung bei allen
neuen Elementen, welche dafür in Aufnahme kommen, im
Grunde doch nur eine Selbstverwandlung ist, so ist es auch hier
der Fall. Das Denken, das die Bewegung mit sich führt, ver-
wandelt sich selbst in Wollen und Handlung. Doch das ist hier
schon zuviel gesagt; nur dies darf ausgesprochen werden, dass
das logische Interesse, das Interesse an der Wissenschaft der
Natur, sich selbst verwandelt in das ethische Interesse an dem
Begriffe des Menschen, seiner Handlung und seiner Weltgeschichte.
So entsteht, auf Grund der Wahrheit, das Problem des reinen
Willens.
Zweites Kapitel.
Die Qrundlegfung: des reinen Willens.
Das Problem der Ethik haben die bisherigen Erwägungen
als das Problem des reinen Willens eingeführt; wie das Problem
der Logik das der reinen Erkenntniss ist. Selbst der Schein
künstlicher Abstraktion muss von diesen Terminis sich entfernen;
insbesondere aber von dem des reinen Willens. Von der Er-
kenntniss kann man denken, dass sie immerhin an sich schon
da gewesen und als Erkenntniss bezeichnet worden sei, bevor sie
als reine Erkenntniss erkannt und bezeichnet wurde. Pvtha-
goras und Demokrit sind vor Piaton dagewesen. Der Wille
dagegen war noch gar nicht zur Bezeichnung gekommen, ehe er
als reiner Wille, als Wille der Ethik entdeckt worden war. Und
es scheint paradox, aber es entspricht dem genauen Sachverhalt
bei Piaton, dass er die Methode der Reinheit auf das Problem
des Willens angewendet hat, während der Terminus des Willens
bei ihm noch verschleiert ist. Wie mag es zu erklären sein,
dass der Begriff und der Gedanke des Willens — denn um den
Gedanken selbst handelt es sich bei dieser Frage — so spät zur
Klarheit erwacht und zur Auszeichnung gekommen sind?
Man kann der Frage durch eine andere Frage begegnen.
Die Kunst ist eine der allerfrühesten Betätigungen des mensch-
lichen Geistes; sie geht der Wissenschaft vorauf. Und von An-
fang an hat sie nicht nur mächtig die Gemüter ergriffen, sondern
auch der Zauber ihrer Wirkung ist früh ein Gegenstand des
Nachdenkens geworden. Und dennoch konnte es geschehen,
dass erst im Ausgange des 18. Jahrhunderts eine eigene psycho-
logische Qualität, ein sogenanntes Seelenvermögen für die aesthe-
Die Tragödie und das Problem des Willens. 105
tische Richtung des Bewusstseins zur Benennung kam. Dies ist
ein sehr lehrreiches Beispiel für die Abhängigkeit der Psycho-
logie bis in ihre Nomenclatur hinein von den sachlichen und
systematischen Aufstellungen der Probleme. Warum aber ist das
aesthetische Problem so ungewöliniich spät zur systematischen
Aufstellung gekommen?
Der Grund ist ein ähnlicher, wenngleich nicht ein so ein-
greifend wirkender, wie bei der Ethik. Die Kunst trat von vorn-
herein in eine innere Verbindung mit der Religion und mit dem
Kultus ein. Bei günstigster Auffassung wurde sie daher mit der
sittlichen Richtung des Bewusstseins in eins gesetzt. Andererseits
wurde sie aber auch von der Erkenntniss nicht grundsätzlich
unterschieden; daher blieb in dem wissenschaftlichen Interesse
auch das künstlerische mitenthalten. Die Eigenart, zu welcher
das aesthetische Bewusstsein sich qualificiert, sollte vielleicht
gerade hintangesetzt bleiben, damit man nur ihre innerliche Ver-
bindung mit Wissenschaft und Sittlichkeit durchaus nicht in
Zweifel ziehe.
Aehnlich geht es nun auch mit dem W^illen. Man darf
vielleicht sagen, dass er erst in der Tragödie zur Entdeckung,
zur Geburt gekommen ist. Was vorher dem menschlichen
Interesse am W^illen entspricht, das ist nicht der menschliche,
sondern allenfalls ein göttlicher Wille. Wenn der mythische
Mensch bis in die Anfänge der Poesie hinein fragt, woher all
dieses Treiben in der Menschenwelt stamme, so macht er keinen
Unterschied zwischen der Menschenwelt und der allgemeinen
Natur. Diese aber wird durch ein Schicksal geleitet, welches
mächtiger ist als die Götter, als der Göttervater selbst. Erst die
Tragödie stellt das Problem des Willens auf; ihr Springpunkt
ist dieses Problem. Auch hier bildet das Schicksal die Vor-
aussetzung; aber diese tritt in den Hintergrund. Das Schicksal
wird zum Untergrund der Sage; und von dieser Unterlage hebt
sich das Drama ab. Der Held ist zwar ein Geschöpf des Schick-
sals; aber er bleibt dies nicht. Und indem er sich zu einem
Andern macht, so erzeugt er das Problem des Willens. Der
WMlle tritt gegen das Schicksal auf.
Nachdem so bei Aeschvlus und immerhin auch bei
Sophokles das Problem des Willens entstanden war, konnte
106 Der göttliche Wille und der Logos.
Plato es zur begrifflichen Erörterung bringen. Wer möchte
aber glauben, dass ohne den Vorgang der Tragödie die Platonische
Ethik in ihrer reifen Tapferkeit erklärbar wäre. Noch weniger
wäre sie dies, als ohne den aestetischen Reiz der Erscheinung
«
die Correlation von Idee und Erscheinung in Piatons Termi-
nologie verständiich wäre. Mithin ist die Ethik der Kunst ge-
folgt. Wie könnte es da Wunder nehmen, dass die Ethik selbst
bei der Entdeckung des Problems vom Willen es noch nicht
zur Definition des Willens gebracht hat.
Auch Plato entsagte keineswegs in Sturm und Drang dem
sanften Zwang seiner vaterländischen Religiosität; vielmehr
suchte er sich an der sittlichen Erneuerung derselben eifrig zu
beteiligen. Die Gottheit blieb auch ihm der Urquell aller Macht
des Guten; und das Gleich werden, das sich Gleichmachen der
Gottheit (o|ioitt)0'<; &£({>), dies blieb auch ihm die allgemeine Devise
der Sittlichkeit. So lange der Wille aber vorzugsweise der gött-
liche Wille ist, so lange kommt er als menschlicher Wille nicht
zu seiner genauen Bestimmung; zu einer solchen, die ihn vom
göttlichen Willen unterscheidet. Und so lässt es sich wohl ver-
stehen, dass er nicht einmal zur terminologischen Auszeichnung
gelangt.
Wenn im christlichen Weltalter endlich der Wille als ein
psychologischer Faktor auftritt, so dürfte der Theologie dieser
Fortschritt zuzuschreiben sein. Und der Logos des Juden Philo
dürfte hier als der treibende Grund zu erkennen sein. Der Wille
Gottes tritt hier gegen das Wort Gottes zurück. Das Wort ver-
tritt die Sprache; und die Sprache die Vernunft. Im Logos
wird der Wille, der göttliche Wille zum Intellekt.
Die wahrhafte Transscendenz würde durch die Causalität
des Willens verletzt. So wird der Wille im Wesen Gottes ent-
behrlich; er spricht, und es geschieht; sein Denken ist seine Tat.
Damit aber wird dem Willen für den Menschen der Spielraum
geöffnet. Nachdem Gott so zu sagen den Willen verloren hat,
fangt der Mensch an, ihn zu besitzen. Und andererseits sieht
man von hier aus zugleich, dass die Metaphysik, die immer
eigentlich nur Religionsphilosophie ist, weil sie die Wesensgleich-
heit zwischen Gott und Mensch festhält, auch die Identität von
Willen und Intellekt pantheistisch behauptet. Dieser Wille der
Der reine Wille der Sittlichkeit 107
Metaphysik ist daher gar nicht Wille, sondern Vor-Wille; Schick-
sals-Wille; nicht psychologischer Wille. Dieser entsteht erst als
ethischer, als reiner Wille.
Indem Plato das Problem des reinen Willens entdeckte,
wurde er von dem Problem der reinen Erkenntniss geleitet. In
diesem letztern Problem aber schloss er sich an die Kritik der
Wahrnehmung an, welche seit Heraklit das Denken beschäftigte;
welche in Parmenides und in Demo kr it zu gewaltigen Conse-
quenzen geführt hatte. F^reil ich hatte auch schon in dem Pytha-
goreischen Bunde diese Kritik der Empfindung eine
moralisierende Richtung genommen. Und die gesamte Mysterien-
lehre mit ihrem Kultus hatte die Naivität des sinnlichen Be-
wusstseins angegriffen und zerstört. Wir sehen es im Phaedrus,
wie energisch diese Entfremdung von der Sinnlichkeit auf Piaton
eingewirkt hat. Es ist ein Zwiegespann, von dem der Mensch
getummelt wird; und nicht ein einheitlicher Zügel lenkt diese
verschiedenartigen Rosse. Wie nun das reine Denken, als das
Denken der reinen Erkenntniss, von der Empfindung abgeschieden
wurde, so musste demgemäss auch der reine Wille, als der
Wille der Ethik, als der Wille der Sittlichkeit von der Em-
pfindung, von aller Sinnlichkeit abgelöst werden.
Man braucht diesen Willen gar nicht analog der reinen
Erkenntniss als den der reinen Sittlichkeit zu bezeichnen. Denn
Erkenntniss gab es wenigstens; in der Mathematik war sie vor-
handen; Plato hatte nur zu zeigen, dass diese Erkenntniss auf
reiner Erkenntniss beruht; und allenfalls auch, dass und inwie-
weit sie solche enthält. Sittlichkeit dagegen gab es als solche
gar nicht, bevor sie als solche erkannt war. Was sonst dafür
gehalten werden konnte, war Religion und Recht und Staat.
Und die Sophisten setzten alle diese Sittlichkeit auf die An-
klagebank; nicht aber, um eine bessere Sittlichkeit anstatt ihrer
zu errichten; sondern um alle Sittlichkeit als eitel zu erklären
und abzuschaffen. Wenn Plato also für die Sittlichkeit das
Problem des Willens in die Erörterung brachte, so musste dieser
Wille als der reine Wille sogleich gedacht werden; so musste
die Methode der Reinheit bei seiner Entstehung sich betätigen.
In der Kritik der Erkenntniss war Plato bemüht, die
Scheidung so radikal durchzuführen, dass er das Denken der
108 Begehrung und Vorstellung.
Krkenntniss gänzlich und allein auf die eine Seite rückte; auf
die Seite der Empfindung dagegen auch die Vorstellung. Man
sollte meinen, die Vorstellung hätte doch auch Anteil am Denken^
oder vielmehr das Denken Anteil an der Vorstellung. Plato da-
gegen macht einen scharfen Schnitt, und weist die Vorstellung
grundsätzlich der Empfindung zu. Dies hat nun seine Folge
für die Charakteristik und demgemäss für die psychologische
Construktion des Willens.
Das Analogon der Empfindung ist die Begehrung. Man
kann zwar noch zweifeln, ob eine genaue Analogie zwischen
Beiden anzunehmen; ob nicht vielleicht ein Unterschied zwischen
Trieb und Begierde zu urgieren sei, und der Trieb allein
das Analogon zur Empfindung bilde; während die Begierde viel-
leicht schon das Analogon zur Vorstellung ist. Jedenfalls kann
man dieses Bedenken erheben in Bezug auf die Auszeichnung
des Begehrens als einer Art der Seele. Plato bezeichnet diese
Seelenart nicht als Trieb, oder als das Triebhafte; sondern als
das der Begehrung Zugehörige, die Begehrung Bildende (€ki-
Ö'yiiTjTtxov).
In dieser seelischen Qualität muss man unzweifelhaft ein
Verhältniss zur Vorstellung anerkennen. Es entspricht dies dem
Wortlaut der Platonischen Erörterungen; und es entspricht dem
Sachverhalte des Problems. Denn es gilt eben die Unterscheidung
und die Abtrennung von allem Sinnlichen, also auch von der
Vorstellung. Und andererseits darf auch für den Willen nicht
vom Denken abgesehen werden; aber dasjenige Denken, von
dem die Unterscheidung zu vollziehen ist, ist eben das sinnliche
Denken der Vorstellung. So hat sich die Methode der Reinheit
vor Allem dahin zu richten, dass sie von der Begehrung ausgeht^
und trotz genauer Anerkennung der Eigenart in ihr zugleich
doch auch ihrem Zusammenhange mit der Vorstellung nachspürt^
um mit der Bekämpfung der Begehrung auch die Vorstellung
mitzutreffen.
Was entspricht nun aber dem reinen Denken im Willen?
Es kann nichts Anderes sein als der reine Wille selbst; aber
der ist bei Piaton als solcher nicht benannt. Und mit dem reinen
Willen fehlt der Wille überhaupt. Ein Mittelding tritt dafür
ein, unter einem Namen, dessen schwere Uebersetzbarkeit schon
Piatons Terminologie. 109
ein Symptom sein dürfte für die Compliciertheit und mangel-
hafte Bestimmtheit des Begrifl's; das Eiferartige (ftü{io£tSs(;) wird es
gewöhnlich übersetzt. Aber der Eifer gibt den Sinn des Wortes
nicht genau wieder. Der Zorn ist seine Grundbedeutung. Zorn
(orjjr^ steht aber bei Homer für die Gemütsbewegung überhaupt,
also auch für den Eifer (^ühöq); während dieser in seinem grie-
chischen Worte schon etymologisch allgemein für die Seele
steht, die Rauchseele (fumus). Was konnte denn nun wohl
Plato dabei gedacht und damit beabsichtigt haben, dass er zwei
Worte von derselben Wurzel für einen so wichtigen Unterschied,
auf dem die neue Ethik basiert, einsetzte? Man erkennt in der
Bildung des zweiten Wortes, dass er nur die Art und Gruppe
(sISoi;) des &ü|jlo(; dem neuen Begriffe zuordnen mag; aber diese
Einschränkung dürfte doch für eine solche fundamentale Unter-
scheidung nicht recht hinreichend scheinen.
Die griechische Sprache hat jedoch in dem ersten dieser
beiden Worte, in der Begierde in scharfer Deutlichkeit die sinn-
liche Beziehung kenntlich gemacht. In der Praeposition gegen
{iz\) ist die aggressive Subjektivität, die auf ein äusseres Ding hin-
strebt, ausgedrückt und biossgestellt. Wenn wir dafür Gegen-
strebung, Gegenbegehrung sagen würden, so wäre der Sinn nicht
getroffen; denn dieses unser Gegen bezieht sich auf eine corre-
lative Strebung; während die griechische Vorsilbe auf ein Ding,
als den Gegenstand der Begehrung, hinweist. Dieser Hinweis auf
ein äusseres Ding macht für den griechischen Denker den
Unterschied fühlbar und genau zwischen der Begierde und der
andern, der neuen Art, welche zwar auch mit dem Gemüte zu-
sammenhängt; bei welcher aber das Gemüt als Gemüt hervor-
gehoben bleibt, und das Hinschielen oder vielmehr das Los-
steuern auf Etwas, was nicht im Gemüte liegt, was ihm äusser-
lich und fem ist, nicht nur nicht zum Ausdruck gelangt, sondern
durch den Gegensatz gerade abgewehrt wird. So mag es zu ver-
stehen sein, dass Plato dieser auffälligen terminologischen Neu-
bildung sich bedient hat.
Was hätte er denn für das Desiderat des Willens wählen
sollen? Er verschmäht ja das griechische Wort für Wollen
nicht; er bildet auch das Abstraktum der Tätigkeit daraus
(ßo-y/.rjoi;). Aber gerade weil das griechische Wort von derselben
110 Rat und Vernunft.
Wurzel ist, wie das lateinische, und wie unser Wollen, so kann
man es verstehen, dass Plato es vermeiden mochte, das neue
Seelenvermögen dieser etymologischen Wurzel zu entnehmen;
denn das entsprechende Wort ist dort bereits vorhanden; aber
es bedeutet Beschluss und Rat (ßoüXi^^; und es ist die Frage, ob
man nicht vielmehr sagen muss, Rat und Beschluss. Die Be-
ratung, die Ueberlegung spielt also in diesem Worte eine wich-
tige, vielleicht die entscheidende Rolle. Das ist aber gerade das
andere, das theoretische, das Vorstellungs-Element, welches nicht
in den Vordergrund treten, welchem nicht das Uebergewicht
zufallen sollte. Daher lässt es sich verstehen, dass Plato diese
ganze Sprachwurzel verlassen musste, wenn er das neue seelische
Moment beleuchten wollte.
Die Versuchung, bei diesem Worte zu bleiben, ist anderer-
seits freilich sehr beträchtlich. Denn welche Richtung immer
das neue Wollen einschlagen soll, so muss es doch mit der Vor-
stellung, weil mit dem Denken verbunden bleiben. Daher wird
der Ausdruck für Vernunft, mit dem seit Anaxagoras ein grosser
Spuk getrieben wurde, für dieses Problem benutzt; kann er aber
auch auf dasselbe eingeschränkt werden? Der Nus, dem das
mythologische Denken der Griechen die göttliche Personification
zu verleihen nur allzu geneigt war, er wird jetzt als die sittliche
Vernunft des Menschen praecisiert. Das ist der Wille, und so
hätten wir das andere Wort für Willen, welches Plato tatsächlich
häufig und nachdrücklich gebraucht. Aber gerade an diesem
Worte kann man wieder die Gefahr erkennen, die der neue Ge-
danke zu bestehen hatte. Dieser selbe Nus steht auch für die
theoretische Vernunft, für das reine Denken der Erkenntniss;
und er wird mit der Erkenntniss der Wissenschaft (sinaxT^iir^)
gleichgesetzt.
Hier macht sich nun wieder der Einfluss des originalen
Sokratischen Gedankens geltend, dass die Tugend Wissen sei,
wodurch jedoch das neue Wilienselement unterdrückt und unter-
bunden wird. Der Schatten, der bei allem Licht von diesem
Einfluss geworfen wird, zieht sich durch die gesamte ethische
Terminologie der Griechen. Dass die Tugenden bei Piaton und
ganz besonders auch bei Aristoteles an der Grenze von
Theorie und Praxis liegen, hängt damit zusammen. Und
Der Affekt. 111
auch die praktische Vernunft (voO; ^loaxTixo;), die von Aristoteles
ab durch die Welt geht, beruht auf diesem Sokratischen Grunde
des Wissens. Obzwar nun aber der Hinweis auf die Handlung
in diesem Terminus gelegen ist, wollen wir dennoch den des
reinen Willens vorziehen; aber allerdings gemäss der Platonischen
Orientierung auf den Eifer, den wir besser und genauer über-
setzen durch Affekt.
In der Terminologie des Affekts und der Affekte ist es
interessant und lehrreich, die terminologische Rolle zu beachten
in welcher der ^ytid; von der Stoa ab schwankt. Bald ist er
selbst nur einer der Affekte, während der Ausdruck für den
Begriff des Affekts die Gemütsbewegung (^ct^oc) ist; bald bedeutet
er den zusammenfassenden Terminus für alle Gemütsbewegungen
samt den Eigenschaften; der Ausdruck des Pathos dagegen wird
mehr auf den seelischen Eindi*uck überhaupt, also auch auf die
Empfindung bezogen. Von diesem Schwanken in der Termino-
logie des Affekts ist Notiz zu nehmen. Der Affekt ist, als &ü|xd(;,
nicht nur und lediglich einer der Affekte, sondern es gilt, sie
alle zusammenzufassen, aber unter demselben Ausdruck; kein
anderer ist in gleicher Weise bezeichnend. Es bleibt bei dem
Ausdruck, auf den Piaton zurückging, und an den er seinen
neuen Begriff anschloss.
Beim Willen muss vor Allem der Affekt in helles Licht
gesetzt werden. Es darf nicht bei der Vorstellung und beim
Denken verbleiben; um so weniger, als Vorstellung und Denken
durchaus nicht ausgeschaltet werden dürfen. Man darf auch nicht
die Terminologie auf den Kopf stellen, wie es Spinoza getan hat,
der den einen scholastischen Fehler, demzufolge er Willen und
Intellekt gleichsetzte, durch den andern, originalen Fehler zu ent-
kräften suchte, dass er das sittliche Denken selbst zum Affekt
umstempelte. Die sittliche Vernunft muss nach ihrem innersten
Zusammenhange mit dem reinen Denken gewahrt bleiben; die
Kraft der Erkenntniss darf in ihr nicht umgestimmt, noch um-
gedeutet werden. Aber allerdings auch der Affekt muss in ihr,
in seiner eigenen Art und Kraft isoliert in Geltung bleiben.
Darauf aber muss die Frage gehen, ob diese Isolierung mit der
Reinheit sich verträgt; ob sie ihr zugemutet werden kann. Diese
Frage bildet die Schwierigkeit im Begriffe des Affekts.
112 Die Gesinnung.
Es ist indessen nur ein Vorurteil, dass die Reinheit des
Willens lediglich, oder auch nur vornehmlich auf das Element
des Denkens im Willen bezogen werden dürfe. Dieses Vorurteil
ist genährt worden durch das lateinische Wort für den Willen,
in welchem dem juristischen Sprachgebrauche des römischen
Rechts gemäss die Absicht vorwiegend wird. Indessen würde
das juristische Moment der Absicht das theoretische Element
<les Willens noch nicht zu einer übergreifenden Geiahrlichkeit
und Zweideutigkeit gebracht haben, wenn nicht ein kompliciertes
religiöses Motiv dabei mitspielte und zu einer sehr vordringlichen
Mitwirkung gekommen wäre. Voluntas wird geradezu diesem
Sprachgebrauche gemäss gleichbedeutend mit Gesinnung. Und
in der Gesinnung glaubt man den Charakter des Willens be-
stimmen und begründen zu können.
Dies ist das dichteste und schädlichste Vorurteil, mit
dem der reine Wille zu kämpfen hat, dass er nur in der Ge-
sinnung wurzeln dürfe, und nur als Gesinnung in die Erscheinung
treten könne. Nicht darauf geht unser Einwurf, dass das Innere
der Gesinnung nicht in die Erscheinung treten könne; vielmehr
soll der reine Wille es zur Erscheinung bringen; aber dagegen
richtet sich die Frage, ob es ausschliesslich die Gesinnung
sein dürfe und sein müsse, welche in die Erscheinung tritt, als
ob nicht auch die Erscheinung selbst, das in die Er-
scheinung Treten und das in die Erscheinung Bringen
von einer eigenen Bedeutung und von sittlicher Selb-
ständigkeit wären.
Nach der gewöhnlichen Vorstellung liegt die Sittlichkeit,
also der reine Wille in der Gesinnung beschlossen. Sie ist das
Innere, und auf dies allein kommt es an. Das Aeussere ist das
Aeusserliche, das Nebensächliche, das Fremde, was gar nicht zur
Sache gehört. Das ist der Fehler. So wird der Wille schlechter-
dings zum Denken. Dass er in eine Tat übergeht, das steht auf
einem andern Blatt. Darin liegt nur die Veräusserlichung, zu
der der Wille gleichsam verdammt ist. Ist es denn aber wirklich und
wahrhaftig dem Willen äusserlich und unwesentlich, dass er in
einer Tat sich auslöst? Wäre es ausreichend für ihn, würde er
seinen Begriff und seine Aufgabe erfüllen, wenn er in der Ge-
sinnung eingesenkt bliebe?
Die Polemik gegen das Gesetz. 113
Wir stehen hier vor einer ernsten Collision zwischen der
Ethik und der religiösen Ansicht. Die ganze Zweideutigkeit
der Religion liegt hier wie in einer Nuss. Und die Zwei-
deutigkeit betrifTt hier nicht die theoretischen Interessen der
Vernunft, sondern die ethischen; und zwar bis ins Populäre
hinein die moralische Grundansicht, lieber den guten Sinn
freilich, den die Religion mit der Gesinnung verbindet, kann
kein Zweifel sein. Die Religion ist aus dem Heidentum ent-
sprungen, also aus dem Opferdienst. Das Opfer hat eine weite
Speisekarte; es erstreckt sich vom Moloch- und Astarte-Dienst
bis zum Tieropfer und seinen symbolischen Ueberbleibseln.
Gegen diese Auffassung des Gottesdienstes, als der Sittlichkeit,
musste die Religion Einspruch erheben. Diese Taten durften
nicht als die zulängliche Tat des reinen Willens in Geltung
bleiben. Gegen diese Tat rufen die Propheten und die Apostel
das Gewissen auf Gott sieht ins Herz. Gott erkennen, das heisst
daher Gott lieben und ihm dienen. Ein Gott der Gesinnung ist
der Herr; so darf man wohl den Plural des Wortes übersetzen,
welches im Singular Wissen und Einsicht bedeutet. So ist auch
im Neuen Testament die Gesinnung in bedeutungsvoller Weise
hervorgehoben worden. Nicht in der legalen Befolgung von Ge-
bräuchen, denen das Alte Testament und der Talmud, wenn-
gleich in Unterscheidung von dem rein Sittlichen, dennoch aber
in einem lebendigen Zusammenhang mit diesem, den Charakter
und den Wert eines religiösen Gesetzes zuerteilten, liegt der
wahre Gottesdienst, die unzweideutige sittliche Tat. Das ist eine
klare geschichtliche Tendenz, die von entscheidender Bedeutung
geworden und geblieben ist. Dennoch sind auch hier die Zwei-
deutigkeiten sogleich hervorgetreten, die bei dieser Ignorierung
der Tat, bei dieser Pointierung der Gesinnung unvermeidlich sind.
Schon die Attaque gegen das Gesetz schiesst über das Ziel
hinaus, insofern unter dem Gesetze nicht allein der Ritus be-
kämpft, sondern in der kühnen Consequenz des Gedankens auch
das sittliche Gesetz in den Zehn Geboten mitgetroffen wird. Und
femer, wie könnte irgend eine Religion auf den Gottesdienst des
Gebetes und der festlichen Versammlung verzichten? Könnte es
etwa, oder müsste es die reine Ethik für die Sammlung der
Menschen zu sittlichen Gedanken und Gefühlen? Die einseitige
114 Die Schranke in der Beurteilung des Willens.
Betonung der Gesinnung drängt das einseitige Element des Denkens
hervor; und diese Einseitigkeit wird um so gefahrlicher, wenn
dieses Denken es doch nimmermehr zur Erkenntniss zu bringen
vermag. In der Sprache des Neuen Testaments ist diese
Schwierigkeit schon in dem Worte für Gesinnung (Stdvoia) nahe-
gelegt. Es ist dies das Wort, welches Plato für die strengste
Form des wissenschaftlichen Denkens, für das mathematische
auszeichnet. Und dieses abstrakte Denken oder ein demselben
wie entfernt immer vergleichbares sollte zum Beweggrund des
Willens werden können?
Dasselbe Wort kommt in der griechischen Sprache freilich
auch sonst für das Denken im Allgemeinen und für eine Ver-
innerlichung des Bewusstseins vor, welche der Gesinnung nahe-
kommt. Dennoch würde sich der religiöse Sprachgebrauch zu
solcher Praegnanz nicht wohl entwickelt haben, wenn der Ge-
danke nicht aus dem Grundverhältniss, aus dem Wechselver-
hältniss von Gott und Mensch erwüchse. Gott hat das
Denken, welches zugleich Wollen ist, w^il es zugleich Tun und
Ausführen ist. Ferner prüft und kennt Gott allein das Innerste
der Menschen. Für ihn ist daher die Gesinnung ein Gegenstand
des Wissens, wie sie sein Wissen als Wollen erfüllt und er-
schöpft. Die menschliche, die sittliche Beurteilung soll zwar
für die Erzeugung und Ent Wickelung des Willens auf diese
Quelle hinweisen; aber sie darf dieselbe niemals ausschliesslich
als das Symptom und als den zulänglichen Erklärungsgrund
des Willens betrachten. Andernfalls entsteht geistlicher Hoch-
mut; Ueberschätzung der Fähigkeit und der Competenz, den
letzten Grund des Willens klar und rein darzulegen, zu recog-
noscieren und zu würdigen. Die Ausführung glaubt man dann
als etw^as Aeusserliches nicht eingehend beachten zu müssen; ist
sie doch mangelhaft in Bezug auf die Durchsichtigkeit und auf
die Consequenz. Dass hingegen notwendigerweise dieser Mangel
aller Tat anhaftet, und dass in dieser Mangelhaftigkeit sowohl alle
unsere Tat sich vollzieht, w4e demgemäss auch alle unsere Be-
urteilung unserer Taten: über diese notwendige Bescheidenheit
unseres praktischen sittlichen Urteils setzt man sich dabei
hinweg. Und doch ist diese der Hauptgrund und Schutz der
Gesinnung.
Die Absiebt 115
Wir stehen an diesem Punkte vor einem Schiboleth in der
Religionsgeschichte. Die Gesinnung wird zum Glauben im
Kampf gegen die Werke. Freilich wenn die Werke die Opfer-
werke der Kirche sind, und wenn diese das unfehlbare und zu-
längliche Zeugniss der Gesinnung sein sollen, so muss der Glaube
dagegen aufgerufen werden. Aber die Zweideutigkeit beginnt,
wenn die Tat als die Frucht des Glaubens dennoch bezeichnet
wird. Wenn sie die Frucht ist, so muss die Blüte bis in die
Reifung der Knospe nachwirken. Sie darf nicht zum Abfall der
Gesinnung werden. Bis in die äussersten Ausläufer der Tat muss
die Gesinnung mitwirken.
Und sie muss auf dieses Auslaufen in der Tat von Anfang
an bis zum Ende hinzielen. Man darf sich da nicht der Illusion
hingeben, als ob die Tat der natürliche Erfolg wäre, der sich
von selbst einstellt; es muss vielmehr ein innerlicher Zusammen-
hang zwischen der Gesinnung, zwischen dem Glauben und der
Tat anerkannt werden. Wenn man sich aber so die Frage
stellt, so muss man zu der andern Frage fortschreiten: ob man
der Gesinnung und also dem Denken allein die Hervorbringung
der Tat zusprechen darf; ob nicht vielmehr noch ein anderer
psychischer Faktor neben dem Denken in dem Willen, für die
Erzeugung des Willens angenommen werden muss.
Der Irrtum, dem wir entgegentreten, lässt sich auch ausser-
halb der religiösen Sphäre nachweisen ; er ist nicht der religiösen
Befangenheit etwa eigentümlich. In der allgemeinen, und zwar
nicht nur populären Reflexion unterscheidet man ähnlich die
Absicht von der Tat. Sie bezeichnet die Tragweite, welche dem
Denken in Bezug auf die Tat eingeräumt wird. Es scheint eine
weite Kluft zwischen Beiden zu liegen; die Absicht aber soll sie
bequem überbrücken können. Man würde dem Denken diese
Machten^'eiterung nicht zumuten, wenn nicht in alles moralische
Denken hinein ein Grundbegriff umfassend und beherrschend
eingriffe: der Begriff des Zwecks.
Man sieht sogleich, wie die grundsätzliche Bekämpfung des
Zwecks bei Spinoza mit seiner Hervorhebung des Affekts zu-
sammenhängt. Wenn das sittliche Denken Affekt werden sollte,
so musste der Zweck ausgestossen werden. Allerdings verdeckt
der Zweck die Distanz, welche z^vischen dem Denken und der
8*
Ilt5 Der Vorsatz.
Tat liegt. Der Zweck heisst ja auch das Ziel; wie Beide auch
mit dem Ende dasselbe Wort haben. Der Zweck scheint nur
gedacht zu werden ; da er nun aber auch das Ende und das Ziel
ist, so wird auch das Ziel nur gedacht; nur als das Ende vor-
gedacht. Damit würde der AtTekt ganz ausfallen.
Ohnehin ist für Sokrates schon der Begriff nichts Anderes
als der Zweck. Die Sittlichkeit ist daher nur Wissen bei ihm.
Der Gegenstand, der Begriff des Wissens ist ihm daher zugleich
der Zweck des Wollens. Bei Aristoteles dagegen verbinden
sich Logik und Theologie zu dem eigentümlichen Typus der
Metaphysik in den Grundbegriffen der Substanz und des Zwecks.
Beide werden von ihm gleichgesetzt. Daher verliert der Zweck
den offenen Schein eines theoretischen Begriffs, und gewinnt das
Ansehen eines unmittelbaren Beweggrundes, die Würde eines
schöpferischen Prinzips. So wird durch die Vermittelung des
Zwecks die Absicht in der Befugniss festgesetzt und begründet,
als der zureichende Grund der Tat gelten zu dürfen. Die Ab-
sicht wird als die subjektive Seite des Zwecks vorgestellt, der der
umfassende objektive Grund alles Tuns und alles Seins ist; der
schöpferische Grund des Seins.
Nun verfolgt aber schon die populäre Reflexion die Tendenz,
sicherlich ebenso sehr durch die Praxis der Justiz, wie durch
die religiösen Formen der Gelübde dazu veranlasst, die Absicht
dergestalt zu praecisieren, dass sie nicht schlechterdings mit dem
Zweck und dem göttlichen Zweck gleichgesetzt und verwechselt
bleiben konnte. Die Absicht musste als Vorsatz in schärfere
Prüfung genommen werden. Der Vorsatz entspricht in der
antiken Ethik der Stellung, welche in der modernen dem Problem
der Freiheit eigen ist. Zwar nimmt Aristoteles Freiheit an,
wo er den Vorsatz (Tcpooipsa»;) ausschliesst; aber demungeachtet
sieht man gerade daraus, wie genau er es mit dem Vorsatze
nimmt. Sofern der Vorsatz für die Tat gefordert wird, die
bei den Griechen eben schon als Handlung bezeichnet wurde, so
sollte es nicht bei der Absicht, als dem ausschliesslichen Grunde
derselben, sein Bewenden haben.
Der Vorsatz tritt der Meinung entgegen, als ob der Absicht
gegenüber die Tat nur ein äusscrlicher Anhang, eine in sich
unselbständige Folge wäre, die auch ausbleiben, etwa durch
Impulsas und propensione. 117
äussere Einwirkung gehemmt werden könnte, ohne dass dadurch
die Willenstat hinfällig und nichtig, noch nicht zum Sein ver-
vollständigt würde. Der Vorsatz geht über die Absicht hinaus,
und in die Richtung der Tat über. In der Praeposition des
deutschen, wie des griechischen Wortes ist die Vorwegnahme
des Satzes und der Ausführung bezeichnet. Diese kann nicht
der Vorstellung und dem Denken zufallen. Sie muss in einem
Schwung bestehen, den das Bewusstsein sich zu geben vermag,
in welchem die Tat entspringt; und in ihr der Wille.
Man wird versucht, für das Eigentümliche dieses Vorsatzes
an die sprachlichen Bemühungen und Anstrengungen zu denken,
welche Galilei erkennen lässt, um seinen neuen Begriff der
Bew-egung, für den der mathematische Begriff noch nicht ent-
deckt war, in einem ersten Ansatz und Anhub zum Ausdruck
zu bringen. Neben Impetus und Impulsus tritt da auch die
propensione auf. Auch durch sie soll das Uebergreifen und
Vorausgreifen in einer aktiven Vorneigung ausgedrückt w^erden.
Wir werden darauf genauer einzugehen haben. Hier mag be-
sonders für den Vorsatz auf die juristische Bedeutung desselben
hingewiesen werden. Der theologischen Allwissenheit gegenüber
wird im Rechte das Gewissen geschärft für eine gerechtere
Methode der Beurteilung, als sie unter dem Scheinbild der
religiösen Gesinnung möglich wird.
Und hier tritt der Wert und der Segen der Rechtsformen
und Formeln eindringlich hervor. Der Unterschied von Vor-
satz und Absicht kann hier zu fruchtbarer Deutlichkeit ge-
bracht werden; wenn nämlich das Eigentümliche des Vorsatzes
der Vorstellung und dem Denken, und somit auch der Absicht
gegenüber erkannt und klargestellt wird. Wir werden auch
hierauf zurückzukommen haben. Es soll jetzt nur erst die Auf-
merksamkeit auf den Vorzug gelenkt werden, den schon aus
dem Gesichtspunke der praktischen und persönlichen Moral und
Gewissenhaftigkeit die juristische Technik vor der Gesinnungs-
Ethik voraus hat. Zwischen der Gesinnung und der Tat liegt
eine weite Strecke, die nicht öde ist; sondern die von dem
Willen und zum Willen in mannigfachen Ansätzen imd Ab-
sätzen abgestuft bearbeitet wird. Eine solche Furche bildet der
Vorsatz.
118 Affectus und Affectio.
Unser Gedanke ist darauf gerichtet, das Eigentümliche des
Willens, und zwar des reinen Willens im Affekte zur Klärung
zu bringen. Der Affekt soll es verhüten, dass man die Vorstellung
und das Denken überschätzt und überbürdet; zugleich aber auch,
dass man die Tat zu einem blossen Effekt macht. Mit dem Be-
gehren und dem Trieb kommt man nicht aus; das hat sich
schon bei Piaton gezeigt. Den ^jj^oc aber, in dessen Art er den
Ursprung des Willens verlegt, suchen wir im Affekte wieder zu
erkennen und auf dieser Spur zu bestimmen. Was liegt eigent-
lich gegen den Affekt vor, dass er in solchem Misstrauen und
Verdachte steht, als ob er der Reinheit durchaus widerstreben
müsste?
Es ist hergebracht, bei dem Affekte an ein Uebermass zu
denken, welches in dem Masse auch die Norm überschreite.
Die Norm und das Mass pflegt man dem Denken vorzubehalten;
während das Uebermass, wie sehr in ihm die Kraft überschäumen
mag, diese Kraft dem pathologischen Auswuchs zu verdanken
habe. In dem Plus wird immer nur die Ueberschreitung und
Verletzung des Masses angenommen; nicht aber der notwendige,
der innerlich sich vollziehende Uebergang und Fortschritt.
Sollte doch vielmehr schon der sprachliche Zusammenhang
des Affectus und der Affectio darauf aufmerksam machen,
dass, wie die Affectio den notwendigen Erscheinungsmodus der
Substanz bezeichnet, so auch der Affectus die notwendige Er-
scheinungsweise des Willens in der Tat; die notwendige Ent-
wickelungsform, welche, jenseit des Denkens und aller Vor-
stellung, das Bewusstsein zu vollziehen hat, wenn es in der Tat
den Willen verwirklichen soll. Ohne diesen eigenartigen Innern
Drang wird der eigene Beitrag hinlallig und vernichtigt, der in
der Erscheinung, in der Verwirklichung selbst liegt, und liegen
muss. Mag immerhin der Reiz der Sympathie preiszugeben sein,
welche der Affekt fordert; die Selbständigkeit der Affektion hin-
gegen, in welcher der Wille einzelne Wirklichkeit wird, sie
spricht für die Normalität des Affekts.
Der eigentliche Grund jedoch, der den Verdacht gegen den
Affekt allezeit aufrecht erhalten hat, liegt in der Ansicht, in
welcher die Logik mit der Psychologie übereinkam in Bezug
auf den Begrilf der Bewegung. Die Psychologie aber war es,
Bewegung und Bewusstscin. 119
welche den Einfluss ausübte. Sie war indessen ihrerseits
durch die Physiologie beeinflusst und daher unterstützt. Die
Logik hingegen kam andererseits auch mit der allgemeinen
Metaphysik, mit der systematischen Philosophie der Welt-
anschauung hierin überein. Wie Materie und Bewusstsein als
die beiden Pole des Seins gedacht wurden, so auch Bewegung
und Denken; so wie Vorstellung überhaupt. Bewegung und Be-
wusstsein wurden zu Widersprüchen.
Da nun aber die Tat Muskelbewegung ist, so muss sie dem
Willen entrückt werden, wenn anders dieser Bewusstsein bleiben
soll; denn die Bewegung ist schlechterdings dem Bewusstsein
entrückt, weil widersprechend.
Diese Ansicht, auf die wir schon aufmerksam geworden
waren, muss erschüttert, muss beseitigt werden. Und wir haben
gesehen, dass die Logik in ihrer Grundlegung die Entwurzelung
dieses Vorurteils zu vollziehen suchte. Die Bewegung ist keines-
wegs das Attribut der Materie; so dass sie nur an dieser zur be-
grifflichen Bestimmung, und zwar in ursprünglicher Termino-
logie kommen könnte. Vielmehr führt die methodische Ter-
minologie die Bewegung auf das Denken und auf das Urteil hin.
Dieser Zusammenhang des Problems der Bewegung mit der
Logik der reinen Erkenntniss, und somit auch nach der gewöhn-
lichen Ansicht mit der Metaphysik, soll an dieser Stelle nicht
weiter verfolgt werden.
Dahingegen wollen wir jetzt den Zusammenhang der
Bewegung mit der Psychologie und der Physiologie be-
trachten. Für die Auffassung dieser beiden Gebiete soll die Be-
wegung als Bewusstsein dargethan werden. Nach der gewöhn-
lichen Terminologie haben es diese beiden Gebiete der Forschung
mit dem Bewusstsein zu tun, und zwar gerade nach dem Zu-
sammenhange mit, also aber auch nach ihrem Unterschiede von
der Materie des Central-Nervensystems. In den feinsten Be-
ziehungen, in welche die Physiologie die Entwickelung des Be-
wusstseins zu zerlegen hat, muss die Mitwirkung und Durch-
wirkung der Bewegung erkannt und abgeschätzt werden, wie
z. B. bei der Frage der Raumvorstellung. Nichtsdestoweniger
soll die Bewegung der Materie angehörig bleiben; obzwar ohne
sie der Raum, also eine Grundform des Bewusstseins, nicht mög-
120 Die centripetale und die centrifugale Bewegung.
lieh wird. Diese falsche Heterogeneität muss durchaus auf-
gegeben werden. Sie wäre sicherlich in der Physiologie nicht
entstanden, wenn sie sich nicht von der Physik auf sie ver-
erbt hätte.
Für die populäre Vorgeschichte der Physik, die sich als
empiristische Krankheit fortpflanzt, ist die Bewegung an der Ma-
terie und als Materie gegeben. Man vergisst, dass man ihrer
erst von dem Momente an habhaft wurde, als Galilei sie defi-
nierte; der sie aber eben nicht als gegeben annahm, sondern sie
rein erzeugte. Diese Bewegung der reinen Erkenntniss ver-
kennt man, wenn man die Bewegung an und für sich als Materie
annimmt. Und so wird sie denn erst recht in der Physiologie,
und mit neuer Verschuldung in der Psychologie als gegeben, als
die Erscheinung der Materie angenommen. Man glaubt noch
eine besondere logische Verpflichtung hierzu zu haben. Wenn
das Bewusstsein nach seinem Verhältniss zur Materie das Pro-
blem bildet, diese aber in der Bewegung zur notw^endigen Er-
scheinung kommt, so glaubt man in der Bewegung die Ursache
des Bewusstseins erkennen und ermitteln zu müssen. Damit
aber wird der Cirkel geschlossen, so dass es nunmehr kein Ent-
rinnen gibt.
Jetzt w^erden zw ei Arten der Bewegung unterschieden:
die centripetale und die centrifugale. Hiernach könnte es
scheinen, als ob die Bewegung dennoch wieder dem Bewusstsein
an- und eingegliedert würde. Aber das bleibt ein freundlicher
Schein. Die centripetale Bewegung ist nur soweit Bewegung, als
sie in den Nerven verläuft. Sobald sie aber dort ihren Lauf
vollendet hat, tritt auf Grund der Arbeit des Centrums das No-
vum des Bewusstseins auf. Es wäre schon irrig zu sagen, dass
die Bew^egung, die bis zum Centrum hin und in demselben statt-
findet, sich etwa in Bewusstsein verwandelte; denn das wäre nicht
der Uebergang in eine andere Art, der hier eben grundsätzlich
angenommen wird. Alle Identitäts-Spekulation, wenn sie nicht
systematische Identitäts-Philosophie ist, kapituliert vor dieser Feste;
denn die Bewegung ist, als die allgemeine Form der Materie, die
Ursache derjenigen Bewegung, welche in den Nerven verläuft.
Man glaubt der Logik zu folgen, indem man auf das Ge-
gebensein der Bewegung nicht verzichtet, sie nicht erst im Be-
Der Uebergang von Denken in Bewegung. 121
wusstsein etwa entstehen lässt. Und über die logische Schwierig-
keit, dass die materielle Be>vegung ein Anderes, nämlich Bewusst-
sein soll erzeugen können, hat man schon in der Skepsis des
Altertums und ebenso auch im modernen Sensualismus sich
hinweggesetzt. Der Agnosticismus, der die Miene des Kriticismus
annahm, hatte darüber hinweggeholfen; wir verstanden die Be-
wegung nicht besser und nicht schlechter als das Bewusstsein.
Das mochte eine Antw^ort scheinen, so lange die Frage nur nach
der einen Seite geht, auf die Entstehung des Bewusstseins in
Folge der Bewegung; w^ie aber, wenn die Frage auch nach der
andern Seite gestellt wird, auf die Entstehung der Bewegung in
Folge des Bewusstseins? Und sollte man etwa in dieser andern
Richtung die Frage nicht stellen dürfen, nicht stellen müssen?
Es ist dies der tiefe methodische Fehler in der Ethik und
daher auch in der Psychologie des Willens, dass man, von der
Logik und Metaphysik verleitet, nur nach der erstem, nicht
nach der letztern Richtung diese Frage gerichtet hat. Auch die
Freiheit des Willens hat den Anstoss nach der andern Richtung
der Frage nicht gegeben; vielleicht hat sie sogar eine Hemmung
dazu gebildet; denn der Wille wurde der Freiheit, wie man sie
dachte, zufolge vorzugsweise als theoretischer Wille gedacht.
Indem wir dagegen den Willen bis in die Fingerspitzen der Tat
verfolgen, so muss uns diese scheinbar rückläufige Bewegung in
den Vordergrund treten. Es muss demgemäss für uns dies zur
eigentlichen Frage werden* wie Vorstellung und Denken den
Uebergang in dieses Andere der Bew^egung erleiden können sollen.
Das wäre, in der Sprache der alten Metaphysik ausgedrückt,
das Problem des Willens, zumal des reinen Willens. Oder glaubt
man etwa, die Bewegung, auf welche doch die Vorstellung und
das Denken in dem Willen hinzielt und hinsteuert, sie ginge
das Bewusstsein nichts mehr an; sie sei eine Folge und eine
Erscheinungsform der Säurebildung in den Muskeln? So kann
man nur denken zu dürfen glauben, wenn man die Ausführung
der erzielten Bewegung nicht mehr zum Willen rechnet; dann
kann man meinen, sie auch zum Bewusstsein nicht mehr rechnen
zu müssen. Und die Unterscheidung der Bewegung in den
Muskeln und in den Nerven kann einen Vorwand dieser An-
schauung darbieten, welche den Zusammenhang zwischen dem
122 Die Unterscheidung der sensibeien und der motorischen Centren.
Bewusstsein und der Nervenbewegung allenfalls zugesteht; da-
gegen den zwischen dem Bewusstsein und der Muskelbewegung
für entfernter, also für bestreitbarer hält. Indessen sind alle
diese W^endungen durchaus verkehrt.
Wir haben es schon in Betracht gezogen, dass die Be-
wegung bei den tiefsten und feinsten Vorstellungsbildungen mit-
zuwirken hat. Es ist jetzt hinzuzufügen, dass es in hervorragender
Weise Muskelbewegungen sind, wie die der Augenmuskeln, auf
die es hierbei ankommt. Aber wie könnte man überhaupt diese
Unterscheidung der Bewegung an den Nerven und an den Muskeln
ernst nehmen? Es ist nur eine Art der materiellen Bewegung,
welche hier in Frage kommen darf. Und es gilt daher, das
ungleiche Mass zu erkennen, mit dem die Bewegung dem Be-
wusstsein gegenüber gemessen wird, wenn sie centrifugal, oder
wenn sie centripetal ist.
Ist sie centripetal, so trägt man kein Bedenken, das Be-
wusstsein zur Wirkung der Bewegung zu machen. Die centii-
petale Bewegung der Reizwelle hat jedoch Muskeln und Nerven
und Centren zur Voraussetzung. Dennoch trägt man kein Be-
denken, das Bewusstsein als Resultante davon anzunehmen und
anzuerkennen. Die Homogeneität wird durch den angeblich
gleichmässigen Agnosticismus hergestellt. Warum misst man
nun aber mit anderem Masse die centrifugale Bewegung?
Jetzt sollen die Nerven und die Muskeln die Scheidewand
bilden zwischen dem Bewusstsein, das hier auf einmal abbreche,
und der Muskelbewegung, die das Bewusstsein, die den Willen
gar nicht angehe. Warum auf einmal diese Sprödigkeit? Diese
Äluskeln werden ja doch auch durch Nerven in Bewegung gesetzt;
und diese Nerven haben doch auch ihre Centren. Wie lässt
sich dieses doppelte Mass verstehen, geschweige rechtfertigen?
Eine gewisse Stütze könnte man für diese Inconsequenz in
der Unterscheidung ansehen, welche die Physiologie nicht nur
zwischen den sensibeln und motorischen Nerven, sondern auch
zwischen den sensibeln und den motorischen Centren macht.
Man könnte einen Unterschied der psychischen Qualität darin
bestätigt finden, so dass nur das sensible Centrum in unmittel-
barem Zusammenhange mit dem Bewusstsein stände, während
<las motorische Centrum der Vermittelung des sensibeln bedürfte.
• Die Centren nur negative Bedingungen. 123
Und die Reflexbewegung würde hiergegen keine Aushilfe
bieten, wenn sie selbst jegliche Vermittelung eines sensibeln
Centrums ausschlösse, weil sie ja eben ihrem Begriffe nach
einen Gegensatz zum Willen, als dem eigentlichen Bewusstsein,
bildet. So könnte es scheinen, als ob das motorische Centrum
in einer geschwächten Beziehung zum Bewusstsein stände. In-
dessen ist auch dieser Einwand und Vorwand nicht stichhaltig.
Und die Illusion beruht auf einer falschen Ansicht von der
psychologischen Bedeutung der Central- Apparate.
Die nervösen Centren sind in beiden Fällen schlechterdings
nur negative Bedingungen; ebenso sehr für die Bewegung, wie
für das Bewusstsein. Hier darf man die alte Formel anwenden
und sagen, dass wir ebensowenig verstehen, wie infolge der Ver-
arbeitung der Reize im Centrum Bewegung entsteht, als wir dies
andrerseits in Bezug auf das Bewusstsein begreifen. Das Centrum
aber ist ebenso und gleichsehr für die Bewegung, wie für das
Bewusstsein die Voraussetzung. In beiden Fällen jedoch ist es
nichts mehr als negative Voraussetzung.
Wenn man es sich nun gefallen lässt, dass die auf das
Centrum fortgepflanzte Bewegung der materiellen Reizwelle im
Centrum so bearbeitet wird, dass daraufhin unmittelbar Bewusst-
sein aufleuchten könne, wie kann man dann andererseits über-
sehen, dass dasselbe Centrum — denn es hat denselben psychischen
Charakter, als motorisches, wie als sensibles Centrum — nicht
in demselben genauen Verhältniss zu der Bewegung stehen sollte,
die es es doch unverkennbar vorbereitet. Man sieht, dass dieser
zweite Fehler vielmehr nur die Fortsetzung des ersten Fehlers ist.
Man durfte die Bewegung nicht als Reizquelle von
Aussen annehmen; man hätte sie im Bewusstsein entstehen
lassen, dem Bewusstsein zur Erzeugung geben müssen. Dann
wäre man nicht auf den andern Fehler gekommen, die von dem
motorischen Centrum eingeleitete Bewegung in diesem selbst in
letzter Instanz entspringen zu lassen; während man doch die
Vorstellung keineswegs im sensibeln Centrum entstehen lässt.
Vorstellung aber hält man für Bewusstsein, Bewegung dagegen
für Materie.
Es könnte daher die Meinung entstehen, dass man zwei
Arten von Bewusstsein zu unterscheiden hätte: das der Vor-
124 Die Reinheit der Bewegung.
Stellung und das der Bewegung. Indessen so sehr diese Ansicht
als Uebergang zu der hier durchzuführenden, in der Logik vor-
gezeichneten Lehre annehmbar scheint, so beruht auch sie auf
dem Irrtum von der eminenten und eigentlichen Bedeutung der
Vorstellung und des Denkens als Bewusstsein, von der allenfalls
eine Uebertragung auf die Bewegung versucht werden dürfe.
Dahingegen hat uns die Logik gelehrt, worauf wir hier schon
mehrfach zurückgeblickt hatten, imd was wir alsbald genauer
zu betrachten haben w^erden, dass im reinen Denken selbst die
reine Bewegung entsteht. Sie ist also gar nicht eine von der Art
der Vorstellung zu unterscheidende Art des Bewusstseins, sondern
innerhalb des Bewusstseins des reinen Denkens entsteht die Be-
wegung, als eine Art des Urteils und der Kategorie.
Auf dieses tiefe Recht geht unsere Ansicht zurück, den
Willen nicht auf das Denken der Gesinnung und der Absicht
abzuschliessen, sondern die Methode der Reinheit in die
ausführende Tat hinein zu erstrecken. Würde man, etwa
insbesondere der Reinheit zufolge, die Bewegung aus dem Willen
ausschalten müssen, so würde man eben nichts Anderes als Be-
wusstsein, als reines Denken auslöschen. Man würde also den
Vollzug des Willens abbrechen, bevor er zu seinem homogenen
Abschluss gekommen wäre; und das Alles nur aus dem Vor-
urteile heraus, dass die Bewegung doch eigentlich nur Muskel-
bewegung sei. Und was wird dann aus der Handlung? Ist sie
nicht trotz aller Vergeistigung schliesslich doch nur Bewegung?
Die Handlung aber ist das eigentliche Material des Rechts,
also das eigentliche Problem der Ethik. Die Tat zwar ist nur
eine vox media; aber der Dichter hat doch Recht: Im Anfang w^ar
die Tat. Das Wort und der Wille allein erschöpfen die Kraft
nicht. Erst die Tat setzt den richtigen Anfang an. Es ist nicht
nur der Gegensatz zum Quietismus und asketischen Mysticismus,
der darin sich ausspricht; oder zu dem Eigensinn der Willkür
und der Weltflucht; auch für die Erzeugung des reinen Willens
gibt das Wort die richtige Anweisung. Der Wille wird von dem
Banne der Vorstellimg abgelöst, und an die Tat gebunden. Von
der Tat hat die Ethik zur Handlung den Weg zu bahnen.
Dieser Weg wäre jedoch nicht zu erreichen, wenn nicht an der
Tat der Bewegung schon die Reinheit sich vollziehen Hesse.
Der Seelenbcgriff der griechischen Kultur. 125
So sind wir denn bei der reinen Erkenntniss, als der Quelle
der Reinheit, wieder angelangt, und brauchen nicht ferner mit
dem populären Ausdruck des Bewusstseins uns zu befassen. Der
könnte ja nur für den Willen brauchbar scheinen; nicht für
den reinen Willen. Die Anwendung der Methode der Reinheit
hat zur Voraussetzung die Anwendbarkeit der Begriffe des Ur-
sprungs, der Realität, der Continuität. Nur auf Grund dieser
Methodik der reinen Erkenntniss kann der reine Wille zu Stande
kommen. Es ist aber der Begriff der Bewegung selbst von der
Logik herüberzunehmen für den in der Handlung culminierenden
reinen Willen.
Die Bewegung ist selbst Kategorie. Dadurch scheint die
Schwierigkeit unübersteiglich zu werden. Denn die Bewegung
ist nicht, wie man gewöhnlich sagt, das Verhältniss von Raum
und Zeit. Der Raum muss vielmehr in seiner Eigenart auf-
gelöst werden, wenn Bewegung entstehen soll. Und diese Auf-
lösung erfolgt nicht schlechterdings in Zeit; sondern es bedarf
dazu ausser der infinitesimalen Realität auch der Substanz zur
Voraussetzung. Es könnte daher scheinen, als ob der Versuch
der Uebertragung der reinen Erkenntniss der Bewegung auf den
reinen Willen der Bewegung aussichtslos wäre.
Indessen darf uns der methodische Gedanke leiten, den wir
schon in der Logik zu bewähren suchten, und den wir nunmehr
durchzuführen haben, dass die Grundzüge des reinen Denkens
sich zwar nur in Verbindung mit den mathematischen Methoden
zu exakter Fruchtbarkeit praecisieren lassen, dass sie jedoch auf
diese Grundlegung der reinen Erkenntniss sich nicht beschranken,
sondern zugleich als GrundbegritTe der Ethik sich entfalten. So
dürfen wir denn auch für die Bewegung des Willens die An-
wendung der Reinheit versuchen.
Wir können uns hierbei auf einen fundamentalen Gedanken
der griechischen Philosophie berufen und stützen; auf einen
Gedanken, der Piaton mit Pythagoras verbindet. Der Seelen-
begriff ist der centrale Begriff der griechischen Kultur.
Er entspricht dem Begriffe des Bewusstseins in der modernen
Kultur. Und wie das Bewusstsein, um seine Unabhängigkeit von
aller Aussenwelt zu dokumentieren, alsbald zum Selbstbewusstsein
wurde, so geschah es auch bei der Seele. Die wissenschaftliche
126 Die Selbstbewegang.
Praegnanz des Seelenbegriffs entstand in der Weltseele, nicht
in der Individualseele. Die Weltseele aber hatte die Bewegung
in der Natur zu beseelen. Und an diesen Begriff der Bewegung,
an die Seele der Bewegung wurde das Selbst angeknüpft. Die
Selbstbewegung (xo au-o xivouv) wurde das wichtigste Charakte-
ristikum der Seele; von der Weltseele auf die Menschenseele
übertragen.
Bewegung kann nicht auswärts, nicht ausserhalb des Be-
wegten entstehen; sie kann nicht in einem Stoss von Aussen
letztlich beruhen; sie kann nicht nur von Aussen gestossen werden.
Sie muss in sich selbst ihren Ursprung haben. Sie muss in dem
Bewegten selbst anheben. Darum muss sie Seele, Erzeugniss der
Seele sein. Käme sie von Aussen, so wäre sie Materie. So
drückt sich die hergebrachte Metaphysik aus. Wir müssen
sagen, so bliebe die Bewegung unerklärt; so bliebe sie ein
Problem, dessen Bearbeitung mit dem andern Ausdruck des
Problems, welchen die Materie bildet, zwar anfangt, aber eben
auch nur anfangt. Die Seele ist Selbstbewegung, das be-
deutet uns: die Bewegung hat ihren Ursprung in sich selbst;
das heisst: sie ist rein, wie das reine Denken. Aber das reine
Denken erschöpft den Begriff der Seele, den Begriff des Bewusst-
seins nicht. Wohlan, die Seele ist auch Wille. Und der Wille
ist auch Bewegung. Auch diese seelische Bewegung ist Selbst-
bewegung; muss ihren Ursprung in sich selbst haben.
Wenn wir nunmehr diesen Ursprung der Bewegung
für den reinen Willen zu bezeichnen versuchen, so kann es
sich nur um eine Bezeichnung handeln; denn die Definition
bleibt der Mathematik für das Differential vorbehalten. Wir
haben es hier nur auf eine Analogie zu wagen. Aber diese Analogie
muss gewagt werden. Man kann nicht ausführlich genug dem
Vorurteil entgegentreten, welches das alte Motiv der Selbst-
bewegung in seiner Ausdeutung hemmt. Wenn die neuere
Psychologie und Physiologie von einer Bewegungsempfindung
und einer Bewegungsvorstellung redet, so bedeutet dies die
Empfindung und die Vorstellung von einer Bewegung.
Diese Bewegung muss ja aber schon stattgefunden haben,
wenn sie eine Empfindung und eine Vorstellung von sich hinter-
lassen soll. Gibt es denn aber kein anderes Problem und
Die Tendenz. 127
keinen andern Begriff der Empfindung und der Vorstellung
einer Bewegung als den der vergangenen, der ausgeführten Be-
wegung? Ist denn die Bewegungsempfindung nurNachemplindung^
wie es allerdings die Empfindung immer ist? Ist aber auch die
Vorstellung der Bewegung nur das Schattenbild derselben?
Besteht nicht vielmehr das Problem zu Recht: wie entsteht
die erste Bewegung? Etwa nur jenseit des Bewusstseins, oder
aber im Bewusstsein selbst; und zwar nicht so, dass die Empfindung
nur ein Nachklang wäre?
Man wird doch nicht etwa, wie bei der Sprache, auf die
Ausflucht geraten, die nur eine Station auf dem Rückzuge bildet^
dass die Bewegung durch Nachahmung hervorgebracht w^erde.
Wenn diese Nachahmung eine Tat des Bewusstseins sein soll^
so wird sich die Frage wiederholen müssen: wie sie entstehen
konnte. Es bleibt also bei der Selbstbewegung, auch wenn die
Bewegung, die im Willen sich betätigt, nur eine Nachahmung
wäre von der Bewegung, die in der Natur rollt und rauscht.
Aber wie in der Kunst die Nachahmung nur ein unzulänglicher
Hilfsbegriff ist, noch viel weniger vermag sie hier das Problem
zu bezeichnen, geschweige in Lösung zu bringen. Deswegen
dürfen wir auch bei der Bewegungsempfindung und der Be-
wegungsvorstellung nicht stehen bleiben. Und wie wir von der
Empfindung und der analogen Begehrung weiter geschritten sind
zu dem Denken und dem analogen Affekt, so müssen wir nun
in diesem Momente des Affektes, dem des reinen Denkens ent-
sprechend, einen reinen Ursprung zu bezeichnen versuchen.
Die Tendenz möge uns diese Analogie bezeichnen.
Zunächst wird durch sie der Zusammenhang ersichtlich
zwischen der reinen Bewegung und der des Streben s. Tendenz
entspricht zunächst dem Impetus und Impuls us, noch deut-
licher der propensione Galileis. Sie drückt den Ursprung
der Bewegung aus. Und das ist ja die prinzipielle Forderung.
Die Spannung zur Bewegung ist die Entfaltung zur Bew^egung,.
mithin die Erzeugung derselben. Zugleich aber erinnert der
Ausdruck an die Begehrung, an die Bestrebung.
Die Bestrebung ist richtiger als die Begehrung; daher diese
der Reinheit unzugänglich bleibt, denn die Begehrung ist schlechter-
dings ein transitives Wort; sie hat das Ziel in sich, auf das sie
128 Die Tendenz und der Inhalt.
sich erstreckt. Die Bestrebung dagegen bezeichnet einen innern
Zustand, eine innere Tätigkeit, in welcher das Bewusstsein selbst
sich ausdehnt. Und diese Expansion des Bewusstseins hat ihren
Anfang, vielmehr ihren Ursprung in dem, was wir als Tendenz
bezeichnen möchten.
Die Tendenz ist das Reine des Affekts. Sie bricht
hervor; sie quillt hervor; woher und woraus? Aus sich selbst.
Und nur aus sich selbst soll sie hervorgehen. Diese Bedeutung
der Selbstbewegung soll die Tendenz ausdrücken. Man sage nicht,
aus dem Bewusstsein quelle diese Tendenz hervor; denn das Be-
wusstsein ist nicht vorher da, bevor diese Bewegung aus ihm
hervorgeht. Die Bewegung bringt sich selbst hervor, und darin
zugleich das Selbst, wenigstens die Anlage zum Selbst.
Doch diese Bedeutung der Selbstbewegung für das Selbst-
bewustsein darf uns jetzt noch nicht interessieren; jetzt gilt es
das volle Interesse für die Selbstbewegung in der Bedeutung des
reinen Ursprungs der Bewegung, und zwar auch für den Appe-
titus. Wie die physikalische Bewegung in ihrer mathematischen
Grundform keinen andern Inhalt kennt als denjenigen, welchen
sie in der infinitesimalen Realität erzeugt; während sie für den
sonstigen Inhalt der Bewegungs - Materie auf die Substanz
recurriert, so ist auch für die Bewegung des Strebens nicht nur
kein Inhalt gegeben, sondern auch kein anderer gesetzt. Es
handelt sich für sie um gar keinen andern Inhalt als um das
Streben selbst.
Diese exklusive Bedeutung in Bezug auf nicht nur jeden
auswärtigen, sondern auch jeden andern Inhalt, als den das
Streben selbst bildet, soll die Tendenz bezeichnen. Dadurch wird
das Streben unabhängig und souverän in sich selbst. ' Und diese
Souveränität ist das Merkmal der Reinheit in erster Linie. Hier-
durch wird der AlTekt von allem Verdacht des Sinnlichen und
des Aeusserlichen, des Pathologischen gänzlich befreit. Die
Normalität des Bewusstseins wird durch diese Innerlichkeit der
Tendenz sichergestellt. Sie ist die erste Bedingung der Reinheit.
Wenn wir so in der Tendenz, der Reinheit gemäss, jeden
gegebenen Inhalt ausschliessen, das Hervorbringen ihrer
selbst als ihren alleinigen Inhalt erkennen, so kommen
wir dadurch zu der Unterscheidung, die notwendig ist zwischen
Das Aenssere und das Innere im Problem des Inhalts. 129
der Tendenz, als dem Ursprung des Willens, und der äussern
Bewegung. Die physikalische Bewegung geht nach Aussen; ist
dadurch charakterisiert. Das Aussen wird zwar durch den Raum
erzeugt; und die Bewegung muss, als solche, den Raum auflösen.
Aber sie gewinnt sich die Leistung des Raumes befestigter wieder
an der Substanz zurück, welche ihrerseits sich des Raumes be-
mächtigt und bedient. So kann die Bewegung die Beziehung
auf das Aussen festhalten; obwohl sie zunächst es auflöst und in
Fluss bringt. Ihr Objekt und ihr Problem ist nichts Anderes
als die Aussenwelt, die physikalische Natur. Und die Methode
der Reinheit soll nur die Realität dieser Natur begründen.
Anders dagegen steht es um den Willen. Zwar wird auch
er auf die sittliche Aussenwelt in Recht und Staat zu richten sein ;
aber es handelt sich eben um die genaue Unterscheidung der
sittlichen Aussenwelt von der physikalischen. Auf dieser
Unterscheidung beruht der Unterschied von Logik und Ethik.
Daher soll die Tendenz die Restriktion auf das Innere flxieren.
Und so entsteht im Begriffe, im Problem des Inhalts der Unter-
schied zwischen dem Aeussern und dem Innern. Auch
die Tendenz ist Bewegung; aber diese Bewegung geht nicht nach
Aussen, sondern immer nur auf das Innere; und wo sie auf ein
Aeusseres zu gehen scheint, da fasst sie es nur im Gehalt, nicht
etwa nur im Rahmen dieses Innern.
Es liegt ein scheinbarer Widerspruch in dieser Bedeutung
der Tendenz. Sie kennt nur sich selbst und sucht nur sich
selbst; strebt aber, ihrem Begriffe nach, über sich selbst immer-
fort hinaus. Sie strebt nicht zu anderen Dingen fort; denn auf
das Ding war von Anfang an das Streben nicht gerichtet. Wenn
es sich also fortsetzt, so muss diese Fortsetzung sich nur auf
die Tendenz selbst beziehen. Die Fortsetzung aber fordert der
Begriff der Tendenz. Sie widerstrebt dem Stillstand. So scheint
sie ebenso sehr als Selbstauflösung, wie als Selbster-
zeugung sich beständig zu wiederholen und fortzusetzen.
Das scheint ein Widerspruch im Begriffe der Tendenz, als dem
Ursprung des Willens zu sein. Dieser Schein rührt von einem
vielfachen Irrtum her.
Der allgemeinste Grund für den Irrtum dieses Einwands
liegt in der unkritischen Ansicht vom Bewusstsein und vom
0
130 Die Mehrheit von Tendenzen.
Selhstbowusstsein, an welcher auch die Psychologie teilnimmt.
Wenn die Tendenz über sich hinausstreben soll^ ohne auf ein
äusseres Ding zu gehen, so fusst man dies so auf, als ob die
Tendenz über das Bewussisein hinausstreben sollte. Indi*ssen
das Bewussisein ist ja noch gar nicht vorhanden; es soll ja erxt
constituiert werden. Auch für die Psychologie wäre so das
Problem einzurichten, geschweige für die Ethik« die aus ihren
meth(Mlischen Voraussetzungen heraus den BegrifT des Willens
/u bilden hat. Hs ist daher ein methodischer (irund-
fehler, wenn der Wille aus dem Selbstbewusstsein her-
geleitet wird.
Das Bewusstsein darf nicht als vorhanden angenommen
werden, geschweige das Selbstbewusstsein. Wie das Bewusstsfin
an seinem Teile, so soll insbescmdere auch das Sc*lbstbewusstsein
durch den Willen erst erzeugt werden. Deshalb <larf man also
auch nicht sagen, die Tendenz gehe nicht auf ein iiuvseres Ding,
sondern nur auf das Bewusstsein, geschweige auf tlas Selbsl-
bewusslsein: sondern man muss sagen, «lie Temlenz gehe nur
aul sich selbst und über sich selbst hinaus. Nur das innere
Si*lbst mag des (legensal/es zum Aussen wegen als unansIcissjj^iN
(Korrelat gestattet sein.
Der Kinwand ist nun also beseitigt, dass die Tendenz« mi-
fern sie über sieh selbst binausslrebt, das Innere nicht bilden
könne, weil sie es zerstöre. Ks ist keine Ä'rstorung, welche in
dieM*m ilinausstreben der Tendenz uIht sich selbst verübt
wunle. Diese Meinung kann nur entstehen, wenn man das lUr-
wusslsein als einen Herd, als eine p*;:(*bene .Sache annimmt,
nicht aber als ein I^roblem. drssm Bearbeitung zu \ ersuchen
ist. Die Tendenz, welcbr über sieh srlbsl hinaus;;eht. zerstört
sieh selbst nicht; sontlern sie wird über sich selbst gleichs;im
fort^rfuhrt.
Der Begriff der Teiiden/ definiert sieh in dem Merkmal
der Mehrheit. Die Isoliertbeil sehliesst er aus. Sie >^are nicht
Heinlieit. sie schiene nur so llienlurch aber kommen wir auf
eine neue .Scli\\ieri;:keil Die Tendenz bedeutet uns jel/t ilie
Mehl fielt \on Teiiden/en Wir sagen nicht die Verbindung
\on Tenden/en. denn wir haben aus «ler l,ogik gelernt, dasn
der Ausdruck der Veibiiidun;: iireliihrend und illusorisi^h ist.
Unterschied der Mehrheit im Denken und im Wollen. 131
Worauf beruht die Verbindung, die man meint? Sie kann nur
durch einen Begriff vollzogen werden. So nennen wir besser
sogleich einen Begriff, also den der Mehrheit. Wenn nun aber
die Tendenz als Mehrheit der Tendenzen zu verstehen ist, so
entsteht die Schwierigkeit, wie sich dabei der Ursprung des
Willens und die Richtung des Willens überhaupt von der des
Denkens und der Vorstellung überhaupt unterscheiden lasse.
Mehrheit bedeutet ein Urteil des reinen Denkens. Wenn daher
die Tendenz die Mehrheit der Tendenzen bedeutet, wie unter-
scheidet sich alsdann die Richtung des W^illensvon der
Urteilsrichtung des Denkens?
Man könnte die Antwort auf diese wichtigste Frage in der
Unterscheidung der Tendenz selbst von dem Ursprung und der
Realität im Denken suchen. Aber dieser W^eg wäre ein Abweg.
Denn wenn es zur Mehrheit im Denken kommen soll, so bedarf
es der Zeit. Und die Zeit ist Anticipation ; sie geht unmittelbar
auf die Zukunft hin. Die Tendenz kann daher an und für sich
nicht praegnanter den Charakter der Vorwegnahme haben, als
derselbe der Zeit und also dem Denken eigen ist. Nun beruht
aber, so scheint es, die Mehrheit auf der Anticipation. W^enn
daher die Tendenz die Mehrheit der Tendenzen bedeutet, so
könnte die Anticipation an sich diese Mehrheit nur als Denken
bilden, nicht aber als W^illen. W^ir müssen daher auf die Cha-
rakteristik des Denkens zurückblicken, um die neue Richtung,
die die Mehrheit der Tendenzen für den WMllen einschlägt, von
der Richtung des Denkens zu unterscheiden.
Wir wissen, dass die Verbindung ein irreführender Aus-
druck ist; er löst nicht nur das Problem nicht, welches er zu
lösen sich das Ansehen gibt, sondern er gibt dem Problem auch
einen ungenauen Ausdruck. W^enn die Verbindung Vereinigung
soll werden können, wie sie dieses werden muss, so muss die
Sonderung der Einigung die Wage halten. Daher ist vorzugs-
weise die Sonderung das Mittel der sogenannten Ver-
bindung, welche das Denken ausmacht. Je genauer die
Sonderung sich durchführt, desto inniger wird sie. Aber die
Innigkeit verbindet schon die Sonderung mit der Einigung.
Immer ist es und bleibt es die Sonderung, in welcher die Arbeit
und der Erfolg des Denkens beruht.
9«
132 Die Tendenz und die Sonderung.
Anders muss das Wollen verfahren. Man darf sich jetzt
durch den etwa entstehenden Gedanken nicht irre machen lassen«
dass doch auch das Wollen genaue Sonderung der Elemente und
Motive fordere: denn diese Forderung und der (irad ihrer Ikr-
friedigung hangen von der Verbindung ah, welche zwischen dem
Begehren und dem Denken obwalten muss, wenn das Begehren
7.um Wollen sich entwickeln; richtiger ausgedrückt« wenn aus
dem Begehren Wollen entstehen solL Von dieser Be<iingung
müssen wir jedoch an dieser Stelle absehen, um das Kigentüm-
liehe der Tendenz, als des Ursprungs des AfTekts, genau zu er-
kennen. Wenn wir aber so von der Complikation mit dem
Denken absehen müssen, so dürfen wir den rnterschie«! zwisc*hen
Wollen und Denken an dieses ihr beiderseitiges Verhältniss zur
S<mderung anknüpfen. Das Denken beruht auf der Son-
derung; die Tendenz widerstrebt der Sonderung.
Wie kann denn nun aber die Verbindung: oder, wenn ^ir
von ihr nicht re<len dürfen, die Mehrheit der Tendenzen ent-
stehen? Man wird nicht antworten wollen, dass diese Mehrheit
an sich entstehe; denn das wäre keine Antwort auf die Frage.
Nach dieser Antwort wäre die Mehrheil nur ein PnMiukI des
IK'nkens, wahrend tlie Frage sie als ein l^rcMlukl des Willenv
und daher als ein Selbster/eugnJNs der Tendenz fordert. Die
Tendenz kann dcH*h nur als Kinheit, ho Ncheint es, in sich m'IIkI
entnpringen. Weiter meint man die Fonlerung der Heinheit für
die Tendenz nicht treiben zu können.
Hier steckt der (irund des Irrtums. Man glaubt auf die
Mehrheit der Tendenzen die Forderung der Heinheit nicht er-
strecken zu brauchen; denn die Mehrheit kann man ja vom
Denken beziehen. Da\H diese Mehrheit des Denkens aber einen
andern Sinn bat, dass sie xornebmlich auf die Scmderung geht,
das wini nicht beachtet. Daher nuiNMMi wir die Frage in aller
Strenge >aiderholen wie kann die Mehrheit der Tendenzen
in dem He^rilfe iler Tendenz iie;ien*' Das ist ja €l«H*h der
genaurre Sinn «ItT Fra;;r, wie die Mehrheit der Tendenzen ent-
stehen könne
Die Foiniuliniuig d«T Fra^e muss M*bon tlie Antwort enl-
halten. Fs liepjl im B«*;irille drr Tendenz, als drs l'rsprungn de^
reinen Wilhiis, du* Mrhibnt der Ten<len/en /u bedeuten Im
Die Mehrheit der Tendenzen im Begriffe der Tendenz. 183
Denken ist die Abstraktion eines isolierten Elementes zulässig.
Freilich kann es nicht bei dieser Isolierung allerwege sein Be-
wenden haben; aber darum handelt es sich jetzt nicht. Für den
Willen dagegen ist die Abstraktion eines isolierten Elementes
sinnlos; daher ist sie für den Begriff der Tendenz unzulässig.
Die Tendenz bedeutet schlechterdings die Tendenzen.
So ergibt sich der Unterschied zwischen dem Willen
und dem Denken. Ein isolierter Vorgang wäre Bewegung,
nämlich physikalische; also Denken, nicht aber ein Element
der Begehrung. Selbst zu einer Reflexbewegung würde mehr zu
fordern sein. So erkennen wir denn in dieser Mehrheits-Bedeutung
der Tendenz beinahe schon mit psychologischer Deutlichkeit,
wie sich die Tendenz zur Grundlage des Willens eignet, sofern
derselbe als von der Begehrung ausgehend bestimmt werden
muss. Und dennoch bleibt der Unterschied vom Denken klar
und bestimmt, obzwar die Anticipation hier wie dort wirksam ist.
Der rastlose Fortgang der Bewegung bildet psychologisch
das Eigentümliche der Begehrung. Die Begierde hüpft vor uns
her. Sei es Verfolgung (Suü^k;), oder Flucht (cpüfV;), wie positiv
oder negativ die Begierde in der griechischen Bildersprache be-
zeichnet wird, immer ist es der rastlose Lauf, das scheinbar end-
lose Fortstürmen, was die Begierde auszeichnet. Nicht ein Ueber-
mass, sondern den idealisierten Begriff der Begierde zeichnet der
Dichter in dem Worte, dass der Genuss selbst schmachtet nach
Begierde. Vielleicht liegt in dem Verschmachten ein fingiertes
Zuviel; denn in der Begierde selbst ist der Genuss wiederum auch
nicht ganz verlöscht. Es ist ein unaufhörlicher Wechsel; und
auf den Wechsel kommt es an. So urteilt nicht nur der ab-
wehrende Moralist. So muss auch die Charakteristik der Tendenz
für die Ethik und daher für den reinen Willen angelegt werden.
Woher kommt nun dieser rastlose Fortgang? So darf man
nicht fragen. Die Antwort könnte nur sein: aus der Defmition
kommt er. Das ist der Sinn der Tendenz von Anfang an, dass
sie über sich selbst, das heisst uns jetzt, über die Abstraktion
ihres isolierten Ansatzes hinaus schreitet, dass sie sich zur
Mehrheit forttreibt. Es ist kein fremdes Element des Denkens,
welches diese Mehrheit an ihr hervorbringt; sondern es ist ihr
eigener Trieb und der Begriff dieses Triebes, der diesen Fort-
134 Die Tendenz und die Continuit&t.
schritt in ihr hervorruft. Der Fort^an^ ist Fortschritt; er ent-
faltet die Bedeutung, die von Anfang an der Tendenz eigen i%t.
Ks ist daher nur die Seihstentfaltung der Tendenz, welche in
dem rastlosen Fortgang, den wir als liegehrung kennen, sich
vollzieht.
Tnd diese Seihstentfaltung der Tendenz steht im Kinklang
mit der Anticipation, welche die (irundhedingung aller Rein-
heit ist; uml welche für die Hegehrung von besonderer Praegnanz
ist. Das Fortstürmen von Temlenz zu Tendenz siiieint eine rast-
lose Fortführung der Anticipation zu sein, und am besten sich
auch psychologisch als solche zu erklären. Die neue Tendenz,
zu der das Streben weitergeht, wird vorweggenommen; sie hinkt
nicht der Vorstellung nach; sie eilt ihr voraus; und der Vor-
stellung bleibt nur übrig, das anticipierte Motiv so gut cnier vi
schlecht es gehen mag, im Begriffe zu fassen. Ehe der Laut c*s
geformt, und ehe der(ie<lanke es gezeichnet hat, hat die Tendenz
ihren Sprung wie ins Leere getan. Aber das lA*ere ist nur ein
Vorwärts; und alles Streben ist ein solches Fortschreiten und
Vorschreiten in ein erst zu entdeckendes, zu erUndentfes (iebiet.
liier kann die (Kontinuität beachtet werden, wie auch sie
sich hier zu bewahren \ermag. Im Denken ist die Kontinuität
durch forl/ufuhrende Neuerzeugung der Healitat bedingt. DicM*
Forderung M-heint im Denken erfüllbar, weil es eben auf ,S<mde-
rung beruht. Die Sonderung fordert und ermöglicht die Neu-
er/eugung liier aber kommt es ja nicht sowohl auf die
Somierung, als vielmehr immer nur auf den Anschluss an, <ler
durchaus nicht abgrbrochen werden darf; ausgenommen Iredich
in der Abstraktion des ein/.elnen Falles; nicht aber in der IX»-
linition des Begriffs. Da scheint die (Kontinuität gar nicht ange-
bracht /u sein; nicht nur nicht anwendbar, simdern gar nicht
am IMal/e /u sein. Diese Kin\\en«iung widerspräche jt^hK*h dem
Pi«»bl<'m des reinen Willens. Die (lonlinuilat muss gefonlert
werden, wenn^lfich nur cler Analo;;ie n:ich; die Frage kann nur
sein, ob sie du rehlu lirbar ist. Dieser Frage aber begegnet die
Tendrii/ Das Anal<»;;on, welches sie /ur Healitat bildet, lH*steht
in dieser ihrer Disposition zur (ionliiuiilat Wie sehr immer der
Foit;»anü \on T«Miden/ zu Teiulenz ^elonlert wird. s4» ist «lieser
i'oit;;:in^ iloeh niti als Neiierzeu^^iiiiL; ;;emass der (Kontinuit.it /u
Die Tendenz und die Realität. 1,%
denken. Sonst wäre der Fortgang nicht der Fortschritt in der
Entwicklung des Begriffs; sondern es würde ein Ahfall vom Be-
griffe zu vermerken sein.
Wir können aber auch psychologisch schon den Werl uns
klar machen, den diese Anwendung der Continuität hat; somit
den Einwand verscheuchen, als ob es sich nur um eine schema-
tische Durchführung dabei handelte. Und diese psychologische
Illustration wird ja selbst ihre Beglaubigung, und also wohl auch
ihren Grund und Anlass in einer wichtigen Distinktion der Ethik
finden. Wenn nämlich die Begehrung nicht auf Neuzeugung
beruht, wenn sie nur Fortsetzung desselben Motivs ist, dann
nennt man die Begehrung nicht Willen, sondern Leidenschaft.
Auf der Verjährung kann doch wahrlich der BegritT der Leiden-
schaft nicht beruhen; wie lange sie sich eingenistet habe, das
muss belanglos sein. Das aber macht einen Unterschied, ob die
Begehrung sich nur fortspinnt, oder aber sich neu erzeugt. Und so
unterscheidet sich durch diese continuierliche Neuerzeiigung,
welche für die Tendenz charakteristisch ist, in dieser zugleich
der Affekt von der Begierde; denn die Grundlage des Affekts
für alle Complikationen, die er einzugehen hat, soll die Tendenz
bilden.
Bevor wir diese weiteren Complikationen überschauen,
können wir uns doch über die Richtung Rechenschaft geben,
welche wir in dieser Grundlegung des reinen Willens verfolgen.
Wir suchen den Affekt zu Ehren zu bringen; wir setzen ihn für
das Eiferartige {b'j'ifjZ'ZU} ein. Und das ganze genus proximum
für diese Species des Affekts ist uns die Bewegung. Das ist aber
nur die eine Richtung unserer Charakteristik. Sie geht scheinbar
den physiologischen Weg: Bewegung und Affekt werden aU die
Grundlagen des Willens gesetzt. Der Wille soll Jedoch der reine
Wille werden- Demgemäss muss die Grundlegung andcrer>eitH
den logischen Weg nehmen.
Und die Logik hatte diesen Weg geöffnet. Die Bewegung
ist nicht nur für die Mechanik eine Kategorie; .sondern sie ist
schon für das Urteil der Mehrheit in der Zeit wirksam. I>aher
wird die Methode der Reinheit dem Problem des Willens zu-
gänglich. Es ergibt >ich M>nach die Tendenz aU das
Analogen der Realität. Wie diese, dem fumlamentah-n. dem
186 Der Gegensatz zum Gegebenen.
denkgesetzlichen Urteile des Ursprungs gemäss, das Element als
solches und als den Grund des Inhalts constituiert, so bezeichnet
auch die Tendenz gleichsam den absoluten Ursprung des Willens,
als der Bewegung. Diese ist nicht gegeben und wird nicht
empfangen; sondern sie wird in diesem Ursprünge der Tendenz
erzeugt.
So hält die Tendenz den Zusammenhang mit dem reinen
Denken aufrecht. Zugleich aber biegt sie wieder in die Richtung
des Affekts ein. Diese Umlenkung wird durch die Anticipation
gefördert, welche zwar schon in der Zeit wirksam wird, welche
jedoch von besonderer Praegnanz für die Begehrung ist, so dass
sie erst von dieser auf die Zeit übertragen zu sein scheint. Während
nun aber die Begehrung ein ungereinigtes Problem bezeichnet,
wie der analoge Begriff der Empflndung, so bahnt der Affekt
die erforderliche Reinigung der Begehrung zum Willen an;
während die Tendenz nur als Reinigung des Bewegungsmotivs
der Begehrung gedacht werden könnte.
Der Affekt soll dieses anscheinend sinnliche Element als
ein reines geltend machen. Die Reinheit muss den Unterschied
klarstellen, der zwischen der Begehrung und dem Willen, also
auch dem Affekte, zu errichten ist, auf den es bei dem ganzen
Problem des Willens ankommt. Dieser Unterschied geht auf den
Gegensatz zu dem Gegebenen aller Art. Das Begehren geht
auf ein Ding; es sei Speise oder Besitz oder Herrschaft. Der
Wille, sofern er ein reiner ist, hat gemäss und vermöge der
Methode der Reinheit seinen gesamten Inhalt sich erst zu er-
zeugen.
Unter den Begriffen auf der theoretischen Seite der Grund-
lage des Willens haben wir den Vorsatz von der Absicht
unterschieden; und zwar dahin, dass die Absicht mehr der
Seite des Denkens zufiel, während der Vorsatz auf die Seite des
Affekts hinneigen sollte. Mit dem Affekte muss nun aber auch
der Vorsatz dem entscheidenden Interesse der ganzen Unter-
scheidung und Untersuchung zu dienen haben. Der Vorsatz
darf sich seinen Inhalt nicht geben, nicht vorsetzen
lassen. Man könnte meinen, das Denken müsste doch berechtigt
sein, den Vorsatz zu leiten. Freilich soll es dies; aber diese
Leitung darf nicht so verstanden werden, dass das Denken einen
Die Aufgabe. 137
lediglich theoretischen Inhalt dem Affekte vorsetzen dürfte; der
Inhalt des Affekts, also des Vorsatzes, wie sehr er durchdacht
werden muss, kann doch nur ein praktischer, ein Willensinhalt
sein. Daher muss der Vorsatz seinen affektiven Charakter be-
haupten, auch für die reine Erzeugung seines Inhalts.
Diesen doppelten Sinn des Vorsatzes, in dessen Einheitlichkeit
übrigens der Wert des Begriffs für die ethische Charakteristik
besteht, soll uns der Terminus Aufgabe zum Ausdruck bringen.
Die Aufgabe widerspricht zunächst dem Gegebenen; sie enthält
selbst das Gegebene; sie macht es aus. So dient die Aufgabe
der Reinheit. Der Inhalt wird in ihr reiner Inhalt. Die Aufgabe
kann sich immer noch auf ein äusseres Ding beziehen; aber
diese Beziehung kann nur äusserlich, nur übeiiragener Weise
stattfinden. Es müsste denn von vornherein klar sein, dass das
äussere Ding den Affekt kommandieren und sich ihm vorsetzen
könne. Die Aufgabe bezieht sich vielmehr vorzugsweise auf die
Innenwelt dieser Strebungen und Tendenzen, in denen allein
sie sich zu vollziehen hat.
Wir haben in der Logik den Begriff der Aufgabe auch für
die allgemeine Charakteristik des Denkens im Urteil heran-
gezogen; aber auch da für die Zusammenwirkung der Methoden^
welche im reinen Denken sich ergänzen, so dass keine derselben
ihren Lauf vollenden kann, sondern immer gleichsam halbwegs
von der andern abgelöst werden muss. Es ist also eine Art von
praktischer, von Willens- Aufgabe, welche so dem Denken gestellt
wird. Denn vorwiegend gehört die Aufgabe dem Gebiete des
Willens an. Und sie macht es deutlich, dass es nur der eigene,
der selbst vorgesetzte Inhalt ist, den der Affekt bearbeitet, den
er sich aufgibt.
Es ist, als ob die Tendenz in ihrem Fortgange sich selbst
darlegen, nur ihre Kraft und ihren Quell ausmessen wollte, wie
weit sie unerschöpflich seien. Wenn die Aufgabe dennoch in
einem Gegenstande erscheint, so sei er nur das Mittel, um diesen
Eigenwert des Affekts dai*zutun. Ist es uns doch auch psycho-
logisch sehr bekannt und deutlich, dass ein bestimmter Inhalt,
ein genau gedachter, ja auch nur ein deutlich vorgestellter
Gegenstand gänzlich zu fehlen scheint, während dennoch der
Affekt, wie er gewöhnlich genommen wird, in heftigen Sprüngen
138 Das Gefahl von Lust und Unlust.
und Erschütterungen sich ergeht; wie wenn er ein Spiel mit
sich selbst triebe. So wenig scheint es auf den Gegenstand selbst
als Inhalt anzukommen. Diese Eliminierung des äussern Gegen-
stands ergibt und erklärt sich unter dem Zeichen der Aufgabe.
Was ist denn nun aber der Inhalt des Affekts, wenn die
Aufgabe den äussern Gegenstand eliminiert? Diese Frage muss
für den Begriff des Inhalts auf den Affekt selbst eingeschränkt,
nicht etwa auf den zu denkenden, also vom Denken abhängigen
Inhalt des Willens ausgedehnt werden. Als Inhalt des Affekts
bleibt die Aufgabe selbst der alleinige und der volle
Inhalt. Die Aufgabe selbst ist zugleich ihre Erfüllung; freilich
nicht ihre Erledigung. Diese hängt von anderen Umständen ab;
vor Allem vom Denken. Aber der Fortgang von Tendenz zu
Tendenz, von Aufgabe zu Aufgabe schliesst die Erledigung aus;
nämlich dem Begriffe dieses Fortgangs gemäss. Die Erledigung
dieses Fortgangs wäre die Erledigung der Tendenz und des
Affekts; wäre das Auslöschen des Willensursprungs. Die Er-
ledigung der Aufgabe wäre ihre Vernichtung. Nur in dem Fort-
gange der Aufgaben kann die Aufgabe Vollzug und Lösung zu-
gleich finden. Die Aufgabe macht den Affekt reflexiv
und immanent; zugleich aber auch als eine Art und Richtung
des Bewusstseins souverän und rein.
Diese ganze Grundlegung des reinen Willens im reinen Affekt
widerspricht einer Ansicht, welche von den Zeiten der Sophistik
ab nicht aus dem Felde geschlagen werden konnte, obwohl
bereits Plato die entscheidenden Argumente gegen sie gerichtet
hat. Heute wie damals wird als Grundlage des Willens das
Gefühl von Lust und Unlust aufgestellt. Wir treten sogleich
in die Erörterung der Sache ein, indem wir die historische Vor-
frage stellen: wie ist es nur verständlich und denkbar, dass
dieser Standpunkt nicht erschüttert werden konnte? Man kann
buchstäblich nicht einmal sagen, dass die Argumente, die metho-
dischen Begriffe und Wendungen sich erheblich verändert hätten.
Sie sind sogar in der Psychologie der Hauptsache nach dieselben
geblieben; ganz besonders aber in der Ethik. Und diese letztere
Beharrung führt uns zur Antwort auf die historische Frage.
Der Eudaemonismus und die Sophistik. 139
Kant bezeichnete alle Moralphilosophie, sofern sie auf
Lust und Unlust gegründet wird, als Eudaemonismus und
Egoismus. Damit aber ist die Antwort auf unsere Frage nur
halb gegeben. Denn die Frage geht weiter: wie ist es zu ver-
stehen und zu denken, dass erst Kant diesen Gegensatz gegen
alle bisherige Moral erneuern konnte, während doch Plato mit
aller Schärfe und Energie die Scheidung schon vollzogen hatte?
Hatte sich denn trotz aller Religion gar nichts in der Welt ver-
ändert, so dass die Sophistik herrschend bleiben konnte?
Oder ist etwa die Moralphilosophie nicht Sophistik, wenn sie
Endaemonismus und Egoismus ist? Besteht doch der Unter-
schied zwischen Philosophie und Sophistik in gar nichts An-
derem als in der Begründung der Erkenntniss aller Art im
reinen Denken; nicht aber in Lust und Unlust.
Das ist der Unterschied, wie ihn Plato am Schlüsse des
Philebus in leuchtenden und brennenden Worten bezeichnet:
auf der einen Seite steht die philosophische Muse; auf der andern
die Ochsen, Pferde und die Tiere insgesamt, denen die Menge
folge in dem Glauben, dass die Lüste uns die stärksten Führer
für das Leben seien. Sie folgen ihnen darin, wie die Vögel den
Wahrsagern. Eindringlicher und schlagender hat auch Kant selbst
die Parole nicht formuliert. Wie konnte es nun kommen, dass
das Weltalter der Sophistik scheinbar zwar seine Devisen ver-
änderte; im tiefsten Grunde aber, in der Beibehaltung der Lust
als des Wegweisers für das menschliche Leben nicht abgewirt-
schaftet, und die Herrschaft nicht verloren hat?
Wenn wir diese Frage jetzt beantworten wollten, so würden
wir den stärksten und grössten Stilfehler begehen; wir würden
den eigentlichen Inhalt dieser Ethik vorwegnehmen. Denn dieses
Buch hätte kein eigenes, neues Problem, wenn es nicht auf diese
Frage zugespitzt wäre; und wenn es nicht auf Grund dieser Frage
an einem neuen Problem und an einer neuen Lösung der Ethik
sich versuchen wollte.
Darin besteht die Erneuerung der Platonischen Ethik,
welche Kant vollzog: dass er dem Elgoismus gegenüber die aus-
nahmslose Allgemeinheit zum unverbrüchlichen Inhalt erhob.
Und das war das Neue, dass er die Menschheit in diese aus-
nahmslose Allgemeinheit einsetzte. Diese war noch nicht bei
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Der Zusammenhang von Lust und Unlust mit dem Individuum. 141
sieht der Sophistik fassen wir hier den Gegensatz gegen
Lust und Unlust als die Triebfeder des sittlichen Geistes.
Um diese Opposition durchzuführen, worin die Grundlegung
des reinen Willens schon zu gipfeln scheinen könnte, sollen uns
die Tendenz und die Aufgabe von Nutzen werden. Die Aufgabe
ist selbständig und erschöpfend in ihrem Inhalt, wie sie in der
Tendenz entsteht, und in dem Fortgang der Tendenzen sich er-
hält. Und diese machen auch den Affekt selbständig in seiner
Innerlichkeit. Alle diese Begriffe würden der Selbständigkeit und
somit der Reinheit verlustig gehen, wenn sie nur Vertreter und
gleichsam Ableger von Lust und Unlust wären.
In diesem beherrschenden Zusammenhange mit der geschicht-
lichen Ansicht aller bisherigen Politik fassen wir hier den
allgemeinen psychologischen Grundgedanken von Lust und Unlust,
als den unbezwinglichen und zugleich untrüglichen Grundmächten
des Bewusstseins. Vielleicht darf man sagen, dass die psycho-
logische Ansicht von Hunger und Liebe, als den einzigen aus-
schlaggebenden Trieben der Welt, sich nicht hätte behaupten
und nicht als eine selbstverständliche Wahrheit gelten
können, wenn nicht alle Weltlage der seitherigen Geschichte den
Satz unterstützt hätte. Um das Individuum allein scheint
sie sich zu drehen; das Individuum allein scheint die Welt
zusammenzuhalten. Das Individuum aber hat sein unfehlbares
Lebensgesetz in Lust und Unlust. Und eine solche Welt in den
Klammern des Individuums soll die sittliche Welt oder wenigstens
das Vorspiel derselben sein.
Dabei macht es sogar wenig Unterschied, ob die Politik
dynastisch oder national geführt wird. Ist es doch auch in der
nationalen Politik das Individuum, welches zum Handlanger
des Dynasten wird, wenngleich als Missionar der nationalen Idee.
Denn wo die Nation selbst das allerletzte Ziel der Politik bildet,
da ändert sich nur scheinbar die Devise, indem Subjekt und
Prädikat sich ändern: das Volk sind Wir. Und diese Wir sollten
freilich alle Ich sein; aber wer wird so buchstäblich ein politisches
Programm verstehen wollen. So bleibt es bis auf Weiteres bei
den bevorzugten Individuen, von denen doch einmal der Lauf
der Geschichte abhänge; und alle Anderen haben sich an dem
Glanz des Wortes der Nation zu sonnen.
140 Die soziale Menschheit
Pia ton als Idee bezeichnet wenngleich Ahnungen davon der
sterbende Sokrates aussprach, indem er auf Delphi, als den Nabel
der Welt, hinwies, und indem er seine Jünger über Hellas hin-
aus in die Welt zu gehen ermahnte und tröstete.
Diese Menschheit war von den Propheten erdacht und
erfüllt worden; sie hatten ihr Vaterland darum preisgegeben.
Kant aber war bei dieser Idee tler Menschheit nicht stehen ge-
blieben, sondern er hatte sie an dem unmissversländlichen Hei-
spiel ökonomischer BegrifTe verdeutlicht, verengt, und doch uni-
versell praecisiert: wir wenien dies später zu betrachten hal>en.
Tnd wir werden dann zu erkennen liaben, dass damit auch im
geschichtlichen und im |>olitischen Sinne eine neue Weltansicht
sich aunat; nicht etwa nur ein neues Prinzip der wissen-
Nchafllichen Kthik.
Denn das war Kants Sinn bei jener schrolTen Scheidung,
die er zwischen sc*iner Kthik und aller andern, ausser der Plat<»-
nischen, zog: dass er dadurch aller andern angeblichen Kthik
den (Charakter der Wissenschaft und der Philosophie ab-
sprach. Sic konnte zusehen, wie sie bei der Metaphysik l'nter-
kunn fände. Die Wissenschaft der Kthik konnte aber erst wieder-
erstehen, indem tler Begriff des Menschen, wie Sokrates ihn
entdeckt hatte, dem neuen, dem anbrechenden Weltalter gemäss
zur Wiederentdeckung kam in der Idee der Mensc^hheit. Tnd
es war nicht die kosmopolitische Mensi'hheit allein« in welcher
der B(*griff des Menschen dem Zeitaller der Humanität gemäss
wicMiergeboren wurde; sondern es war die soziale Menschheit,
die den Begriff ties Mensiiien für jegliches Volk st^lbst und da-
mit erst für die Mensehheit zur poltlisi*hen Wahrhaftigkeit, und
dadurch erst zur ethischen Bestimmtheit brachte.
In diesem (ie;^ensat/e /u aller Moral, die nicht aus dem B«*-
griffe des reinen Willens allein die Kthik erzeugt, un<l die daher
auf die Machte der seitherigen Kultur sieh stut/t, und zu deren
be<|ueiiier Beglaubigung auf die angebliche und anscheinende
N;itur des Mens4*hen und der Mensehen sieh beruft; im Gegen-
sätze /u der ^(*s;imten Weltansiiht, welche die Selbstsucht als
den (irundlru'li und die (irundkraft des Me nsiiien herze ns an-
preist ; im (iegrns:it/e gegen diese Moral und Weltan-
Der Zusammenhang von Lust und Unlost mit dem Individuum. 141
sieht der Sophist! k fassen wir hier den Gegensatz gegen
Lust und Unlust als die Triebfeder des sittlichen Geistes.
Um diese Opposition durchzuführen, worin die Grundlegung
des reinen Willens schon zu gipfeln scheinen könnte, sollen uns
die Tendenz und die Aufgabe von Nutzen werden. Die Aufgabe
ist selbständig und erschöpfend in ihrem Inhalt, wie sie in der
Tendenz entsteht, und in dem Fortgang der Tendenzen sich er-
hält. Und diese machen auch den Affekt selbständig in seiner
Innerlichkeit. Alle diese Begriffe wurden der Selbständigkeit und
somit der Reinheit verlustig gehen, wenn sie nur Vertreter und
gleichsam Ableger von Lust und Unlust wären.
In diesem beherrschendenZusammenhange mit der geschicht-
lichen Ansicht aller bisherigen Politik fassen wir hier den
allgemeinen psychologischen Grundgedanken von Lu.st und Unlust.
als den unbezwinglichen und zugleich untrüglichen Grundmächten
des Bewusstseins. Vielleicht darf man sagen« dass die psycho-
logische Ansicht von Hunger und Liebe, als den einzigen au^-
schlaggebenden Trieben der Welt« sich nicht hätte behaupten
und nicht als eine selbstverständliche Wahrheit gelten
können, wenn nicht alle Weltlage der seitherigen Geschichte den
Satz unterstutzt hätte. Um das Individuum allein scheint
sie sich zu drehen; das Individuum allein scheint die Welt
zusammenzuhalten. Das Individuum aber hat sein unfehlliare>
Lebensgesetz in Lust und Unlust Und eine solche Welt in den
Klammern des Individuums soll die sittliche Welt oder m'enig>ten.^
das Vorspiel derselben sein.
Dabei macht es sogar wenig Untenchie*!. ob die Politik
dynastisch oder national geführt winl Ist es doch auch in der
nationalen Politik das Individuum, melche^ zum Handlan:2er
des Dynasten wird, wenngleich als Missionar der nationalen Id**
Denn wo die Nation selbst das allerletzte Ziel der Politik blidrl,
da ändert sich nur scheinbar die Devl^. indem Subjekt ur, :
Prädikat sich ändern: das Volk sind Wir. Und dievr Wir sr>;,-^:i
freilich alle Ich sein; aber wer wird so buchstäblich ein pr>litiv:he^
Programm verstehen wollen. So bleibt es bi^ auf Weiterem Ur
den bevorzugten Individuen, von denen doch einmal d*-r La ^
der Geschiebte abhänge; und alle Anderen hal>en sich an ---^
Glanz des Wortes der Nation zu sonnen.
142 Die Geschlechtsliebe und die Kunst.
Daher bleiben Lust und Unlust als die unverfänglichen Trieb-
federn gelten; denn sie treiben das Individuum, und in ihm die
geschichtliche Welt. Oder würde etwa das politische Individuum
von sittlichen, von allgemeinen Ideen massgebend geleitet und
bestimmt? Dann wäre es ja beinahe um seine Genialität ge-
schehen; denn die sittlichen Ideen hat es ja mehr oder weniger
mit der Menge und mit den Stubengelehrten gemein. Nein, es
muss ein elementarer Trieb in einem politischen Heros, und
wenn er selbst zum nationalen geläutert wird, walten; oder viel-
mehr drängen und hervorbrechen. Wie eine Naturmacht, wie
die Lava aus einem Krater meint man die Ursprünglichkeit einer
politischen Kraft fassen zu müssen. Als solche Urkraft des Indi-
viduums gilt das Gefühl von Lust und Unlust. Da wir nun
aber dieses isolierte Individuum hier widerlegen und ausschalten
wollen, so müssen wir Lust und Unlust als Prinzip bekämpfen.
Indessen überfallen uns schwere Bedenken bei diesem Be-
ginnen. Erscheinen Lust und Unlust doch als der unersetzliche
Ausdruck des Lebens- und Kraftgcfühls des Menschen. Wer wird
bei Lust nur an die Wollust denken. Man steht doch nicht mehr
im Mittelalter, dem Concupiscentia die allgemeine Sünde, und
somit die allgemeine Spur der Menschlichkeit bedeutete. Es
könnte scheinen, als ob nazarenischer Asketik das Wort geredet
werden sollte, wenn die Lust verdächtigt wird. Freilich ist die
Lust vorzugsweise die der Geschlechtsliebe; aber was gäbe es
Mächtigeres und Höheres? Mann und Weib, und Weib und
Mann reichen an die Gottheit an. Wie das freilich der Genius
meint, wäre es nicht nur abgeschmackt, sondern sündhaft, daran
Anstoss zu nehmen. Was aber die falsche, die gleissende Kunst
und die darauf gepfropfte dreiste Theorie aus dem Gedanken der
Unschuld zu machen wagt, das ist ebensosehr sittlich wie
aesthetisch Verirrung und Verderbniss. Also der Zusammenhang
von Lust und Wollust bleibt ein Warnungszeichen, auch aus dem
Gesichtspunkte der menschlichen Schöpferkraft und der höchsten
Lebensenergie.
Ein anderer Einwand hängt mit diesem zusammen. Es
könnte scheinen, als ob auch dem aesthetischen Gefühle hier-
mit die Fehde angesagt würde. Beruht doch alles Gefühl und
alles Schaffen der Kunst auf der Liebe, also auf der Lust. Als
Die Totalität des Lebensgefühls. 14^
die Aesthetik endlich selbständig wurde, wurde sie es unter diesem
Zeichen. Und auch Kant begründete sie unter der Fahne dieses
Seelenvermögens. Indessen gerade dieser Einwand spricht für
unsere These. Kant hätte die Aesthetik nimmermehr zu einem
dritten Gliede seines Systems gestalten können, wenn er nicht
das zweite Glied in der Ethik befestigt hätte. Vielleicht hatte
Plato diese Besor^niss vor einer selbständigen Aesthetik zurück-
geschreckt: dass man die Idee des Schönen mit der Idee des
Guten unaufhörlich verwechseln würde. Eine Idee war ihm
auch das Schöne; aber Plotin sollte nicht Recht erlangen, dass
das Schöne zur Gottheit würde. Die Ethik kann ihre Selb-
ständigkeit nicht durch ein Prinzip gewinnen, welches sie mit
der Aesthetik zu teilen hätte.
Und wenn es den Anschein hat, als ob in der Liebe Ethik
und Aesthetik schwesterlich verbunden wären, so muss in diesem
Scheine vielmehr eine tiefe Warnung erkannt werden. Das
Dichterwort vom Hunger und der Liebe lässt freilich auch die
Liebe an diesem Heiligenschein teilnehmen; aber darum bleibt
sie doch dem Hunger beigesellt. Es ist nicht allein die Rücksicht
auf eine selbständige Ethik, sondern ebenso diejenige auf eine
selbständige Aesthetik, welche die Lust, als ein Prinzip der
Ethik, ausschliesst.
Man könnte ein Argument für Lust und Unlust endlich
aus dem Umstände herleiten, dass sie nicht nur universell seien,
nämlich für alle Lebewesen gelten; sondern dass sie auch die
Summe und Totalität aller Lebenstätigkeit zum unzweifel-
haften Ausdruck brächten. Die Universalität kann als abgetan
gelten; ist sie doch vielmehr nur auf die Individuen, also auf
die Mehrheit, nicht aber etwa auf die Allheit derselben be-
zogen; denn das Letztere wäre die Vorwegnahme dessen, was^
hier das Problem bildet. Aber die Totalität könnte noch eine
Schwierigkeit bilden. Es könnte scheinen, als ob in der Tat alle
Lebensenergie auf Lust und Unlust, als auf ihren einfachsten
Ausdruck, zurückführbar wäre, so dass die Summe des Lebens
in diesem Lebensgefühle enthalten wäre. Indessen beruht
auch diese Ansicht auf einem Irrtum.
Dieser Irrtum soll uns hier nur methodisch beschäftigen.
Angenommen selbst, dass die Totalität der Lebensenergie in Lust
144 Unterschied von Lust und Affekt.
und Unlust resultierte, so läge darin gerade der Nachteil in der
Benutzung dieses Gefühls für den Willen. Denn im Willen,
nämlich im reinen Willen, handelt es sich nicht schlechthin um
die Totalität; sondern gerade im Gegenteil um die Isolierung
und um die Möglichkeit einer neuen Isolierung. Das ist
eben der Unterschied von der gewöhnlichen psychologischen Be-
deutung des Willens: dass der letztere als eine Totalkraft gedacht
wird, aus welcher, wie aus einer Quelle, vielmehr wie aus der Seele,
also aus dem Wesen die Erscheinung herv^ortrete. Der reine Wille
dagegen soll das Prinzip werden, kraft dessen das Einzelne
bestimmbar werden könne; nicht in Summa schon be-
stimmt, etwa aus der Gesinnung und dem Charakter vorher-
bestimmt erscheinen dürfe. Um Isolierung handelt es sich für
die Beurteilung, weil ebenso auch für die Aeusserung des Willens
in der Tat.
Darin liegt und dahin geht nun der Unterschied
zwischen der Lust und dem Affekte, zu dem wir hier die
Tendenz ausprägen. Während Lust und Unlust bei aller ihrer
Heftigkeit doch nicht aus dem Schwanken herauskommen,
wurzelt der Affekt in Einseitigkeit, und daher Lust und Unlust
gegenüber in einer Neutralität. Dieser bedarf er zu der eigenen,
«inseitigen Energie, die er betätigt. Und auf diese einseitige
Richtung der Tätigkeit kommt es an; ohne sie gäbe es keine
Betätigung des reinen Willens, der das Urteil in Bausch und
Bogen schlechterdings abwehrt. Wäre daher die Summe des
Lebens durch Lust und Unlust zu ziehen, so dürfte uns diese
Summe hier Nichts angehen; denn hier handelt es sich lediglich
um eine Summe, welche aus den einzelnen Summanden selbst
hinterher, nicht aber vorher, gezogen werden soll. Der Affekt
bezeichnet diese eigene, isolierte Regsamkeit, diese selbständige,
in jeder einzelnen Aeusserung entspringende Tätigkeitsweise.
Deswegen verträgt sich der Affekt nicht mit dem Totalgefühl
der Lust und Unlust.
Man könnte nun aber aus dem Mangel an Neutralität
einen Vorzug machen. Lust und Unlust sind Mischgefühle.
Man könnte darin ihre moralische Ehrenrettung begründet
finden. Die Unlust, die jeder Lust beigewürzt ist, benähme der
Lust den Stachel des Reizes; wie auch andererseits die Unlust
Der Mischungscharakter von Lust und Unlust. 145
durch die Beimischung der Lust den Schatten der Depression
verliere. Indessen ist dies der Gesichtspunkt, aus dem der He*
donismus in die Affektenlehre der Stoa und Spinozas übergeht
Und dagegen kommt es für den reinen Willen auf den Inhalt,
auf den reinen Inhalt an. Die Mischgefühle können keinen Inhalt
bilden, weil sie keinen begrenzten, keinen isolierten Inhalt bilden
können. Bei ihnen könnte bestenfalls die Mischung selbst nur als
Inhalt gelten; es wäre aber fraglich, ob alsdann nicht nur die
Tätigkeit der Mischung, die der Entmischung entgegenstrebt, und
also ein periodischer Process allein zum Inhalt würde.
Hier könnte nun die Meinung entstehen, als ob dasselbe,
was wir durch den Affekt bestimmen möchten, gerade durch
den Mischungscharakter von Lust und Unlust nicht minder, oder
vielleicht noch besser bestimmbar würde. Denn auch der Affekt
besteht in einer continuierlichen Neuerzeugung der Tendenz;
auch er vollzieht sich also in einem Vorwärts von Tendenz zu
Tendenz, von Strebung zu Strebung. Vielleicht könnte man
meinen, dass Lust und Unlust diesen Wechsel und diese Dauer
im Wechsel am besten veranschaulichten. Die Mischung da-
gegen macht den Unterschied deutlich und scharf erkennbar.
Der Affekt ist rein, und er führt sich von Tendenz zu Ten-
denz rein durch; für ihn kann es keine Mischung geben. Die
Fortführung der Tendenz wird ihm zur Aufgabe. Die Aufgabe
ist sein reiner Inhalt. Die Mischung dagegen könnte nur als
Mischung selbst Aufgabe werden. Damit aber würde der Auf-
gabe der Wert des Inhaltes entfallen. Die Mischung ist unbe-
stimmt und unbestimmbar. Sie selbst und sie allein ist sich der
Inhalt und soll sich der Inhalt sein. Ihre Elemente sollen nicht
selbständig werden; sondern nur in der Mischung, also nur im
Ausschluss ihrer Isoliertheit zum Inhalt werden. Wenn anders
daher der reine Wille im reinen Inhalte seinen Wert hat, und
dieser reine Inhalt durch den isolierten Eigenwert bedingt ist,
der einem jeden Schritte dieser Strebung zukommt, so muss er
freigehalten werden von der Mischung, welche in Lust und Un-
lust liegt und liegen muss.
Der Gesichtspunkt der Mischung führt uns hier zu der
durchschlagenden Consequenz, dass das Gefühl von Lust und
Unlust einen Gegensatz, wenn nicht gar einen W^iderspruch
10
146 Verhältniss der Ethik zur Psychologie.
bildet zu dem Inhalt, als dem Inhalte des reinen Willens. Nun
erhebt sich dagegen aber auch wiederum harte Einsprache, und
zwar von zwei Seiten aus. Einmal heisst es, Lust und Unlust
lasten schwer genug auf dem Bewusstsein, so dass man ihnen das
Schwergewicht des Inhalts nicht wohl bestreiten kann. Dieser
Einwand ist für uns nicht stichhaltig. Für den Begriff des
Inhalts ist nicht die Schwere der Belastung bestimmend, sondern
allein die Genauigkeit der Isolierung. Desorientierender könnte
der andere Einwand scheinen: aller Inhalt des Bewusstseins sei
ja doch mit Lust und Unlust behaftet, mithin gehören diese
schlechthin zum Inhalt, zum Inhalt des Bewusstseins aller Art,
also füglich wohl auch zu dem des Willens.
Diesen Einwand müssen wir eingehender erwägen, obwohl
der Anschein dabei entsteht und bestärkt wird, als ob wir uns
in das Interessengebiet der Psychologie hineinbegäben. Wir
wissen schon, dass wir der Psychologie nicht Vorgriffen; denn
sie hat von der Ethik zu lernen, was der reine Wille sei. Aber
sie hat diesen reinen Willen mit den anderen Arten des Be-
wusstseins zu vereinbaren, um in dieser Vereinbarung die Einheit
des Bewusstseins zu vollziehen. Diese Einheit und diese Ver-
einbarung ist ihr Problem; und in der Behandlung dieses
Problems besteht ihre Selbständigkeit.
Da die Psychologie es nun aber mit dieser Vereinbarung
der verschiedenen Arten des Bewusstseins zu tun hat, so kann
freilich der Schein entstehen, als ob wir hier von der Psycho-
logie entlehnten, anstatt ihr vorzuarbeiten. Indessen haben wir
zu bedenken, dass wir hier den Willen als die Art des sittlichen
Bewusstseins zu bestimmen haben. Wenn es daher ein richtiger
Satz wäre, den der obige Einwand ausspricht, dass aller Inhalt
des Bewusstseins mit Lust und Unlust behaftet sei, so könnte dies
von dem Inhalt des Willens, als des moralischen Bewusstseins,
nur insofern gelten, als die Ethik des reinen Willens diesen
Satz bestätigt und festgestellt haben würde. Nur auf Grund der
Ethik also kann dieser Satz für die Psychologie allgemeine
Geltung gewinnen. So widerlegt sich der Einspruch der Ent-
lehnung.
Unter solchem Vorbehalte dürfen wir nunmehr unserer
Psychologie einen Grundgedanken vorwegnehmen, der durch die
Consequenzen der betonten Empfindung. 147
moderne Psychologie im Einzelnen bestätigt wird; der übrigens
auch schon in derjenigen höchst beachtenswerten Psychologie
vorbereitet wird, mit welcher Kant in genauester Fühlung steht
Wie Tetens Empfindung und Empfindniss unterscheidet, so
unterscheidet Kant den Inhalt und den Ton der Empfindung.
Und so hat sich in der neuern Psychologie der Ausdruck der
betonten Empfindung eingebürgert. Was nun aber so der Em-
pfindung recht ist, dass muss ebenso der Vorstellung, dem
Denken, und also auch dem Willen billig sein. Es müssen
somit alle Arten des Bewusstseins als betonte zu bestimmen sein.
Was folgt nun aber daraus für Lust imd Unlust selbst, wenn
sie als Betonungen in allen Inhalt des Bewusstseins aller
Art einzugehen und überzugehen haben?
Es kann kein Zweifel darüber obwalten, dass Lust und Un-
lust demgemäss zu Annexen für den Inhalt des Bewusstseins
werden. Der Inhalt ist für sich zu bestimmen, wie sehr immer
das Gefühl sich in ihn, viel mehr an ihn und über ihn ein-
schleichen mag. Es bleibt immer ein Suffix. Wie sehr auch
dieser Anhang an Energie und Macht sich ausbreiten und sich
unterscheiden mag, so ist diese Art von Bestimmtheit in der Er-
griffenheit des Bewusstseins durchgängig zu unterscheiden von
derjenigen Art der Bestimmtheit, die dem Inhalt eigen ist. Die
Psychophysik würde einen andern Lauf genommen haben,
wenn sie diese beiden Arten von Bestimmtheit zu genauer
Unterscheidung gebracht hätte. Jetzt aber brauchen wir nicht
mehr bei dem Unterschiede zu verweilen, der zwischen dem
Annex und dem Inhalt besteht. Wir können jetzt aus dem Ge-
sichtspunkte der Reinheit einen neuen Unterschied an der
Gefühlsbetonung feststellen, der diese Methode kennzeichnet.
Der Anhang ist immer ein Abschluss. Die Methode der
Reinheit dagegen fordert nicht nur den beständigen Anfang,
sondern den continuierlichen Ursprung. Der Ursprung mag hier
auf sich beruhen; der Gegensatz zum Anfang allein gibt hier schon
den Ausschlag. Wenn der Wille durch das Gefühl von Lust imd
Unlust bestimmt und dirigiert würde, so könnte das Gefühl hier-
bei nur die Rolle der Betonung spielen. Es müsste demgemäss
den Abschluss bedeuten, in dem der Wille ausklingt. Der be-
tonte Wille wäre demnach das Ende des Willens. Und wenn
10»
14tt Lust und Unlust als Urbewusstsetn«
dieses Ende nicht den Garaus bezeichnen müssle; wenn es selbst
die Bestimmung enthalten dürfte, so könnte in dieser Bestimmung
doch nimmermehr zugleich die Richtung und die Motivierung
erkennbar werden. Darauf aber kommt es für den reinen Willen
an^ dass er nicht durch einen auswärtigen Reiz gestachelt werde,
und wenn dieser selbst den Höhepunkt dieser Tätigkeit bilden
könnte.
Es zeigt sich hier derselbe Fehler, aber in umgekehrter
Richtung, den wir in Bezug auf die Bewegungsempfindung zu
rügen hatten. Diese gilt gemeinhin, wir wir gesehen haben« als
die Empfindung von der abgelaufenen Bewegung, wobei die nach«
zuahmende Bewegung nach dem durchgängigen Fehler des
Sensualismus als selbstverständlich miteingeschlossen wird Das
BewegungHgefühl dagegen, wenn das Gefühl von Lust und
Unlust in dasselbe praccisiert wird, soll nicht auf die Bewegung
folgen, sondern ihr voraufgehen. So müsste man unstreitig die
These aufTassen, wenn man Lust und Unlust als die Quellen der
Begehrungen und Triebbewegungen annimmt.
Man müsste dann aber zwei Arten von Gefühlen an-
nehmen: dieeine, welche in der betonten Empfindung zum AiuMlnick
kommt; die andere, welche dem gesamten Willensgebiete zu Grunde
gelegt wird, sodass der Wille selbst sekundär wird zu dieser seiner
Ciefühlsgrundlage. Das wäre also die weitere, aber unausweich*
liehe Consequenz dieser Ansicht von Lust und Unlust- dass sie
die Eigenart des Willens aufhebt Diese Consequenz ist
keine geringe Stütze für die Hy|MitheMs des reinen Willens.
Es wird nun al>er diese Ansicht durch eine allgemeine
Theorie iM^günMigt, die im Altertum wie in der neueren Zeit in
den verschie<iensten Wendungen immer wie<ier auftritt. Sie be*
ruht auf dem (it*danken, dass das (tefuhl von Lust und Unlust
der elementarste und der fundamentalste Ausdruck d«*s Bewusst*
MMns ülKTliaupt sei. Mu^i*n die andern Arten des Bcwussl.M*tns
immerhin eine jede für sich selbständig sein« so meint man dcK*h
die Urkruft dt*s Bewusstseins in Lust und Unlust zu ver-
n(*hni(*n. IVswrgon S4*heint es unfruchtbare S|H*kulation zu sein,
einen Willrn an/unehmen, der nicht durch Lu.st und Unlust
g(^|MMst wird. Wir stehen hier vor dem grundlegenden l^roblem
der ISychulome; aber dem^cniass auch an ihrer Grenzlinie mit
Die „notwendigen Vorbegriffe" Jobannes Mflllers. 149
der Logik. Wir haben in der Logik der reinen Erkenntniss ge-
gelernt, dass Bewusstsein und Bewusstheit streng zu
scheiden sind. Bewusstheit bedeutet das unzulässige Problem,
begreifen zu wollen, wie es zugeht, dass man Bewusstsein hat
Bewusstsein dagegen ist eine Kategorie, welche von dem Urteil
der Möglichkeit erzeugt, und somit der Psychologie für ihr
Problem der Einheit des Bewusstseins überliefert wird. Die
Frage ist nun, ob jene Ansicht von Lust und Unlust, als dem
Urbewusstsein, das Bewusstsein, oder aber die Bewusstheit meint
Diese Frage wird aber nicht nur einmal zu stellen sein.
Es könnte nämlich scheinen, als ob wir selbst in diesen
Fehler verfielen, insofern wir hier von unserer Psychologie den
Grundgedanken vorwegnehmen: dass eine erste Stufe des Be-
wusstseins ohne diejenige Bestimmtheit des Inhalts angesetzt
werden müsse, welche in der Empfindung entsteht. Es scheint
eine Paradoxie zu sein: ein Inhalt, der noch kein Inhalt ist.
Indessen ist dies ja die allgemeine Losung unserer Logik, überall
das erste Etwas aus seinem Ursprung herzuleiten. Die Psycho-
logie fügt sich so nur der fundamentalen Methode der Logik.
Uebrigcns ist bereits Johannes Müller mit der ihm eigenen
Tiefe diesen Weg gegangen, indem er „Notwendige Vor-
begriffe" seiner Lehre von den Empfindungen zu Grunde gelegt
hat. Das ist der Weg des echten, des wissenschaftlichen Idealismus.
Nichts durch den Reiz im Bewusstsein entstehen zu lassen;
sondern die Anlage zur Empfindung im Bewusstsein selbst aus-
zuzeichnen, bevor sie durch die Aufnahme des Reizes ausgeführt
und ausgestaltet wird. War' nicht das Auge sonnenhaft, die
Sonne könnt' es nie erblicken. Goethe hat Empedokles,
der zuerst diesen Satz ausgesprochen hat, vielleicht deswegen
gerade so hochgestellt.
Diese erste Anlage zum Bewusstsein wird die
Grundlage unserer Psychologie bilden. Die Empfindung
wird an die zweite Stelle treten, erst die zweite Stufe bilden
müssen. Sie hat zur Voraussetzung jene erste Stufe der all-
gemeinen Anlage, des notwendigen VorbegrifTs, des Ursprungs.
Und nicht nur die Empfindung ihrem Begriffe nach ist auf
diesen Ursprung zurückzuverweisen, sondern jede einzelne
Elmpfindung muss aus ihm hervorgehen. Und nicht nur jede
148 Lust und Unlust als Urbewusstsein.
dieses Ende nicht den Garaus bezeichnen müsste; wenn es selbst
die Bestimmung enthalten dürfte, so könnte in dieser Bestimmung
doch nimmermehr zugleich die Ricbtuhg und die Motivierung
erkennbar werden. Darauf aber kommt es für den reinen Willen
an, dass er nicht durch einen auswärtigen Reiz gestachelt werde,
und wenn dieser selbst den Höhepunkt dieser Tätigkeit bilden
könnte.
Es zeigt sich hier derselbe Fehler, aber in umgekehrter
Richtung, den wir in Bezug auf die Bewegungsempfindung zu
rügen hatten. Diese gilt gemeinhin, wir wir gesehen haben, als
die Empfindung von der abgelaufenen Bewegung, wobei die nach-
zuahmende Bewegung nach dem durchgängigen Fehler des
Sensualismus als selbstverständlich miteingeschlossen wird. Das
Bewegungsgefühl dagegen, wenn das Gefühl von Lust und
Unlust in dasselbe praecisiert wird, soll nicht auf die Bewegung
folgen, sondern ihr voraufgehen. So müsste man unstreitig die
These auffassen, wenn man Lust und Unlust als die Quellen der
Begebruugen und Triebbewegungen annimmt.
Man müsste dann aber zwei Arten von Gefühlen an-'
nehmen: dieeine, welche in der betontenEmpfindung zum Ausdruck
kommt; die andere, welche dem gesamten Willensgebiete zu Gnmde
gelegt wird, sodass der Wille selbst sekundär wird zu dieser seiner
Gefühlsgrundlage. Das wäre also die weitere, aber unausweich-
liche Consequenz dieser Ansicht von Lust und Unlust: dass sie
die Eigenart des Willens aufhebt Diese Consequ^iz
keine geringe Stütze für die Hypotbesis des reinen Willen-
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Menschen
inen. Lust
eit gelten;
ade nichts
fetaphysik
lahingegen
160 Die doppelte Qualität des GefOhls und die Bewusstheit.
Empfindung, sondern so auch jede Art der Vorstellung und
jede einzelne Vorstellung. Und ebenso daher auch jede
Regung und Entfaltung des Willens. Immer muss für jede
Neubildung des Bewusstseins und seiner Inhalte jener
Urquell als die eigene und unmittelbare Voraussetzung
festgehalten werden. Wie soll man diese Urquelle nun
aber benennen?
Es könnte scheinen, als ob es keinen passendem Namen
für sie gäbe als den von Lust und Unlust. Denn sie bilden ja
den Inhalt, der eigentlich nicht Inhalt ist So weit könnte diese
Benennung unbedenklich scheinen. Aber warum steift man sich
dennoch auf die Bezeichnimg der doppeltenQualität? Zeigt sich
nicht darin die Gefahr, diesen Inhalt dennoch vielmehr als quali-
flcierten Inhalt anzunehmen und zu Grunde zu legen? Würde
man nur die allgemeine Grundlage des Bewusstseins hiermit
legen wollen, so würde man doch darauf ausgehen müssen, von
der specifischen gedoppelten Qualität Abstand zu nehmen, um
nur für die betonte Empfindung Vorsorge zu treffen. Indem man
dahingegen die doppelte Qualität selbst als die erste und uner-
setzliche Offenbarung des Bewusstseins ausgibt, so zeigt man, so
verrät man dadurch, dass man in dem angeblichen Problem
der Bewusstheit befangen ist.
Deshalb hält man den Kreuzweg von Lust und Unlust für
das eigentliche Fragezeichen. Wie es zugeht, dass positiv und
negativ unsere Eingeweide gedreht werden, das macht man zum
hauptsächlichen Interesse; während wir erkennen, dass uns diese
mythologische Frage gar nicht mehr berührt. Das wissenschaft-
liche Interesse ist eingeschränkt auf wissenschaftliche Inhalte.
Wenn die Physiologie den Schmerz erklären kann, so wird im
Schmerze die Unlust ein zulässiges Problem. Ebenso wäre dies
bei der Lust der Fall, wenn sie nicht nur für die Pathologie,
sondern auch für die Physiologie ein Problem würde. Glück-
licherweise aber ist die Lust darauf nicht angewiesen; sondern
es gibt eine Aesthetik, welche Lust und Unlust in dem aesthe-
tischen Bewusstsein praecisiert und objektiviert. So wird in
eminenter Weise in einer Art und Richtung des Bewusstseins
der Kultur der Lust und Unlust ein Inhalt, und somit der Charakter
des Bewusstseins zuerteilt. Das ist Bewusstsein, nicht Bewusstheit
Zusammenhang dieser Frage mit dem Hedonismus. 151
Wenn jedoch das Gefühl von Lust und Unlust als die all-
gemeine Grundlage des Bewusstseins angesehen wird, vorbehalt-
lich der besondem doppelten Qualität, so muss von der be-
sondem Richtung des aesthetischen Bewusstseins abgesehen
werden; denn es soll ja die Entstehung der Empfindung damit
erklärt werden. Der Uebergang von Lust und Unlust in den
speciiischen Inhalt einer Empfindung wäre doch sicherlich der
monströseste Sprung in eine andere Gattung. Von diesem
distinkten Inhalt soll ja eben der Ton der Empfindung unter-
schieden werden. Und dieser Ton selbst, also auch die betonte
Empfindung kann nicht das Specifische der doppelten Qualität
zum ungehemmten Ausdruck bringen; sonst wäre es um den
Inhalt der Empfindung, und somit um die Empfindung geschehen.
Also zur betonten Empfindung selbst bedarf man keineswegs
der Grundlage von Lust und Unlust nach dieser ihrer specifischen
Qualität
Wie in der Empfindung, so muss auch in jener ursprünglichen
Anlage diese doppelte Qualität abgedämpft und nivelliert werden,
wenn die erste Empfindung eintreten soll. Warum hält man
aber dennoch Lust und Unlust als die Grundart des Bewusstseins
fest, und glaubt sich an sie anklammern zu müssen, während
man doch einsehen muss, dass alle Erklärung und Ableitung des
inhaltigen Bewusstseins von dieser Wüste und ihrer Vorspiegelung
sich fernhalten muss? Man sieht, es handelt sich für jenes an-
gebliche Problem schlechterdings nur um Bewusstheit, und gar
nicht um Bewusstsein.
Und darin besteht die grundsätzliche Verfälschung des Be-
w^usstseins und seiner Probleme, welche der Hedonismus
verübt, dass alle specifischen Inhalte der Erkenntniss, des Willens
und des aesthetischen Bewusstseins zu blossen Umdeutungen
jenes Urgefühls gestempelt werden, welches den Menschen mit
den Tieren gemein ist. Dass wir nur ja nicht in spekulativer
Vornehmtuerei darauf ausgehen, zu erkennen, was den Menschen
zu unterscheiden vermag von allen Wesen, die wir kennen. Lust
und Unlust sollen als die Blutzeugen der Bewusstheit gelten;
und alles Bewusstsein könne ja doch im letzten Grunde nichts
Anderes sein als Bewusstheit. So vermeint überall die Metaphysik
die Logik des Ursprungs aus dem Felde zu schlagen. Dahingegen
152 Lust und Unlust als Wächter.
sagen wir, dass es uns Nichts angeht, zu begreifen, wie Lust
und Unlust in unseren Nerven erzittern. Verstanden wir es
selbst, so würden wir darum nicht besser verstehen, wie es
möglich wird, dass eine distinkte Empfindung in uns entsteht;
geschweige eine Vorstellung; geschweige eine Willenstat. Und
auf diese Inhalte des Bewusstseins vorzüglich muss es doch an*
kommen. Wenn wir daher für den Begriff des reinen Willens
das Motiv von Lust und Unlust ablehnen, so befreien wir uns
von dem mythologischen Bann eines unzulässigen Problems,
welches die Inhalte des Bewusstseins zurückschiebt, und daher
das Problem des Bewusstseins verfälscht.
Die bisherige Folge der Erwägungen dürfte die naive Ansicht
erschüttert haben, dass Lust und Unlust einen unverfänglichen
Anfang und Ausgang bilden. Wir dürfen jedoch nicht annehmen,
damit die Ansicht selbst entwurzelt zu haben. Dazu ist sie zu
vielseitig mit den Interessen der Metaphysik verwachsen. Der
Grundbegriff der Metaphysik ist, wie wir es schon mehrfach ge-
sehen haben, der Begriff des Zwecks. Lust und Unlust wären nicht
Säulen und Pfeiler der Metaphysik, wenn sie nicht mit dem Zwecke
kompliciert wären. Diese Bedeutung hat bereits Empedokles
für Lust und Unlust eingesetzt. Er hat sie daher als Wächter
bezeichnet für das Zuträgliche und das Schädliche. Damit ist
ein neuer Inhalt diesem Grundgefühle zugesichert. Möchten sie
sonst desjenigen Inhalts ermangeln, wie ein solcher der Empfindung
und der Vorstellung zusteht, so gewinnen sie dafür eine höhere
Art von Inhalt, eine methodische. Sie werden zu Wegweisem,
deren der andere Inhalt sich nicht entschlagen darf. Man kann
also auf die specifische doppelte Qualität, als solche, Verzicht
leisten, und nur umsomehr die methodische Bedeutung von Lust
und Unlust anzuerkennen haben.
Das ist eine gefährliche Verstärkung für die Position.
Wenn nur nicht das Problem des Zweckes selbst das intrikateste
der gesamten Metaphysik und nicht zum mindesten auch der
Logik der reinen Erkenntniss wäre. Wir können für unsere
Frage die Diskussion einschränken. Dass Lust und Unlust mit
allen Fehlerquellen der Empfindung behaftet sind, dass sie also
keine objektiven Wegweiser für das Gesamtwohl des Organismus
sind, darüber besteht kein Zweifel. Gift kann süss, und die
Verbindung mit Zweck und Wert. 163
Arznei bitter schmecken. Dennoch will man sie als Massstäbe für
das Wohl und Wehe des Organismus nicht fallen lassen; welchen
Sinn hätte sonst dieses Zeugniss des Bewusstseins; oder sollte es etwa
nicht ein Zeugniss desselben sein? Das ist und bleibt immer
der grundsätzliche Anstoss, den man nimmt und den man sich gibt.
So kommt man zu einer sonderbaren Umkehrung. Da nun
einmal unleugbar Lust und Unlust sich subjektiv erweisen»
nämlich als unzuverlässig und trüglich, so sollen sie dennoch
in dieser ihrer Subjektivität einer objektiven Sachlage ent-
sprechen. Die Arznei schmeckt wirklich bitter; das Gefühl
braucht nicht vorher anzuzeigen, dass später daraus eine An-
nehmlichkeit für den Organismus entsteht. Danach hätte
Aristipp Recht gehabt, wenn er nur die gegenwärtige Lust'
nicht die zukünftige als Lust anerkennen wollte. Mithin hätte sich
trotzdem der teleologische Charakter für Lust und Unlust erhalten,
den man für den gegenwärtigen Zustand nicht verachten dürfe.
Man wird nun aber fragen, was denn im letzten Grunde
mit dieser Art von teleologischer Bewährung dieses Grundgefühls
gewonnen und beabsichtigt sei. Auf diesen Gradmesser, von
dem man den jeweiligen Stand des Zusammenhangs eines In-
halts mit dem Gesamtbewusstsein ablesen könne, kann es doch
nicht abgesehen sein. Dass dies nicht der Fall ist, ersieht man
aus der Verbindung, in welche der Begriff des Zwecks mit
einem andern Begriffe versetzt wird, nämlich mit dem des
Wertes. Lust und Unlust sollen nicht sowohl Gradmesser, als
vielmehr Wertmesser sein. Der Wert des Lebens, der Wert
des Daseins soll sich in ihnen ausdrücken, in ihnen abspiegeln.
Nicht nur der Gesamtwert des Lebens, sondern auf jeder Lebens-
stufe, auf jeder Stufe des Bewusstseins soll durch sie ein be-
sonderer Wert ausgeprägt werden. Indessen hängt der Einzel-
wert von der allgemeinen Wertquelle ab. Der Grundgedanke
bleibt daher immer: welchen Wert hätte das Leben, wenn es
nicht auf Lust und Unlust reagierte. Wir wüssten Nichts von
uns selbst; wir hätten kein Bewusstsein von unserem Dasein; wir
hätten somit kein Selbstbewusstsein, wenn es uns nicht in
Lust und Unlust aufginge, aufleuchtete. Das bleibt immer der
treibende Gedanke: es gibt nichts Mächtigeres, nichts Evidenteres
für Leben und Bewusstsein als Hoia, mir ist wohl; und sein
Aristophanes.
Gegenteil. Daher müssen Lust und Unlust die Wertzeichen und
Werlzeugen des Lebens sein.
In eine seltsame Verkettung von Problemen ist man ge-
raten, indem man den Zweck mit dem Werte für die Legitimierung
der Lust verbunden hat Man könnte versucht werden, diese
Verquickung naiv zu nennen, wenn sie nicht gar zu handgreiflich
alle Probleme auf den Kopf stellte, die heutzutage dem Zeitungs-
leser praesentiert werden. Der Wert einer Sache, das ist doch
für jeden modernen Menschen der Wert der Arbeit, welche
die Sache hervorbringen musste. Am Werte klebt also der
Schweiss des Arbeiters, der das flammende Schwert kittet, das
die Kultur von dem Paradiese trennt. Es ist gefährlich, Lust
und Unlust mit dem Werte zusammenzudenken: denn es ent-
steht dabei die Frage, ob Diejenigen mehr Lust oder mehr Un-
lust haben, welche die Werte producieren. Und man könnte
auf den Gedanken verfallen, dass der Wert im umgekehrten Ver-
hältnisse zur Lust stehen möchte.
Nichts ist abgeschmackter und widerwärtiger als die Ver-
bindung von Lust und Unlust mit diesem Grundbegriffe der poli-
tischen Oekonomie. Die Psychologie wird abgeschmackt, die
Moral widerwärtig bei dieser Verbindung. Und die ökonomische
Untersuchung wird abschüssig, wenn sie sich von einer soge-
nannten Philosophie auf dieses Glatteis locken lässt. Man könnte
wahrlich hierdurch nachträglich den Aristophanes gerecht-
fertigt finden, der unter dem Namen des Sokrates die falsche
Philosophie brandmarken wollte. Das ist der gewaltige Spass,
den sich der wahrhafte Komödiendichter verstattet, dass er an
den schlechten Früchten die menschlichen Mängel aller mensch-
lichen Pflanzung blossstellt. Dieser Spott der höchsten Kunst
ist das wahre Lobgedicht des menschlichen Geistes. Denn es warnt
vor den Philistern, die Unkraut in dem Acker des Geistes säen.
Es gibt kein gefährlicheres Unkraut als diese Verkleidung
schwierigsten Probleme in scheinbar harmlosen Worten,
scheint indifferenter als der Wert? Es gibt gute Werte
schlechte Werte. Warum sollte man nicht Lust und Un-
als Zeichen dieser indifferenten Begriffe setzen dürfen?
um nicht? Weil diese Begriffe nichts weniger als
ferente Begrifl'e sind; weil sie vielmehr die ganze Differenz
Wertmesser und Würdemesser. 165
der sittlichen Weltanschauung, die ganze Differenz der modernen
Politik bezeichnen. Der Wert kann nicht lediglich als Geldwert
gedacht werden, wenn nicht zugleich das ganze Wertproblem,
in dem der moderne Sozialismus seine wissenschaftliche Grund-
lage hat, mitgedacht würde. Das muss von jedem gebildeten,
geschweige von dem philosophierenden Menschen vorausgesetzt
werden. Der Wert hängt mit der Würde zusammen.
Wenn Kant die Würde vom Werte unterschied, so wollte
er damit den Zusammenhang um so dringlicher darlegen. Wie
können nun aber Lust und Unlust Wertmesser sein, wenn sie
nicht zugleich Würdemesser sind? Man müsste also die dreiste
Consequenz ziehen, dass sie das wären. In der Tat bildet dieser
Gedanke den Ausgang; aber eben nicht die Consequenz, die man
sich wohl hütet auszuführen. Denn damit wäre es ausgesprochen,
dass es keine andere Grundlage für die Ethik gebe und geben
dürfe als Lust und Unlust, welche sonach die Grundlagen und
die Massstäbe der Würde, als der sittlichen Werte, bilden. Oder
sollte es etwa Werte im Sinne der Kultur geben, welche nichtsdesto-
weniger nicht sittliche Werte wären? Dann gebe es eine Kultur,
welche nicht eine sittliche, welche vielleicht eine unsittliche wäre.
So rollt sich das ganze Rousseau-Problem an diesem Faden auf.
Und so müssen wir jedem Ansätze Widerstand leisten, der
Lust und Unlust mit dem methodischen Grundbegriffe des Wertes
in die entfernteste Verbindung bringt. Nicht Lust und Unlust
sind Zeichen, geschweige Bürgen des Wertes; sondern der reine
Wille allein hat die Werte zu erzeugen, die mit der Würde be-
stehen können; und die in diesem Bestände allein auch als
Werte sich behaupten dürfen. Und wenn wir fragen, mit
welchem Anteil des Blutes wir ohne des Gedankens Blässe diese
Werte zu erzeugen vermögen, so werden wir auf den Affekt
zurückblicken, der das zu leisten vermag, was man allein der
Lust und Unlust zumuten zu können meint. Die Bewegung, die
in der Tendenz entspringt, und die sich in dem Fortschritte von
Tendenz zu Tendenz zur Aufgabe aufbäumt, sie verfügt über alle die
Innervation, die man allein aus Lust und Unlust herleiten möchte.
Drittes Kapitel.
Der reine Wille in der Handlung:.
In der Constituierung des reinen Willens haben wir bis
jetzt vornehmlich für das Vehikel Sorge getragen, mittelst dessen
der Wille sich ins Werk setzt; wir haben jedoch noch nicht
deutlichere Rücksicht genommen weder auf den Träger und
Urheber dieses Willens, noch auf den Inhalt und Gegenstand,
auf den dieser Wille sich richtet. Nur die Beförderungsart ist
in Betracht gezogen, dass sie in ungehemmtem Laufe sich voll-
ziehen kann; und dass sie auf ihrem Wege Nichts von ihrer
Ursprünglichkeit und frischen Unmittelbarkeit einzubüssen
braucht. Indessen ist mit all dem doch nur für den Anfang
gesorgt, den der Impuls bezeichnet. Mit diesem Anfang bahnt
sich aber die Reinheit nur erst an. Auch der psychologische
Wille, wie er ohne Bedingtheit durch die Ethik genommen wird,
ist damit keineswegs beschrieben. Das Begehren kann an und
für sich noch keinen Inhalt schaffen; wie sehr es scheinen mag,
dass es auf einen solchen sich fixiert.
Dieser scheinbare Gegenstand entspricht nicht dem Begriffe
des Gegenstands, wie die Speise eine solche ist, die die normale
Kost sein kann, oder in abnormen Zuständen die des Raubtiers.
Für den Hunger bleibt der Gegenstand derselbe; für den Willen
aber bildet die Pflanzenkost und das Fleisch des getöteten Tieres
eine andere Art von Gegenstand als das Menschenfleisch des
Kannibalen. Oder wäre es etwa nicht so; wäre es gekünstelt und
überflüssig, oder gar unberechtigt, einen solchen Unterschied im
Begriff'e des Gegenstandes für den Willen von dem für die Be-:
Der Inhalt des Affekts und der Gegenstand des Willens. 157
gierde zu fordern? Sollte man genötigt sein, auf die Unter-
scheidung im Begriffe des Gegenstands, als eines Gegenstands des
Willens, zu verzichten, oder diese Unterscheidung, soweit sie an-
gängig ist, auf die ethische Beurteilung hinauszuschieben, und
auf sie sich zu beschränken? Woher käme dann aber diese
ethische Beurteilung? Sollte sie lediglich der ethischen Theorie
angehören, lediglich also Erkenntniss sein, und nicht zugleich
auch WiUe?
Stände es so, so käme es wieder darauf hinaus, dass der
Mensch schlechterdings doch nur ein Tier ist, ein Raubtier der
Selbstsucht und der Habsucht, das höchstens sich selbst zähmen,
vornehmlich aber durch Andere gebändigt werden muss. Und
in dieser Zähmung und Bändigung bekunde und betätige sich
nicht sowohl ein Wille, als vielmehr der allgemeine Verstand.
Der Unterschied zwischen Willen und Begierde wäre alsdann
Einbildung. Das Recht der Unterscheidung zwischen der Speise und
dem Frass läge lediglich im Denken; welches andererseits be-
kanntlich uns ebenso zu Memmen macht, wie der Trieb zu
Schurken. Stände es so, dann hätten alle jene Richtungen der
Metaphysik Recht, welche den Unterschied zwischen Intellekt und
Willen verneinen.
Das ist der aggressive Sinn, den der Begriff des reinen
Willens gegen alle unberechenbaren Unklarheiten der Meta-
physik bedeutet: dass der Wille selbst in allem seinem Drang
und Sturm rein und, um das Wort einmal vorweg zu nehmen,
gut werden kann; dass es nicht des Gedankens Blässe ist, die ihn
mit jenem Schein der Güte ankränkelt, während, bei Lichte be-
sehen, es doch Alles nur die Selbstsucht ist, welche in ihren
beiden Hauptrichtungen, als Expansion unü als Depression, den
Kommunismus und den Individualismus ausführt. Wenn es nun
aber wirklich der reine Wille selbst vollbringen können soll,
was die Ethik mit ihm ausrichten will, so darf es nicht bei dem
Affekte sein Bewenden haben. Denn es ist eine schwierige Frage:
wodurch wird der Inhalt des Affektes zum Gegenstande
des reinen Willens?
Wir erkennen die Schwierigkeit der Frage. Wenn man
meint, kurzer Hand antworten zu können, dass dies vom Denken
abhänge, durch das Denken bewirkt werde, so haben wir eben
158 Trieb und Gedanke.
die Gefahr beachtet, die in dieser Auskunft liegt; der Wille geht
dabei über in das Denken. Er muss sich des Begriffs bedienen;
und wie überall im Denken, vollzieht der Begriff den Gegen-
stand und stellt ihn dar. Nun könnte man aber sagen, wie es
denn überhaupt anders geschehen und gedacht werden könne;
gibt es doch keine andere Möglichkeit, den Gegenstand zu be-
stimmen und zu erzeugen. Es könnte als ein planloses Beginnen
erscheinen, den Begriff des reinen Willens mit Rücksicht auf den
Gegenstand desselben bestimmen zu wollen, und dabei die Mit-
wirkung des Denkens und des Begriffs zu umgehen. Dieser Schein
wäre sicherlich nicht grundlos; die Ausschaltung des Denkens
und des Begriffs würde den Willen schlechterdings unmöglich
machen. So also kann es nicht gemeint sein.
Bedenken wir nun aber, welche Schwierigkeiten hier der
Psychologie vorliegen, wenn sie diesen komplicierten Begriff
des Willens zu definieren unternimmt. Bedenken wir auch, mit
welchen Schwierigkeiten die juristische Diskussion zu ringen
hat, sofern sie diese Complikation des Willens zu ihrem eigent-
lichen Problem hat. Denn was im sogenannten Affekte geschieht,
das ist für das Recht ja nur gleichsam als Ausnahme in Betracht
kommend. Auf die Absicht soll es ankommen, wenngleich nicht
auf die Gesinnung; auf den Vorsatz, also auf den vorgesetzten
Inhalt und Gegenstand. Wie bemächtigt sich nun der Trieb und
Affekt, der doch immer noch dabei sein muss, dieser ihm fremden
logischen Mittel, um mit denselben sich selbst ins Werk zu setzen?
Man sieht an dieser Ausdrucksweise, dass der Affekt, als
der eigentliche Wille, für sich genommen wird, während das
Denken, als ein fremdes Element, hinzutritt, hinzugenommen
wird. Das ist der Fehler. Das muss ein Fehler sein, dass aus
zwei heterogenen Elementen ein Ding, ein geistiges Ding soll
werden können. Trieb und Gedanke dürfen nicht zwei
ungleichartige Bestandteile bleiben, wenn sie sich zu einer
Einheit im Willen verbinden können sollen. Ohne die Einheit
aber wäre der Wille nicht Wille; nicht eine ursprüngliche Rich-
tung des Kulturbewusstseins.
Es genügt also nicht, zu sagen, der Trieb verbinde sich mit
dem Denken; oder die Begehrung mit dem Verstände. Nicht
allein das Wort der Verbindung bezeichnet diese Ungenügendheit;
Vermittelung zwischen Beiden durch einen Begriff. 159
davon sei jetzt ganz abgesehen. Beachten wir um so schärfer,
dass es sieh dabei immer um die Correlation des Denkens mit
der Begehrung handelt. In der Begehrung allein wird die Eigen-
art des Willens angelegt und festgelegt. Was darüber hinaus hin-
zukommt, das hat nicht mehr die Kraft und den Saft des Affektes;
das hat im besten Falle die Farbe des Gedankens. Das ist der
Grundfehler bei dieser Art der psychologischen Synthese des
Willens. Den Fehler mögen wir jetzt erkennen; wie kann er
aber vermieden werden? Das scheint eine harte Frage zu sein.
Machen wir uns klar, wie die Lösung der Fragen angegriffen
werden, wie sie gemeint sein kann. Wenn die psychologische
Construktion durch die der Ethik bedingt und geleitet wird, so
kann es sich nicht füglich um ein Geheimniss handeln, welches
im Bau des Bewusstseins zu entziffern wäre. Nicht darauf kann
es abgesehen sein, etwa ergründen und offenbar machen zu wollen,
wie der Trieb den Begriff aufnimmt und sich mit ihm verbindet
Verbindet, was heisst das? Verflicht? Verschmilzt? Wie fein man
diese Unterschiede zeichnen mag, die Art der Verwebung und
Verwachsung muss immer ein Gleichniss bleiben. Die Auflösung
eines psychologischen Rätsels kann allein durch einen Begriff
erfolgen, dessen Leistung, Ziel und Tragweite bestimmbar wird.
Wenn wir also fragen: wodurch wird der Inhalt der Be-
gehrung zum Gegenstande des Willens? so bedeutet diese Frage
in der Tat die Frage nach der Möglichkeit der Unterscheidung
des Willens von der Begehrung. Die Antwort aber darf nicht
sein : durch die Verbindung mit dem Denken wird der Trieb zum
Willen. Das ist keine Antwort; das ist nur eine andere, und
zwar nur geringer entwickelte Formulierung der Frage. Die
Antwort kann nur erfolgen durch die Ermittelung eines Begriffs,
welchem die Vermittelung zwischen dem Denken und der Be-
gehrung anvertraut werden kann. Ein Begriff allein kann diese
Vermittelung vollziehen. Daran ist nicht etwa Anstoss zu nehmen,
dass dieser Begriff doch dem Denken angehören müsse, und dass
somit immer nur auf der einen Seite die Vermittelung hergestellt
werde. Das wäre ein arges Missverständniss. Dieser Uebergriff
muss allerwege der Logik zugestanden und eingeräumt werden.
Es kommt nur darauf an, dass der gesuchte Begriff nicht ledig-
lich ein Begriff der reinen Erkenn tniss bleibe; sondern dass er
160 Aristoteles* praktische Vernunft.
zu einem Begriffe auswachse, welchen die Ethik gebrauchen kann,
welchen das Recht gebraucht. Welcher Begriff hat diesen
doppelten Ursprung, um als Vermittelung zwischen Be-
gehrung und Denken brauchbar zu werden?
Wir hatten von vornherein auf diesen Begriff die Richtung
gelenkt; es ist der Begriff der Handlung.
Wo es sich um Sittlichkeit handelt, da widerstrebt es, von
Tat zu sprechen; nur die Handlung allein wird dem Sinne gerecht
Die Natur vollzieht Bewegungen. Sie lassen sich im Tiere als
Taten auffassen; denn der Instinkt bildet einen subjektiven Unter-
schied gegen die Fallgesetze, denen gemäss in der Natur die
Bewegungen vollführt werden. Der Mensch wird zum Menschen
durch die Handlung, sofern er derselben fähig wird. In der
griechischen Sprache, in welcher die Philosophie ihre Ursprache
besitzt, ist dieser Unterschied zwischen Handlung (?cpd^t<;) und
Tun bedeutsam ausgeprägt; um so bedeutsamer, als nach beiden
Seiten die Abstraktion fein verwoben wird. Ist doch das Tun
zugleich der Ausdruck für das höchste Tun, welches das aesthe-
tische Bewusstsein zu erkennen, welches es als das durch-
greifende Grundelement alles künstlerischen Schaffens anzu-
erkennen hat. Die Poesie wird durch dieses Tun bezeichnet.
Und dennoch wird von dem Tun die Handlung unterschieden.
Und es bleibt noch nicht bei dieser Art und Richtung der
Unterscheidung, welche doch die Gebiete der Ethik und der
Aesthetik auseinanderhält; innerhalb des Sittlichen selbst bleibt
das Tun als solches anerkannt. Aristoteles hat es in der tätigen
Vernunft (vouc 7:o(Y]Tixd<;) rehabilitiert. Diese tätige Vernunft
repräsentiert vorzugsweise die bewegende Gottheit; und allen-
falls ergiesst sich ihres Gleichen in den Geist des Menschen; des
Menschen, der ihrer teilhaft wird. Trotzdem aber ist dieses Tun
noch immer Tun. Es ist reine Theorie; Schauen und Denken
seiner selbst. Aber es ist trotz alledem nicht Handlung.
Es ist ein wahrhaftes Verdienst, das Aristoteles sich erworben
hat nicht sowohl durch die Charakteristik der Handlung; denn
diese ist durch die sachgemässe des Tuns in der tätigen Vernunft
beeinträchtigt, als vielmehr durch die Unterscheidung und Aus-
zeichnung der praktischen Vernunft (vouq Tcpaxx'.xoQ). Durch diese
terminologische Bezeichnung ist nicht sowohl der Begriff der
Die Kritik der praktischen Vernunft und Fichte. 161
Vernunft mit dem Begriffe der Handlung verknüpft, als vielmehr
der Begriff des Willens. Denn die praktische Vernunft ist der
Wille; nämlich der reine Wille; der Wille, den die Ethik fordert;
und nur die Ethik hat ihn zu fordern.
Wenn man bei Kant einen Unterschied zu spüren meint
zwischen den Begriffen des Willens und der praktischen Ver-
nunft, so kommt dies von dem grundsätzlichen Irrtum her, dass
die Vernunft es eigentlich doch nur mit dem Denken zu tun
habe, dass sie also eigentlich nur theoretische Vernunft sein
könne; der Wille dagegen, der sei eben nicht eigentlich Vernunft
Es widerspräche der ganzen Anlage der Kantischen Ethik, wenn
dieses Sprachgefühl für seine Terminologie zuträfe. Es ist nicht
so; es gibt für ihn keinen Unterschied zwischen der praktischen
Vernunft und dem Willen. Denn der Wille ist ihm der reine
Wille; der gute Wille. Und er hat deshalb diese Kritik nicht
genannt Kritik der reinen praktischen Vernunft, weil durch den
Nachweis des reinen Willens, der reinen praktischen Vernunft
die Kritik der Reinheit erübrigt ist.
Vielleicht aber darf man dies als einen Mangel in der
Construktion dieser Kritik, in dem Abwägen des einzelnen Bei-
trags der Hebel, die in ihr spielen, ansehen: dass der Begriff der
Handlung nicht zum Schwerpunkt des ganzen Gebäudes geworden
ist. Und wie meistens, so geschiehtes auchhier, dass man unmittelbar
bei Fichte die Mängel erkennt, die Kant zurückgelassen hat, weil
Fichte in der spekulativen Kraft den Schein der Congenialität
auf sich zieht; wenn man das Talent, welches nicht die universelle
Capazität des Wissens besitzt, mit dem Genius vergleichen darf,
bei dem Wissen und Können eins werden. Aber den Scharfblick,
den Tiefblick für die Hebel, die nicht bloss Schrauben sind, hat
das grosse Talent.
So lässt es sich verstehen, dass bei Fichte in der Wissen-
schaftslehre, wie in der Sittenlehre, die Handlung in den Mittel-
punkt tritt Denn er will die Kluft zwischen dem Wissen und
dem Wollen aufheben. So geht er zwar über Aristoteles hinaus;
aber es bleibt doch bei der praktischen Vernunft; bei der Hand-
lung in der Vernunft und für die Vernunft. Es ist doch nicht
mehr nur die Idee, als die Idee des Guten, um die es sich in
der Ethik handelte. Man wird vielleicht so dem Aristoteles
11
162 Der Begriff und die Aufgabe.
gerechter; und man vermeidet den Vorwurf der Trivialität, dem
er bei dem Gegensatze zu verfallen scheint, welchen er zwischen
dem Wissen und dem Handeln aufrichtet; man darf erkennen,
dass es ihm darum zu tun war, die Handlung als das eigentliche
Problem der Ethik auszuzeichnen.
Wir wissen längst, dass es bei dieser Auszeichnung für die
Ethik nicht verbleiben darf; wie sie denn auch sich nicht hätte
halten lassen, wenn der BegrifT der Handlung nicht schon in der
Logik begründet worden wäre. Wir vermissen seine centrale
Stellung, seine Unterstreichung und Auftragung in der Kritik der
praktischen Vernunft; desto energischer aber haben wir sie in
der Kritik der reinen Vernunft zu erkennen. Und wir haben
in der Logik der reinen Erkenntniss die Charakteristik des Urteils
an dem Leitfaden des Begriffs der Handlung versucht Auch da
war es die Aufgabe, in welcher diese Charakteristik ihren Grund
und ihre Bestätigung hat.
Der Begriff ist dem Denken nicht gegeben; das Urteil hat
ihn zu vollziehen. Es ist schon viel gewonnen, wenn diese Ein-
sicht erreicht wird; aber es ist nicht Alles damit gewonnen; und
sie ist nicht gesichert, wenn nicht eine andere Einsicht hinzu-
kommt und lebendig wird, und damit jene erste Einsicht erst
lebendig macht. Der Begriff ist nämlich nicht nur von vornherein
nicht gegeben, und er muss erzeugt werden; sondern er ist auch
am Ende der Erzeugung nicht gegeben; es gibt keinen Ab-
schluss und kein Ende für ihn. Sein Ende wäre seine Ver-
nichtung. Sein Dasein besteht nur in seiner Erzeugung; und
seine Erzeugung nimmt kein Ende, sofern er ein echter Begriff
ist. Das heisst: der Begriff ist Aufgabe.
Diese Aufgabe des Begriffs bildet den Inhalt des Denkens,
den Gegenstand des Urteils. Darum ist das Denken, ist das Ur-
teil Handlung. Wäre es Tun, so könnte es ein fertiges Gebild
zustande bringen. Die Handlung ist dadurch vom Tun unter-
schieden, dass es für sie nichts Fertiges gibt; und dass es für sie
kein Ende und keine Erledigung gibt, soweit es sich um ihren
Inhalt handelt Sie geht mit ihrem Inhalt, und nur mit ihm^
an sich selbst zu Ende. Wenn ihr Inhalt sich auigibt, so gibt
sie selbst sich auf; vielmehr so gibt ihr Inhalt sie auf. In
diesem Doppelsinn können wir das Wort Aufgabe für
Die Aufgabe und die Handlung. lt>B
die Handlung fassen. Der Inhalt der Handlung, als der
Handlung des Denkens, ist die Aufgabe. Der Begriff ist niemals
ein abgeschlossenes Ding, niemals eine Versteinerung. Würde
diese Aufgabe der Handlung des Denkens entschwinden, so würde
das Denken sich selbst aufgeben.
Bevor wir nun aber die Verwandtschaft zwischen dem
Denken und dem Wollen, wie sie in der Handlung sich darstellt
und vollzieht, genauer verfolgen, scheint es angemessen, dem all-
gemeinen Gedanken nachzugehen, dass und warum diese Ver-
wandtschaft, diese Spur aufzusuchen und zu verfolgen sei. Es
kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass nur auf diesem
Wege der Unterschied zwischen Wollen und Begehren sich fest-
stellen, der BegrüB des reinen Willens sich bestimmen lasse.
Und wenn wir bisher den Begriff der Handlung für diesen Unter-
schied heranzogen, so dürfen wir auch einen andern Begriff
nicht ausser Acht lassen, der für das Denken, und so auch für
das Wollen massgebend ist.
Wir sagten, es dürfe für das Denken nichts Fertiges geben.
Und wir können es uns vorstellen, dass damit nicht etwa der
Unersättlichkeit des Begehrens das Wort geredet werden solle;
sondern dass vielmehr die Sattheit des Behagens abgewehrt
werden soll, welche gross ist in der Schätzung des momentanen
Erfolges, den sie festzuhalten vermeint: verweile doch, du bist
so schön. Alle jene Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit des
trägen Conservativismus wird vielmehr gerichtet, und in ihrer
Schädlichkeit erkannt durch den Ausgang von dem Gedanken,
dass aller Inhalt des sittlichen Wollens nichts mehr sein wollen,
nichts Höheres erstreben und erzielen können darf als die ewige
Aufgabe, die nimmermehr zum trägen Besitze werden kann. So
einleuchtend dies Alles dem gebildeten sittlichen Bewusstsein ist,
so muss es andererseits doch in Erwägung gezogen werden, dass
der reine Wille einen Halt und einen sichern und festen Ruhe-
punkt gewähren müsse gegenüber jenem haltlosen Drängen und
Schwanken, in welchem der Trieb nicht sowohl treibt, als ge-
trieben wird; in welchem die Begierde nicht sowohl zur Be-
friedigung gelangt, sondern im Genüsse nur sich selbst verzehrt.
Diesen Halt, der wahrlich kein Stillstand ist, wo könnte er
anders zu finden sein als im Denken?
11*
164 Vorurteile der Psychologie.
So sind es denn zwei Gesichtspunkte, von denen aus
die Handlung, welche und sofern sie den reinen Willen voll-
endet, zu betrachten ist. Einerseits beherrscht die Bewegung
dieses ganze Gebiet; andererseits aber ebenso auch die Ruhe.
Und indem wir diesen Ausdruck gebrauchen, so erkennen wir
zugleich, dass es nicht widersprechende Begriffe sind, durch
welche wir die Handlung zu beschreiben versuchen; denn die
Ruhe ist nach einem logischen Grundbegriffe der Physik die
Voraussetzung der Bewegung, und also selbst der Ursprung der
Bewegung. Die Ruhe, welche eine Grundbedingung der Handlung
ist, ist keineswegs ein Stillstand; sondern sie ist nur der Gegen-
satz zum Schwanken, welches das Gleichgewicht ausschliesst
Sie ist kein Abschluss; aber sie führt zum Entschluss. Und
darauf kommt es an, dass Vorsatz und Entschluss zu-
sammenfallen: in der Handlung eins werden. Wodurch
aber kann der Wille, der doch auf dem Moment der Bewegung
beruht, dieses Ursprungs der Bewegung, dieser Ruhe sich be-
mächtigen, ohne in diesem Verweilen den Stillstand zu stabilieren,
und seinen Ursprung damit abzugraben?
Hier stehen wir wieder vor der schwierigen Frage des Zu-
sammenhangs zwischen dem Wollen und dem Denken. Die
Schwierigkeit ist aber eine künstliche, selbstgemachte; sie beruht
auf der falschen Vorstellung, die von dem Problem der Psycho-
logie und demzufolge von derjenigen Methodik im Schwünge
ist, die der Psychologie obliege und möglich sei. Durch die Ab-
hängigkeit, in welche wir sie von allen Disciplinen des Systems
der Philosophie versetzen, für den Willen also von der Ethik,
muss sich die Schwierigkeit aufheben. Wir haben nicht etwa
nach Art der Physiologie das anatomische Räderwerk aufzudecken,
in dem und mittelst dessen die Maschine des Willens ihre
Funktionen ausübt; sondern wir haben allein die Begriffe zu be-
stimmen, in deren Verbindung dieses komplicierte Problem durch-
sichtig wird.
Wie es der Affekt anfangt, mit dem Denken sich zu ver-
binden, das geht uns Nichts an. So dürfen wir die Frage nicht
stellen; denn der Affekt ist keine Nervenzelle, so wenig als der
Begriff. Beide sind nichts als Termini der Logik, der Ethik,
und dadurch der Psychologie. Und das allein darf demgemäss
^
Unterschied der Handlung im Denken und Wollen. 165
die Frage werden: ob und wie aus der Art der Verbindung, in
welche der Affekt und das Denken gebracht werden, das Problem
des reinen Willens vollziehbar und lösbar wird. Die Verbindung
dieser Begriffe ist unerlässlich; denn der Wille gipfelt in der
Handlung. Und die Handlung ist einerseits Bewegung,
andererseits Ruhe. Bewegung gibt der Affekt; Ruhe allein
der Begriff. Also gehören Affekt und Denken zusammen.
Auf diese Forderung hat sich das Interesse der Psychologie
zu beschranken. Wie sie zusammenkommen, das ist eine Frage
nach dem Homunculus; nicht nach dem Kulturbewusstsein und
seiner Einheit
Es wäre daher ein platter Einwurf, dass durch die Ver-
bindung des Affekts mit dem Denken doch die Handlung wieder
auf Denken, und auf die Bedeutung, welche ihr im Denken zu-
kommt, reduciert würde. Denn diese Verbindung ist unaus-
weichlich. Es gibt kein anderes Mittel, den Unterschied von der
unaufhaltsamen, ziellosen Begehrung herzustellen, als welches im
Denken des Begriffes liegt. Es müsste aber also der Unterschied
zwischen Wille und Begehrung hinfallig' werden, wenn nicht aus
der allgemeinen Bedeutung der Handlung im Denken sich zu-
gleich eine specifische für das Wollen ermitteln lassen sollte.
Das muss jetzt unsere Frage werden: welcher Unterschied
ergibt sieh zwischen der Handlung im Denken und der
Handlung im Wollen? Nicht auf die Analogieen wollen wir
jetzt achten, sondern auf die Verschiedenheit; da diese ja frag-
lich wurde.
Bringen wir zunächst die Richtung, in welcher die Unter-
scheidung verlaufen muss, in aller Schroffheit zum Ausdruck.
Wir würden uns dann am bequemsten und deutlichsten der
Unterscheidung zwischen dem Innern und dem Aeussern be-
dienen können. Das Denken bleibt immer ein Inneres; sein In-
halt und Gegenstand ist, als ein solcher des Denkens, ein innerer.
Die Handlung dagegen geht schlechterdings, so scheint es, auf
ein Aeusseres. Ihr Gegenstand soll so wenig ein innerer bleiben,
dass er als ein durch die Handlung hervorzubringender gedacht
wird. Dieses Hervorbringen wird aber nicht etwa so verstanden,
wie das Erzeugen im Denken; denn dort bleibt das Erzeugniss
immer ein Gedachtes. Die Handlung dagegen will ihren Inhalt,
166 Unterschied des Gegenstands im Denken and im Wollen.
ihre Hervorbringung zu einem Gegenstande machen, der etwas
Anderes sei als ein Gedanke. Dieses Andere liegt im Aeussern.
Die Handlung ist Aeusserung.
Jetzt wird nun aber der Einwand sich einstellen, dass ja
doch auch das Denken der Erkenntniss ein Aeusseres, dieAussen-
welt zu erzeugen habe. Was wird daher aus dem Unterschiede
zwischen Handlung und Denken, wenn er auf den zwischen
Aeusserem und Innerem zurückgeführt werden muss? Man sieht,
diese Unterscheidung kann nicht den letzten Ausdruck bilden.
Es kommt ihr nicht der Wert einer methodischen, einer grund-
satzlichen Bedeutung zu.
Halten wir uns vielmehr wiederum an den gemeinsamen
Ausdruck für den Inhalt, der im Begriffe des Gegenstandes
liegt. Für das Denken der Erkenntniss handelt es sich immer
und durchweg um den Gegenstand und um die Einheit der
Gegenstande in der Natur. Der Wille bezieht sich freilich not-
wendigerweise auch auf den Gegenstand, in dem sein Inhalt
praecis wird; in dem er sich von der Begierde unterscheidet. Aber
dieser Gegenstand selbst, so genau und scharf bestimmt er ge-
fordert wirdv ^r i^^ ^^ dennoch nicht, auf den es eigentlich abge-
sehen ist; er ist in aller seiner Deutlichkeit doch nur eine Vor-
spiegelung, doch nur gleichsam die Veranschaulichung desjenigen
Inhalts, welcher allein der eigentliche Inhalt und der wahre
Gegenstand des Willens ist. Dieser eigentliche Gegenstand
ist die Handlung.
So erkennen wir den Unterschied in der Bedeutung
der Handlung für das Denken und für das Wollen. Im
Denken ist der Gegenstand der Zweck und Inhalt. Und die
Handlung ist das Mittel, diesen Gegenstand zu erzeugen. Im
Wollen dagegen ist die Handlung der Inhalt und das Ziel. Und
der Gegenstand ist Nichts als das Mittel, die Handlung zu erzeugen
und zu Stande zu bringen. Das Denken bedarf der Handlung,
wenn der Gegenstand ihm nicht ein gegebener sein soll. Das
Wollen dagegen bedarf des Gegenstandes, wenn die Handlung
ihm nicht in Velleität und Impetuosität verfliegen und zerflattem
soll. Festigkeit, Sicherheit, und daher Klarheit und Bestimmtheit
kann nur der Gegenstand, nur der Begriff im Gegenstande ver-
leihen. Soweit bedarf das Wollen des Begriffs; soweit, aber nicht
Die Aufgabe und die Verinnerlichung. 167
ein Haarbreit weiter. Worauf es allein dem Wollen ankommt^
das ist die Handlung und nur die Handlung. Sie bildet das
Innere, dem gegenüber die ganze Aussenwelt zu einem schier
Aeusserlichen wird.
Daher vollzieht das Wollen gerade, indem es in die Hand-
lung ausläuft, und in der Handlung kulminiert, den höchsten
Grad reflexiver Immanenz. Weit gefehlt, dass der Wille in der
Handlung sich veräusserlichte, verinnerlicht er sich vielmehr in
ihr und durch sie; vollführt er und vollendet er seine Ver-
innerlichung. Je mehr wir ungescheut den Willen an das
Denken und in das Denken hineinziehen, desto genauer wird
der Unterschied. Das echte Genus muss überall die echte
specifischc Differenz an den Tag bringen.
Wir können hier wieder an einen Terminus anknüpfen,
der ebenfalls dem Wollen mit dem Denken gemeinsam ist; der
aber für die Handlung zu einer eminenten Bedeutung kommt:
das ist der Begriff der Aufgabe. Auch für das Denken ist die
Aufgabe notwendig, damit dasselbe in seinen verschiedenen
Richtungen, in keiner derselben sich erschöpfe und sich ab-
schliesse. Wenn die Sonderung vollzogen wird, so darf sie
nicht sich abhaspeln. Und ebensowenig darf dies die
Einigung; sie würde sonst die Einheit des Begriffs in ein
Petrefakt verwandeln. Beide Richtungen müssen sich
ihren Inhalt als Aufgabe setzen. Und das Denken selbst
muss demgemäss seinen Gegenstand, seinen Begriff als Aufgabe
denken, als Aufgabe erzeugen.
So muss es ganz besonders auch für das Wollen gelten,
wie wir es betrachtet haben. Wenn nun aber wieder der Ein-
wurf auftaucht, worin denn der Unterschied zwischen Wollen
und Denken für die Aufgabe liege, so werden wir uns an die
Handlung und an ihren Unterschied vom Gegenstande halten.
Und man kann hier die Sache noch viel tiefer greifen. An der
Hand des Unterschiedes zwischen dem Aeussern und dem Innern
war es, wenn es auch nicht ausgesprochen wurde, im letzten
Grunde doch der Raum, nach dem der Unterschied orientiert
wurde. Der Gegenstand des Denkens der Erkentniss wird auf
den Raum projiciert; die Handlung dagegen soll immer der Aus-
druck des Innern sein. Dieser Gedanke wird durch den Ge-
168 Die Aufgabe und der Sinn.
Sichtspunkt der Gesinnung gemeint; aber schief gewendet Die
Handlung vielmehr ist der richtige Gesichtspunkt Sie ist nicht
äusserlich; nicht für den Willen von Aussen und nach Aussen
hinzutretend. Sie ist vielmehr allerwege nur und nichts Geringeres
als das Aeussere des Innern. Das lässt sich nun noch schärfer
an der Aufgabe durchführen.
Das Analogon zu ihr ist nämlich die Substanz. Alles
Denken der Erkenntniss ist auf sie dirigiert. Die Realität
würde ohne sie zu einem blossen Buchstaben. Sie bedeutet zwar
nicht das absolute Sein; denn sie ist vielmehr auf die Causalität
und auf das System relativiert, aber sie bedeutet das allgemeine
Sein, die allgemeine Voraussetzung des Seins, auf welche
Causalität und System als ihre Funktionen bezogen sind. Wollte
man sich auch für dieses Stadium der Charakteristik des
Denkens des Terminus der Aufgabe bedienen, so würde man
sagen dürfen, dass die Aufgabe hier als Substanz sich denken
lasse; denn die Aufgabe, als welche der Inhalt des Denkens
immerdar gedacht werden muss, ist und bleibt auf den Gegen-
stand und also auf das allgemeine Sein bezogen. Anders dagegen
steht es im Wollen. Hier ist die Handlung niemals in letzter
Instanz Gegenstand. Also darf auch die Aufgabe nicht als das
Mittel gelten für die Darstellung des Gegenstands. Also darf
die Aufgabe auch nicht nach der Analogie der Substanz gedacht
werden.
Wir stossen hier wieder auf den tiefen Unterschied, den
Kant zwischen dem Sein und Sollen formuliert hat Jedoch
wir haben es schon mehrfach erwogen, dass wir zwar den Sinn
dieser Unterscheidung festhalten müssen, die Formulierung selbst
aber zu vermeiden haben. Es darf nicht der leiseste Schein
zugelassen werden, als ob es das reine Wollen nicht mit einem
Sein, oder auch nur mit einer geringern Art des Seins zu tun
hätte, als welche der Erkenntniss zusteht. Dennoch aber darf
der Unterschied zwischen Ethik einerseits und Logik und
Physik andererseits nicht nivelliert, darf also der Unterschied
zwischen Wollen und Denken nicht verwischt werden.
Das Sein des Sollens ist das Sein des Wollens, das
Sein des Willens. Es ist nicht das gegebene Sein. Es ist
nicht das als gegeben zu erzeugende Sein, welches hier den
Der Vorsatz der Aufgabe. 169
Gegenstand bildet. Denn der Gegenstand ist hier nur aus-
schliesslich die Handlung. Und nur die Handlung ist hier die
Aufgabe; die Aufgabe des Gegenstands. Jenes Bedenken, dass es
dem Sollen am Sein gebrechen könnte, verliert daher, je genauer
wir es im Zusammenhalten mit dem reinen Denken betrachten,
immer mehr von seinem Schein. Um so getroster können wir
daher von der andern Seite aus den Unterschied ins Auge fassen.
Die Tat ist nicht Handlung. Aber die Handlung ist Tat.
Das Innere wird durch die Handlung nicht in ein Aeusseres
verwandelt. Aber in ein Aeusseres soll das Innere übergehen.
Es soll in diesem Uebergang das Innere bleiben; aber es soll
sich ausdehnen in eine Aeusserung. Das ist der Unterschied
zwischen Wollen und Denken. Diesen Unterschied markiert
der specifische Begriff der Handlung. Sie soll zugleich Tat sein.
So lässt es sich verstehen, dass Fichte, der von der Gemeinsam-
keit der Handlung in Denken und Wollen ausging, den Ter-
minus der Tathandlung prägte.
Das ist nicht nur logisch von Bedeutung, nämlich der
Tatsache gegenüber, sondern für das Wollen von grosser
Zw^eckmässigkeit. Das reine Wollen vollzieht sich, voll-
endet sich in der reinen Handlung. Und die Handlung
bleibt rein, indem sie zugleich Tat ist. Diese Aeusserung ist die
Aeusserung des Innern. Und das Innere wäre nur das des
Denkens, nicht das des Wollens und der Handlung, wenn es
nicht dieser Aeusserung zugänglich würde. Dagegen schwindet
aller Vorwand von Absicht und Gesinnung. Der Gegenstand
der Absicht muss der Vorsatz, der Ansatz der Aufgabe
werden, die in der Handlung sich vollführt.
Der Affekt braucht im reinen Wollen nicht zu erschlaffen;
in der Handlung nicht verschleiert und abgetötet zu werden.
Das reine Wollen braucht nicht zum blossen Denken zu ver-
blassen. Die Handlung verbindet und vereinigt den
Affekt mit dem Denken. Sie erzeugt, sie vollendet den Be-
griff des reinen Willens.
So hat sich denn das Bedenken gründlich erledigt, als ob
der reine Wille Eigenart und eigene Energie verlöre, wenn er
auf das Denken abgestimmt wird. Es hat sich genugsam bereits
gezeigt, dass die specifische Kraft der Handlung des Affekts nicht
170 Verhältnis der Rechtsphilosophie zu Logik und Ethik.
entraten kann. Wir werden an wichtigen Beispielen, und zwar
nicht nur des Beispiels wegen, diese Erwägung fortzusetzen
haben. Vorerst jedoch dürfen wir nunmehr nach der andern
Seite die Erwägung aufnehmen; nämlich dahin^ dass erst
durch das Denken und durch die Fixierung im Begriffe
die Handlung und das V^ollen zu stände kommt.
Wir haben hierzu auf den Apparat der Logik einzugehen.
Das ganze Gebiet des Urteils würde heranzuziehen sein; wir
wollen uns jedoch an dieser Stelle Beschränkung auferlegen, und
zwei Begriffe auswählen. V^ir stehen hier an einem funda-
mentalen methodischen Problem, nämlich an dem Verhältniss
zwischen Ethik und Rechtsphilosophie. Da erhebt sich
vor Allem das Bedenken, dass es doch nicht allein die Ethik sei,
zu welcher die Rechtsphilosophie in Beziehung zu setzen sei;
dass es doch vornehmlich vielmehr die Logik sein müsse, auf
welche die Rechtsphilosophie zu orientieren sei.
Wir erkennen dagegen hier sogleich, wie dieses Bedenken
sich zerstreut. Wenn wir die Beziehung zur Ethik ins
Auge fassen, so haben wir damit zugleich diejenige der
Logik mitgefasst. Ethik hat nicht allein Logik zur Voraus-
setzung und zur Grundlage; sondern der Begriff des reinen
Willens, wie er in der Handlung gipfelt, lässt sich ohne die
Beziehung auf das Denken der Erkenntniss nicht definieren.
Und diese notwendige, unumgängliche Verbindung ist es, die
wir hier genauer in Angriff nehmen wollen.
Unter allen Urteilsarten ist es das Urteil der Bedingung,
welches die Art und den Wert der Erkenntniss bestimmt. Daher
konnte die Ansicht populär werden, dass der Intellekt durch die
Causalität erschöpfend sich bestimme. Und Kant selbst hat
gegen seinen Willen dieses Vorurteil heraufbeschworen, indem
er die Erörterung, welche Hume auf die Causalität beschränkt
habe, für das ganze Gebiet der reinen Vernunft zu erweitern als
sein Vorhaben ausgab. Damit erschien die Causalität als der
Schwerpunkt alles Denkens. So verhält es sich nun zwar nicht
Die Causalität ist nur eine der Kategorieen. Aber sie ist die
Kategorie der Funktion, also des Grundmittels der reinen
Die Bedingung Grundbegriff des Rechts. 171
Erkenntniss. Darin liegt freilich wieder ein schweres Zeichen
des Unterschieds.
Denn wenn die Causalität die Funktion bedeutet, so liegt
ihr Wert und ihre Kraft innerhalb der Mathematik und der
mathematischen Physik; kann sie dann aber auch anwendbar
werden auf andere Gebiete der Forschung und des Wissens,
wenngleich dieselben nicht die der reinen Erkenntniss sind?
Wir stehen wieder vor einer methodischen Schwierigkeit, über
welche uns jedoch die Logik schon hinweggehoben hat. Aber
diese Hebung konnte sich doch nur auf die Aufstellung von
Wegweisern beschränken. In allen Urteilsarten hat die Logik es
versucht, solche Hinweise und Wegweiser auf die Geistes-
wissenschaften aufzurichten. Jetzt liegt die Gelegenheit und
die Aufgabe vor, die Wegweiser in Gebrauch zu setzen.
Freilich kann man die Bedingung nicht in solchen Funktionen
ausdrücken und berechnen, welche die Ethik für den Begriff des
Wollens, welche die Rechtswissenschaft für den Begriff der
Handlung braucht. Soll aber etwa darum die Ethik auf den
Begriff der Bedingung, und gar die Rechtswissenschaft auf ihn
verzichten, weil er sich in einer mathematischen Funktion nicht
formulieren lässt? Muss nicht dessen ungeachtet die Rechts-
wissenschaft mit den Zahlen rechnen, und mit den Proportionen,
welche bis zur Erfindung der Infinitesimalrechnung als Funktionen
galten?
Man sieht, wenn auch die Brücke nicht klar und über-
sichtlich zwischen dem exakten Begriffe der Funktion und dem
gemeinen Gebrauche der Bedingung gezogen ist, so besteht sie
doch; und auf Grund dieser Brücke vollzieht sich die Anwendung
des Begriffs der Bedingung im gemeinen Verstandesgebrauche;
vielmehr genauer in dem allgemeinen wissenschaftlichen Ge-
brauche. Es gäbe kein Denken im Sprachgebrauche der Geistes-
wissenschaften, wenn der strenge Begriff der Bedingung ihm
fremd und unzugänglich bleiben müsste. Und vorzugsweise ist
es das juristische Denken, welches auf den Begriff der Bedingung
angewiesen ist. Der Begriff der Handlung, der Grundbegriff des
gesamten Rechts, ist auf den Begriff der Bedingung aufgebaut
So wird die Bedingung zum eigentlichen Grundbegriffe
des Rechts.
172 Die Voraussetzung zweier Rechtssubjekte.
Wir können hier den Vorzug erkennen, den die Bezeichnung
des Urteils der Bedingung vor dem der Causalität hat. Causa-
lität ist vorzugsweise auf die Connexion von Ursache und Wirkung
bezogen; die Bedingung dagegen wird erstlich in der Funktion
das methodische Mittel der Causalität; dann aber auch umfasst
sie das ganze grosse Gebiet des Willens, das Gebiet der Geistes-
wissenschaften und der sittlichen Kultur, in welchem es nur meta-
phorischer Weise sich um diese Verknüpfung handelt, in welchem
der Begriff der Ursache noch in ganz anderer und eigenartiger
Weise fraglich wird und das eigentliche, das neue Problem bildet
Es ist nun aber eine besondere Schwierigkeit aus dem
Sprachgebrauche dieser fundamentalen Bedeutung der Bedingung
entstanden. Sie ist nicht auf das ganze Gefüge des Bedingungs-
satzes bezogen geblieben, sondern auf das vorderste Glied des-
selben beschränkt worden. Wie man die Connexion oder Causa-
lität in Ursache und Wirkung zu zerteilen pflegte, so hat man
auch das Bedingungsurteil in Bedingung und Folge gespalten.
Damit aber hat man die einigende Kraft der Bedingung gebrochen,
und ihren Wert als Urteil halbiert. Die Bedingung wurde so
zum Umstand, mit dessen Setzung das Urteil allenfalls anhebt;
sie erstreckte sich aber nicht auf den Erfolg, der das Ziel und
somit den eigentlichen Inhalt des Urteils bildet. Diese Irrung
des Sprachgebrauchs wird abgewendet durch die Bezeichnung
des Urteils der Bedingung.
Besonders in der Rechtswissenschaft hat diese Ver-
schrumpfung der Bedingung zum Umstand Unklarheiten und
Schwierigkeiten hervorgerufen. Handelt es sich doch in allem
Rechte durchgängig um Bedingungen. Bedingung ist die Seele,
ist das logische Band des Vertrages. Bedingung ist der logische
Ausdruck der Obligation. Da nun aber die Obligation in der
Handlung vollzogen wird, in welcher der Wille perfekt wird, so
beruht die Handlung, und somit der Wille im rechtlichen Sinne
auf der Bedingung. Wie jede Obligation, jede Rechtshandlung,
jeder Rechtswille zwei Rechtssubjekte voraussetzt, so setzt
er in diesen und ihren Handlungen die Bedingung voraus, welche
sie in und zu der Obligation verknüpft.
Man kann daher, um die Sachlage schroff auszudrücken,
wohl auch sagen, dass der Rechtswille, weil er auf die Be-
Das Problem des zukOnftigen Willens. 178
dingung angewiesen ist, als ein Doppelwille sich darstellt. Wenn
selbst das Rechtssubjekt noch nicht geboren ist, auf welches der
Rechtswille sich bezieht, so besteht es doch schon in dieser Be-
ziehung, in dieser Bedingung; und ohne dass es in diese Bedingung
eingefügt wäre, könnte der Rechtswille in der wollenden Person
nicht wirklich werden. Die Bedingung bedingt daher nicht
etwa nur Dinge, sondern ebenso genau die Person des
Rechtsgeschäftes; sie bedingt den Rechtswillen.
Nun hat man aber eine Schwierigkeit, weil eine Ausnahme
darin gefunden, dass einer Willenserklärung, wie man sich
auszudrücken pflegt, eine Bedingung hinzugefügt wird; als
ob eine Willenserklärung zu denken wäre, welche ohne die wie
immer verhüllte Verknüpfung mit einer Bedingung bestände.
Jener hinzugefügten Bedingung hat man sodann ein Dasein für
sich gegeben; dadurch aber hat man den Willen zerteilt und
fraglich gemacht. Es ist so das Problem des zukünftigen
Willens entstanden; als ob nicht aller Wille auf die Zukunft
gehen müsste; auch wenn er rückwirkend gemacht wird.
Indessen hat jene hinzugefügte Bedingung keineswegs ein
Dasein für sich; sondern sie bildet mit der Willenserklärung
ein ununterschiedenes Ganzes. Sie macht vielmehr erst diese
zu einem Ganzen, nämlich zu einer ganzen Bedingung, einer
ganzen Willens- und Rechtshandlung. Es gibt eine klare Be-
stätigung für diesen logischen Sachverhalt im Rechte. Die
Beweislast trifft Denjenigen, der sich auf diese Willenserklärung
beruft, weil, wer die Tatsache zugibt, aber ihre Bedingtheit
behauptet. Eine Tatsache zugibt, nämlich die des bedingten
Willens. Der bedingte Wille ist der Wille.
Es kommt nun darauf an, diese Einsicht dahin auszudehnen,
dass der bedingte Wille schlechthin als der Wille erkannt wird.
Es gibt keinen andern Willen als den bedingten
Willen. Die hinzugefügte Bedingung macht diesen Sachverhalt
nur deutlich; aber sie bildet keineswegs einen Ausnahmefall.
Aller Wille, alle Handlung ist bedingt; ist Bedingung. Die Be-
dingung ist die Seele, wie des Urteils der Erkenntniss, so des
Urteils des Willens.
Diese Bestimmung wird von durchschlagender Bedeutung
werden müssen für den Begriff des reinen Willens. Denn
174 Einheit, Einzelheit und Allheit.
es erhebt sich hier sogleich die Frage, wodurch denn der
reine Wille, wodurch die Handlung bedingt werden könne, so
dass sie ihre Reinheit nicht einbüsse, sondern vielmehr darin
begründe. Wir lassen diese Frage laut werden; aber wir gehen
hier ihrer Beantwortung noch nicht nach. Wir verfolgen vor^
erst noch eine andere Verknüpfung mit dm Denken; mit einem
Grundbegriffe des reinen Denkens, welche die Handlung und
der Wille einzugehen haben. Es ist dies die Verbindung mit
dem Begriffe der Einheit.
Schon in der Einleitung haben wir die Betrachtung darauf
gerichtet, dass die Handlung die Einheit der Handlung zu be-
deuten hat. Einheit ist das letzte Ziel, welches der Ethik ge-
steckt sein muss. Um Einheit der Person muss es sich im
letzten Grunde handeln ; also um Einheit des Willens und Ein-
heit der Handlung. Die Einheit der Handlung ist nicht
nur für die Nachahmung der Weltgeschichte auf den Brettern,
die die Welt bedeuten, eine aesthetische Grundforderung. Nun
aber kann man an dem dramatischen Beispiele die Relativität
dieses Begriffs der Einheit sich vergegenwärtigen. Fordert sie
einen Tag, oder ein Jahr, oder ein Jahrzehnt? Ist die Einheit
nicht vielmehr ein geistiges Band, welches unabhängig vom
Kalender sich zu schlingen vermag?
Eine wichtige Aenderung in der Tafel der Kategorieen
welche die Logik der reinen Erkenntniss versucht hat, war die
Streichung des Urteils der Einheit. Denn diese Einheit,
welche auch Kant festhielt und auszeichnete, ist vielmehr
Einzelheit. Und die Einzelheit gehört in das Urteil der
Mehrheit. Auch Mehrheit ist Einheit; aber als Mehrheit
gleichsam in ihrer Summe, nicht in einem Summanden.
Schärfer und deutlicher prägt sich die Einheit in der Allheit
aus; wenn wir ganz von dem Urteile der Realität hier absehen
wollen. Die Allheit macht die Einheit praegnant; denn sie ist
unabhängig von der Abzählbarkeit ihrer einzelnen Glieder.
Und wir haben schon in der Logik auf das juristische Beispiel
der U n i V e r s i hingewiesen, die von der Summe der Einzelnen
zu unterscheiden sind. Wir werden später auf dieses ungemein
wichtige Beispiel zurückkommen.
Die Einheit der Rechtshandlung. 175
Jetzt gilt es zu erkennen und durchzuführeuf
dass die Allheit die wahre Einheit bildet; dass es daher
ein starkes Vorurteil ist, die Einheit nur in der Einzelheit an-
erkennen zu wollen. Und man kommt so zu der allgemeinern
Einsicht: dass die Einheit eine Kategorie ist, welche nicht einem
Urteile entsprechen kann, weil sie die logische Art des reinen
Denkens überhaupt kennzeichnet. Es ist schon nicht ganz
genau, wenn man sie unseren drei Urteilen der Mathematik
substruiert; denn, wie wir es hier einsehen, sie gehört nicht
minder auch dem Urteile der Bedingung an, und erst in der
Bedingung kommt sie zu ihrer vollen Entfaltung, zu ihrer
wahrhaften Bedeutung und Kraft. Worin besteht der tiefste
Sinn der Bedingung? Wenn man so fragt, so geht die Frage
eben auf die Einheit, als den letzten und eigentlichen Sinn und
Inhalt der Bedingung. Und diesen Sinn der Bedingung legt der
Rechtswille und die Rechtshandlung dar.
Wie wir die Bedingung als den logischen Charakter des
Willens und der Handlung im Rechte bezeichnet haben, so
haben wir dies demgemäss auch mit der Einheit zu tun.
Einheit der Handlung ist Grundforderung des Rechts. Aber
man darf diese Einheit der Handlung nicht materiell auf den
einen Tag beschränken, wie nach dem römischen Testament
die Unterschriften und Siegel des Testators und der Zeugen an
einem und demselben Tage erfolgt sein müssen. Nicht dieser
eine Tag bildet das erschöpfende Beispiel für den Begrifi der
Einheit der Handlung; sondern diese fasst ebenso auch die
Errichtung des Testaments mit dem Antritt der Erbschaft durch
den rechtmässigen Erben in die Einheit der Willenshand-
lung zusammen.
Auf eine so weite Strecke sieht der Wille hinaus ; und es
besteht keineswegs die Gefahr, dass er sich dabei verlieren
könnte, sondern in diesem Hinaussehen und Hinausgehen über
den jeweiligen Moment vermag sich erst der Wille zu vollziehen,
die Handlung zu erfüllen. Die Einheit der Handlung voll-
zieht sich nicht in einem einzelnen Ansatz; sondern in
Reih und Glied erst bildet sie sich. Sie setzt eine Mehrheit
von Ansätzen, gleichsam von Handreichungen voraus. Es ist
nicht eine Hand, welche eine Handlung auszuüben vermöchte;
176 Der bedingte Wille
es müssen sich dazu vielmehr Hände, das will sagen, Begriffe
in Verbindung setzen. Und in dieser Verbindung erst, welche
innigste Verknüpfung sein muss, kann die Einheit entstehen,
die Einheit der Handlung, die Einheit des WoUens.
Nachdem wir so die Bedeutung der Bedingung und
der Einheit für den Rechtswillen und die Rechtshand-
lung betrachtet haben, können wir nunmehr auf die allgemeine
Bedeutung dieser Begriffe für den reinen Willen eingehen. Und
wenn wir dabei jetzt schon auf die obige Frage zurückgreifen,
wodurch der reine Wille bedingt sein könne, so kann uns diese
Frage nicht irremachen. Es kann uns nicht das Bedenken
schwer werden, als ob der Wille die Reinheit verlieren müsste,
wenn er als bedingt erkannt werden muss. Denn er wird ja
nicht durch etwas Anderes ausserhalb seiner selbst bedingt; er
wird vielmehr als Bedingung erkannt. Seine logische Struktur
wird durch die Bedingung beschrieben und gezeichnet
Wir brauchen also auch gar nicht hier die Frage zu
stellen nach dem Begriffe, welcher die Bedingung in der Neben-
bedeutung des Umstandes enthält. Dieser Begriff würde das
stets zu ergänzende Vorderglied des Bedingungssatzes bilden, in
dem jedes Willensurteil sich aufbaut. Es kann kein Zweifel
darüber aufkommen, dass in dieser Umstandsbedingung kein
fremdes, kein unreines Element in den Bedingungswillen hinein-
getragen werden darf. Um nicht mehr an dieser Stelle zu
anticipieren, mag es genügen, auf das juristische Beispiel hinzu-
weisen, dass kein Vertrag gegen die guten Sitten Verstössen
darf. Diese bilden das stillschweigend stets zu supplierende
Bedingungsmoment. Aber es ist hier noch garnicht nötig, auf
die Bedingung in dieser abgeschwächten Bedeutung Rücksicht
zu nehmen. Es kommt vielmehr vor Allem darauf an, das
Vorurteil zu beseitigen, als ob der absolute Wille der reine
wäre, und der bedingte, der relative ein unreiner Wille sein
müsste, und dass es ebenso auch sich bei der Handlung ver-
hielte. Das Umgekehrte ist der Fall.
Der Unterschied des reinen Willens von der Be-
gehrung lässt sich an der Bedingung genauer feststellen.
Die Begehrung ist, als ein Akt des Bewusstseins, nicht bedingt
durch einen andern Gegenstand als derjenige ist, auf den sie
Die Handlung als Bedingung. 177
unmittelbar losstürmt. Auf diesen ist sie fixiert und isoliert.
Der reine Wille ist eben durch die Reinheit bedingt. Er ist durch
sie abgezogen und abgelöst von jenem unmittelbaren Gegenstande,
an den der Trieb geheftet ist. Dieser Gegenstand ist der absolute
Gegenstand für den Trieb, der selber auch in ihm absolut wird.
Für den Willen gibt es keinen Gegenstand, der als solcher absolut
wäre. Jeder Gegenstand des reinen Willens muss aufgelöst
werden; muss in Handlung aufgelöst werden.
Was ist denn der letzte Sinn dieser Unterscheidung zwischen
dem Gegenstande und der Handlung für den Begriff des reinen
Willens? Hier wird der Unterschied in seiner methodischen
Bedeutung einleuchtend. Es soll keinen Inhalt des reinen
Willens geben, der als Gegenstand, als absoluter Gegen-
stand beglaubigt wäre. Ein absoluter Gegenstand mag immer-
hin für die Erkenntniss denkbar sein; sie hat es mit Gegen-
ständen zu tun. Für den reinen Willen gibt es keine Gegenstände
an sich, sondern nur Handlung. In der Ethik gibt es
keine Dinge und keine Gegenstände; die Handlung
allein bildet hier das Problem des Inhalts und des
Gegenstands.
Diese grundsätzliche Bedeutung der Handlung wird durch
die Bedingung klargestellt und sichergestellt. Der reine Wille
ist der bedingte Wille; nämlich der durch die Reinheit bedingte
Wille. Denn er ist Handlung, und er hat keinen andern Inhalt;
und er geht auf keinen andern Inhalt als auf die Handlung. Die
Handlung aber ist Bedingung. Wie heissen die Glieder, in
denen diese Bedingung sich errichtet?
Wir brauchen diese Glieder hier nicht zu benennen; wir
brauchen die Consequenzen nicht vorwegzunehmen, welche aus
dem Begriffe des reinen Willens herfliessen. Wir dürfen uns auf
die Definition beschränken, welche in den Momenten, in den
Merkmalen des reinen Willens zu vollziehen ist. Daher können
wir auf die Frage, wodurch der reine Wille bedingt sei, lediglich
antworten: durch die Reinheit. Und um dies zu verstehen,
genügt es an dieser Stelle, den Unterschied zwischen Handlung
und Gegenstand durchzudenken. Der reine Wille ist durch die
Handlung bedingt. Und die Handlung ist bedingt. Das wird in
der exemplarischen Handlung des Rechtsgeschäftes unzweifelhaft.
12
178 Der absolute Gegenstand.
Und auf Grund dieses Exempels vermag die Ethik es klar und
eindringlich festzustellen.
So wird es sich zeigen, dass es gerade umgekehrt heraus-
kommt, als die Gegner des reinen Willens es darzustellen pflegen.
Sie meinen, durch die dürre Spekulation der idealistischen Ethik
werde ein absolutes Gut aufgestellt, während die gereifte Ansicht
der Erfahrung vor einem solchen Hemmniss des geschichtlichen
moralischen Urteils warnen müsse. Es mag ein höchstes Gut
allenfalls geben. Dabei verträgt man sich mit der Religion,
mit der man vor Allem es nicht verderben dürfe. Die idealistische
Ethik dagegen, die in ihrem Idealismus souverän zu sein sich
dünkt, sie dürfe man um so ungefährdeter zurückschlagen; und
so wird es zur Parole, das Gespenst eines absoluten Gutes, des
absoluten reinen Willens nach Gebühr zu verspotten. Denn
welche Anmassung ist es, gegenüber dem reichen und so bunten
Wechsel der geschichtlichen Erfahrung mit seinen imposanten
Dramen und den mächtigen freien Schauspielern auf der Bühne
der Weltgeschichte von einem absoluten, also unwandelbaren
Inhalte eines reinen, absoluten, den Umständen und Mächten
der Welt gegenüber selbständigen Willens immerfort noch zu
fabeln.
Umgekehrt aber stellt es sich heraus. Der reine Wille ist
keineswegs der absolute Wille in jenem falschen Sinne des
Absoluten, welches das allgemeine und in sich selbständige Sein
bedeutet. Jenes Sein der absoluten Substanz, welches die Logik
bereits vernichtet hat, wird nun auch in der Ethik illusorisch
und eitel. Es handelt sich nicht um ein SQlches verödetes Sein;
es handelt sich um das Sein der Handlung; um das Sein,
welches erst in der Handlung zur Entstehung kommt.
Und die Handlung müsste im günstigsten Falle in Bewegung
verkehrt werden, wenn sie übrigens auch bei schlechter Auf-
fassung der Bewegung als ein absolutes Sein gedacht werden
könnte. Die Handlung ist Bedingung. Und in solcher Bedingung
allein besteht auch ihr Inhalt, ihr Gegenstand. Sie hat keinen
andern Inhalt, und keinen andern Gegenstand, als welcher in
ihr selbst besteht, und sich vollzieht. Es gibt für den Willen
keinen andern Gegenstand, und also keinen absoluten Gegenstand
als die Handlung selbst, welche Bedingung ist.
Das Problem des zukünftigen Willens. 178
dingung angewiesen ist, als ein Doppelwille sich darstellt. Wenn
selbst das Rechtssubjekt noch nicht geboren ist, auf welches der
Rechtswille sich bezieht, so besteht es doch schon in dieser Be-
ziehung, in dieser Bedingung; und ohne dass es in diese Bedingung
eingefugt wäre, könnte der Rechtswille in der wollenden Person
nicht wirklich werden. Die Bedingung bedingt daher nicht
etwa nur Dinge, sondern ebenso genau die Person des
Rechtsgeschäftes; sie bedingt den Rechtswillen.
Nun hat man aber eine Schwierigkeit, weil eine Ausnahme
darin gefunden, dass einer Willenserklärung, wie man sich
auszudrücken pflegt, eine Bedingung hinzugefügt wird; als
ob eine Willenserklärung zu denken wäre, welche ohne die wie
immer verhüllte Verknüpfung mit einer Bedingung bestände.
Jener hinzugefügten Bedingung hat man sodann ein Dasein für
sich gegeben; dadurch aber hat man den Willen zerteilt und
fraglich gemacht. Es ist so das Problem des zukünftigen
Willens entstanden; als ob nicht aller Wille auf die Zukunft
gehen müsste; auch wenn er rückwirkend gemacht wird.
Indessen hat jene hinzugefügte Bedingung keineswegs ein
Dasein für sich; sondern sie bildet mit der Willenserklärung
ein ununterschiedenes Ganzes. Sie macht vielmehr erst diese
zu einem Ganzen, nämlich zu einer ganzen Bedingung, einer
ganzen Willens- und Rechtshandlung. Es gibt eine klare Be-
stätigung für diesen logischen Sachverhalt im Rechte. Die
Beweislast trifft Denjenigen, der sich auf diese Willenserklärung
beruft, weil, wer die Tatsache zugibt, aber ihre Bedingtheit
behauptet. Eine Tatsache zugibt, nämlich die des bedingten
Willens. Der bedingte Wille ist der Wille.
Es kommt nun darauf an, diese Einsicht dahin auszudehnen,
dass der bedingte Wille schlechthin als der Wille erkannt wird.
Es gibt keinen andern Willen als den bedingten
Willen. Die hinzugefügte Bedingung macht diesen Sachverhalt
nur deutlich; aber sie bildet keineswegs einen Ausnahmefall.
Aller Wille, alle Handlung ist bedingt; ist Bedingung. Die Be-
dingung ist die Seele, wie des Urteils der Erkenntniss, so des
Urteils des Willens.
Diese Bestimmung wird von durchschlagender Bedeutung
werden müssen für den Begriff des reinen Willens. Denn
180 Das Subjekt und die Allheit.
griff des reinen Willens, wie er in der Einheit der Handlung
ciilminiert, zugleich in Bezug auf den Urheber der Handlung
einen neuen Begriff der Einheit ergibt.
Wir wissen von der Einleitung her, dass es der zw^eideutige
Begriff des Individuums ist, mit dem alles Bewusstsein von
Anfang an ringt, und in allen Fragen der Religion und Sittlichkeit,
wie in allen Problemen der Politik und der Weltgeschichte zu
ringen hat. Und wir hatten von vornherein auf die Rechts-
wissenschaft und auf die Staatslehre demgemäss den Blick ge-
richtet, dass sie besser als die Religion es vermocht haben, kraft
ihrer wissenschaftlichen Methodik, die Zweideutigkeiten in dem
Begriffe des Individuums zur Auflösung zu bringen. So sehen
wir es nun schon an dieser Stelle, an der der Begriff des Sub-
jektes noch gar nicht herausgetreten ist, wie schon der juris-
tische Begriff der Einheit der Handlung die Einheit des Indivi-
duums zur Unterscheidung bringt von der Einzelheit desselben.
Die Einheit der Handlung, also die Einheit des WoUens setzt
mehr voraus als bloss das scheinbare Individuum, welches will
und handelt. Dieses einzelne Individuum vermag nicht zu
wollen, noch zu handeln; es kann nur begehren und tun. Dieses
einzelne Individuum muss erst befreit und erlöst werden von
den Schranken seiner Einzelheit, um wollen und handeln zu
können. Denn Wollen und Handeln erfordert Einheit, wie Be-
dingung. Und Einheit ist nicht Einzelheit. Einheit ist auch
nicht Mehrheit; denn Mehrheit ist die Mehrheit der Einzelheiten.
Um Allheit handelt es sich, wie wir es in der Einleitung
bereits als das Problem aufgestellt und bezeichnet haben, bei
dem neuen Begriffe der Einheit, den die Ethik zu finden, den
der reine Wille zu ermitteln und zu ergeben hat. Diese Einheil
des reinen Willens hat die Handlung in ihrer Einheit zu voll-
ziehen. Und wir werden später zu sehen haben, wie sie sich
dabei in letzter Instanz der Allheit bedient. Aber es ist instruktiv
schon in der Einheit der Handlung und des Willens zu erkennen,
wie sie daraufhin gerichtet sind, die Einheit des Subjekts zum
Problem zu machen.
So weit haben wir in den vorstehenden Erwägungen gleich-
sam die Vergeistigung des Willens geführt; seinen notwendigen
Gesang und Sprache. 181
innerlichsten Zusammenhang mit dem reinen Denken dargelegt.
Jetzt gilt es, wieder auf die andere Seite zurückzulenken. Aber
wir werden sehen, dass wir dabei den Faden des Denkens nicht
fallen zu lassen nötig haben.
Zu den ersten Mitteln, welche der Bewegungstrieb ergreift,
gehört der Laut. Der Laut ist nicht nur ein Mittel, dessen der
Bewegungstrieb sich bedient, um sich ins Werk zu setzen;
sondern er ist der eminente Ausdruck, den der Bewegungstrieb
erfinden kann, um die Bewegung als aus dem innersten
Bewusstsein fliessend darzustellen. Zwar muss alle Art und
Form der Bewegung diesem innersten Quell entspringen; aber
dieser Quell wird durch die gewöhnliche Muskelbewegung nicht
blossgelegt, sondern vielmehr geradezu verdeckt und unkennt-
lich gemacht. Im Laute dagegen offenbart sich das Innere;
drängt es sich hervor, als ob es, seiner überdrüssig, sich ent-
äussern wollte. Der Laut ist der mächtigste und intensivste
Ausdruck des Innern; das Zeichen dafür, dass das Innere inner-
halb seiner Grenzen sich nicht einzuhalten vermag; dass es in
das Aeussere, in die Aeusserung übergeht. Diesen Innern Zu-
sammenhang des Innern und des Aeussern, den unser Begriff
der Bewegung überhaupt darlegt, macht der Laut besonders
deutlich. Der Laut ist daher nicht nur ein Aeusseres, sondern
ein Aeusseres des Innern; und in so eminenter Weise, dass er
als das Aeussere des Innern bezeichnet werden kann. Er voll-
zieht und bezeugt die notwendige Correlation des Innern und
des Aeussern.
Dies gilt von dem Laute überhaupt, von der Lautbewegung.
Sie ist die Voraussetzung, aber noch nicht der unmittelbare An-
fang der Sprache. Wir stimmen der Ansicht zu, dass der Ge-
sang der Sprache vorausgeht. Im Singen ertönt unmittelbar das
Innere, insofern es ohne allen besondern Inhalt sich zu entfalten
ringt. Was das Innere ohne besondern Inhalt sei, das scheint
ein Rätsel. Wir werden dieses Rätsel aber alsbald auflösen
können; jetzt werde es als solches ruhig festgehalten. Im Singen
drängt sich das Innere zur Bewegung und zur Aeusserung, ohne
dass ein distinkter Inhalt zum Ausdruck kommen soll. Für die
elementarste Form des Singens, die noch nicht über die Ab-
stufung der Töne verfügen mag, darf von einer Distinktion des
182 Wort und Satz.
Inhalts gänzlich abgesehen werden. Nur Bewegung soll im
Jauchzen und im Klagelaut hervorbrechen.
Anders liegt es bei der Sprache. In ihr wird der Laut zum
Worte. Der Unterschied zwischen Laut und Wort besteht
kurz darin, dass der Laut ein isoliertes Zeichen ist, das Wort
dagegen niemals als ein einzelnes gedacht werden darf. Es ist,
wenn es allein steht, doch immer nur die Abbreviatur eines
Satzes. Das ist der Grundbegriff des Wortes: dass es das Ele-
ment des Satzes ist. Als solches aber ist es ein Begriff. Denn
auch der Begriff ist die Abbreviatur des Urteils. So gehören
Wort und Begriff, Sprache und Denken zusammen.
Es ist ein Irrtum zu meinen, dass zuerst Worte da wären,
welche zu Sätzen sich verbänden. Ohne die Urteilsfügung des
Satzes gibt es nicht Worte, sondern nur Laute. Das Gefüge des
Satzes stabiliert den Laut kraft des Begriffs und als Begriff zum
Worte. Es ist wiederum reines Denken, welches hier operiert.
Zugleich aber ist es Bewegung, mit welcher sich dieses Denken
innerlichst verbindet. Diese Verbindung des Innern und
des Aeussern stellt die Sprache dar.
So unterscheidet sie sich in ihren Wortgebilden von den
Lautgebärden. Die letzteren vollziehen nur den Uebergang
des Innern zum Aeussern und stellen diesen Uebergang dar. Bei
der Sprache hingegen lässt sich nicht mehr von einem Ueber-
gang reden; da sind die beiden Glieder, an welchen der Ueber-
gang verläuft, gar nicht mehr zu unterscheiden; das Aeussere ist
ein Inneres, und nichtsdestoweniger ist das Innere zum Aeusseren
geworden. Das Wort ist Wort des Satzes, ist Begrifl; und denn-
noch ist das Begriffswort zugleich ein Laut. Man darf vielleicht
sagen: spräche die Seele nicht, so wüssten wir nicht, wie die
Seele sich darstellen könnte.
So erkennen wir denselben Zusammenhang zwischen der
Bewegung und dem Denken, der bisher im reinen Wollen zur
Darstellung kam, nun auch in der Sprache, und noch deutlicher
in ihr. Das hat natürliche Gründe; denn es besteht eine not-
wendige Verbindung zwischen dem Wollen und der Sprache.
Es ist nur eine Stufe der Abstraktion, als welche der
Wille und die Handlung ohne Berücksichtigung der
Sprache zulässig ist. Wir haben aber nunmehr zu betrachten.
Die Ausgestaltung des Begriffs und des Affekts. 183
wie diese Stufe übergeht in die andere der sprachlichen Willens-
handlung. Das praeciseste Mittel, durch welches der Wille in der
Handlung sich betätigt und sich bezeugt, das ist der sprachliche
Ausdruck.
Dieser Satz könnte Bedenken erregen; man könnte meinen,
dass der evidenteste Ausdruck des Willens doch vielmehr in der-
jenigen Richtung der Handlung liege, welche, als Tat, eine Ver-
änderung in der Aussenwelt herbeiführt. Eine solche Veränderung
in der Aussenwelt wird doch durch die Sprache an sich nicht
vollzogen; in ihr führt sich doch nur die Ausspinnung und Aus-
gestaltung des Innern fort. Wie kann es nun zu denken und zu
rechtfertigen sein, dass dennoch in der Sprache der evidenteste
Ausdruck der Willenshandlung liegen solle?
Der Einwand beruht auf einer Verwechselung der Handlung
mit der Tat. Die Tat bedarf der Tatsache, um in ihr kenntlich
zu werden; um sich als solche zu vollziehen. Die Handlung
dagegen ist von diesem äusseren Erfolge unabhängig. Die Folge,
welche sich aus dem Willen für die Aussenwelt ergibt, gehört
nicht mehr zum Willen. Es wäre aber falsch, darum den Willen
etwa auf die blosse Absicht und Gesinnung einzudämmen;
denn damit würde auch die Handlung vom Willen abgeschnitten.
Die Handlung gehört zum Willen; der Erfolg dagegen
in der Aussenwelt gehört nicht mehr zur Handlung,
darum also auch nicht zum Willen.
So ergibt es sich aus dem Begriffe der Handlung, dass
genauer als durch irgend eine tätsächliche Veränderung in der
Aussenwelt der Wille in der Sprache sich bezeugt. Die Sprache
ist nicht lediglich eine Tatbewegung in der Aussenwelt, sondern
vielmehr vorzugsweise eine Handlung, und zwar in doppelter
Richtung; nämlich eine Handlung vermittelst des Denkens an
und für sich, eine Erzeugung und Ausgestaltung des Begriffs;
dann aber auch eine Vollziehung und Ausgestaltung des
Affekts vermittelst des Begriffs zum Willen.
So lange der Affekt wortlos bleibt, verbleibt er im Chaos
und Ungestüm des Triebes und der Begierde. Man kennt es
schon aus der Erfahrung, welche Hilfe es im Zorne und im
Schmerze, den Formen des Affekts in der gewöhnlichen Bedeutung
desselben, gewährt, wenn es zum Ausdruck im Worte kommen
184 Die Rechtsformeln.
kann. Der Dichter preist es als seinen Vorzug, dass Gott es ihm
gegeben habe, zu sagen, was er leide. Der Wille erhebt sich
durch den sprachlichen Ausdruck vorzugsweise über den Trieb
und die Begierde. Es ist kein Wille, der sich nicht in der
Handlung der Sprache zur Klarheit gebracht hätte. Es ist nur
ein Schein, dass man auch ohne das Wort wollen könnte; dass
es ein Wollen gäbe, welches nicht in der Sprache des Satzes und
des Urteils sich entfaltet hätte.
Es beruht dies nur auf einer Verwechselung von stillem
und lautem Sprechen. Der Sprachlaut braucht nicht in der
äusseren Luftbewegung zur Darstellung gekommen zu sein; darum
hat die Sprache doch stattgefunden. Neuere Forschungen haben
es an Erscheinungsweisen der Aphasie klargestellt, wie Aiel-
seitig die Mittel sind, deren sich die Sprache bedienen kann, um
in Handlung überzugehen. Der Wille kann niedergeschrieben
werden; ist er dann w^eniger ausgesprochen? Aber auch wenn
es nicht zur Fixierung in der Schrift kommt, wenn der Gedanke
nur in den Sprachbildern des Begriffs sich auseinanderlegt, so
bewährt sich auch darin die Correlation, die unausweichliche,
zwischen Sprache und Denken, zwischen Wort und Be^jriff. So
dürfen wir es ohne Einschränkung aussprechen, dass es ohne
Sprache kein Wollen gibt. Die Sprache kann dabei abgekürzt
erscheinen; aber in der Verkürzung selbst muss sie noch in der
Praegnanz der Sprache wirken, wenn der Wille nicht zum Rudi-
ment des Triebes entarten soll; wenn er in der allein legitimen
Handlung sich zu bezeugen vermag.
Dieser Zusammenhang von Willen und Sprache wird durch
das Recht zu lehrreicher Deutlichkeit gebracht. Unter allen
Formen, auf welche das Recht dringt, ohne deren Wahrung und
genaue Darstellung die Rechtsgeschäfte als solche nicht vollzieh-
bar werden, steht das Wort obenan. Der Rechtswille muss
daher in bestimmten, vorgeschriebenen Worten ausge-
sprochen werden. Es ist, als ob durch die Formeln, an w^elche
das Rechtsgeschäft gebunden wird, die Willenshandlung, in der
die Rechtshandlung beruht, an die Aussprache gebunden werden
soll. Jede Art von Reservatio mentalis soll von vornherein
ausgeschlossen werc^en. Es kommt nicht darauf an, w^as du dir
gedacht hast; das Denken allein macht deinen Willen nicht
Die Sprachhandlang. 185
aus. Wenn du willst, musst du deinen Willen aussprechen.
Die Sprache erst, und sie allein vollführt deinen Willen. Darum
können Obligationen nur durch Worte begründet werden.
Und die Stipulation ist ein Verbal-Contrakt.
Aber, wie gesagt, es wird im Rechte nicht allein die Aus-
sprache im Worte gefordert, sondern es wird auch die Aussprache
im genau vorgeschriebenen Worte gefordert, damit der begriff-
lich notwendige Zusammenhang zwischen dem Willen und der
Sprache über jeden Zweifel sichergestellt werde. Wenn der
Wille in der Handlung sich vollendet, so erkennen wir
nunmehr, dass diese Vollendung in der Sprachhandlung
sich vollführt.
Wir waren darauf hier ausgegangen, die andere, die
emotionelle Seite des Willens in der Sprache in Betracht zu
ziehen ; siehe da aber, wir haben nur um so schärfer die weitere
Vergeistigung daran erkennen müssen, zu der der Wille in
der Sprachhandlung sich entwickelt. Und die Reintieit bewährt
sich da wieder von Neuem. Nicht von dem Erfolge in der Tat
hängt der Wille ab. Der liegt jenseit seines Bereiches und
seiner Competenz. Was dagegen durchaus zu ihm gehört, was
keineswegs eine Veräusserlichung seines inneren Wesens ist,
das ist seine Darstellung in der Sprachhandlung. Ohne diese
Objektivierung gibt es keinen Willen. Wenn anders der Wille
einesteils auf dem Denken beruht, so beruht er demgemäss in
der Sprache. Die Sprache stellt die Gedanken in den Begriffen,
daher in den Worten des Satzes auf; und ohne diese Auf-
stellung bliebe der Wille im Halbschlummer des Triebes. Die
Wachsamkeit, die Sonne, der Sittentag des Willens gehen in der
Sprache allein auf.
Und doch kommt dieser Zusammenhang zwischen Willen
und Sprache nicht allein demjenigen Anteil des Willens zu
statten, der im Denken liegt. Er wird vielmehr ebenso sehr
auch für den Untergrund des Affektes wichtig und wirksam.
Wir müssen uns, wenn wir diese andere Seite in Betracht ziehen
wollen, wieder auf die Erwägungen zurückbegeben, welche für
das Gefühl von Lust und Unlust anzustellen waren. Wir
wissen, dass wir dieses Doppelspiel nicht als einen eigenen
isolierten Inhalt annehmen dürfen; dass dieses Mischgefühl viel-
186 Der Gefühlsannez und das Gefühlssuffix.
mehr einen notwendigen Annex zu den verschiedenen Stufen
des inhaltigen Bewusstseins bildet. So gibt es Bewegungs-
gefühle und Vorstellungsgefühle; also auch Begehrungs-
gefühle und Denkgefühle. Wenn nun aber der Wille eine
besondere und praegnante Art des inhaltigen Bewusstseins bildet,
so werden auch Willensgefühle anzuerkennen und zu fordern
sein.
Woher sollen diese nun aber kommen? Man darf
diese Frage nicht so nehmen, als ob sie auf die einzelnen Seiten
und Elemente des Willens gerichtet würde. Die Frage geht
nicht etwa dahin, ob die Willensgefühle aus der Bewegung und
dem Affekte, oder aber aus dem Denken herfliessen ; denn diese
Elemente haben ihre eigenen Gefühlsanhänge, sie können an
sich nicht die Willensgefühle ergeben. Diese müssen vielmehr
selbständig für sich bestehen, eigene Resultanten bilden, welche
freilich jene elementaren Gefühlsstufen zur Voraussetzung haben.
Die Frage geht auf diese eigene Art der Gefühlsstufe, welche für
den Willen zu fordern ist.
Wir müssen hier Bedacht nehmen auf eine Unterscheidung,
die bei jener ersten Diskussion über Lust und Unlust schon
zum Vorschein kam. Wir hatten damals den Annex unter-
schieden vom Suffix. Lust und Unlust, oder vielmehr was
dafür einzusetzen wäre — wir hatten den Begriff selbst nicht
eingesetzt, sondern nur angegeben, dass eine andere Bezeichnung
gesucht werden müsse, was aber Sache der Psychologie bleibt
— sind nicht nur Anhang, geschweige Anhängsel, sondern sie
bilden ebenso sehr einen notwendigen Untergrund, der nicht
ausgeschaltet werden, der nicht versiegen darf. Wenn irgend ein
neuer Vorgang, und in ihm ein neuer Inhalt auf irgend einer
Stufe und Art des Bewusstseins zur Entstehung kommen soll,
so muss dieser Untergrund in stets neuen Fluss kommen.
Eine Empfindung bildet sich nicht etwa neu aus einer
voraufgehenden Empfindung, sondern zunächst aus dem Em-
pfindungsgefühl, in welches die voraufgegangene Empfindung
eingemündet war und einmünden musste. So ist demgemäss
die jeweilige Geiühlsstufe nicht in jedem Sinne ein Annex
nur, sondern zugleich als Suffix der Ausgang und der Quell
eines neuen Inhalts. Der Ausdruck des Suffixes bezieht sich
Das Willensgefühl. 187
sonach vorgreifend auf diesen neuen Inhalt, dessen Untergrund
er bildet.
Nun haben wir aber ferner zu bedenken, dass alle Arten
und Stufen des inhaltigen Bewusstseins mit diesen Gefühlsannexen,
die zugleich Gefühlssuffixe sind, nicht nur eine jede für sich
behaftet bleiben; sondern dass alle diese verschiedenen Gefühls-
suffixe in Gegenwirkung und Mitwirkung miteinander treten.
Auf dieser complizierten Mitwirkung der verschieden-
artigen Gefühlssuffixe beruht die Eigenart, in der
wir das Willensgefühl zu suchen und zu erkennen
haben.
Wir waren von der Tendenz ausgegangen, und hatten in
dem Fortschritt von Tendenz zu Tendenz aus dem Gesichtspunkte
des Denkens die Aufgabe, aus dem Gesichtspunkte der Begehrung
aber den Affekt definiert. Wir hatten alsdann in der Ver-
bindung von Affekt und Aufgabe den reinen Willen bis zur
Handlung hinaufgeführt. In der Handlung konnten wir das
Denken in Vollzug setzen, und zwar in seinen abstraktesten
Arbeiten, zugleich aber gemäss dem Zusammenhange zwischen
der Vernunft und der Sprache in der Sprachhandlung den
reinen Willen zur Vollendung bringen.
Schliesslich ging die Frage aber dazu über, was dabei zu-
gleich für den Affekt herauskomme. Um diese Frage zu beant-
worten, waren wir in die Betrachtung des Gefühls wieder ein-
getreten; und statt, wie früher, nur auf den Anhang, den das
Gefühl bildet, zu achten, waren wir jetzt besonders aufmerksam
geworden auf den Untergrund, den es bildet; den es zumal in
der Zusammen Wirkung der verschiedenen Gefühlsstufen bildet.
In dieser Zusammenwirkung liegt der vulkanische Charakter
dieses Untergrundes. Unbestimmbar vielseitig und schier unbe-
zwinglich erscheinen die Einflüsse, die Ausbrüche, die aus dieser
Mischung der Gefühle herrühren.
In dieser Ausdehnung muss der Begriff des Affekts
gedacht werden. Seine Bestimmung ist nicht einzuschränken
auf eine Art und eine Richtung der Bewegung und des Bewegungs-
gefühls, als Suffix gedacht; sondern auf alle Arten und Stufen
des Gefühls muss er bezogen werden; auf alle Arten der Vor-
stellungs- und Denkgefühle, wie auf alle Arten der Bewegungs-
188 Das Willens-Sprachgcfühl .
und der Begehningsgefuhle. In diesem Conflux und Con-
volut besteht der Affekt.
Und mit diesem Gewirr des Affekts hat die andere Seite des
Willens sich auseinanderzusetzen; mit dieser machtvollen Masse
hat der Gedanke zu ringen und zu kämpfen, wenn der Wille
entstehen soll. Der Affekt muss nicht etwa abgestumpft, unter-
bunden und geschwächt w^erden, wenn ein kraftvoller Wille sich
entbinden soll; sondern der Affekt soll anschwellen, soll lebendig
und viel verzweigt bleiben; ebenso wie der Gedanke nicht ver-
blassen, noch einseitig fixiert werden soll. Beide Quellen des
Willens müssen ihren ganzen Strom ergiessen, wenn der reine
Wille zu seiner vollen Kraft gedeihen soll.
Wir hatten nach der Eigenart des Willensgefühls
gefragt. Wir sehen jetzt, worin sie beruht. Die volle Energie
des Affektes einerseits, und die volle Energie des Denkens andrer-
seits ist es, welche die Vorbedingungen des Willensgefühls
sind. Wir können dasselbe nicht anders bestimmen und be-
schreiben als durch die Verbindung dieser beiden Vorbedingungen.
Nicht eine Art des Gefühls allein, welche einer Art des Anteils,
auf dem der Wille beruht, entspräche, ergibt etwa auch nur vor-
zugsweise das Willensgefühl; sondern beide zusammen erst
machen es aus.
Aber auch hier, und hier vorzugsweise lässt sich die Be-
deutung erkennen und beleuchten, welche das Gefühl als
Suffix im Unterschiede vom Annex hat. Das Willensgefühl
ist vorzugsweise Gefühlssuffix. Als Gefühlsannex stellt es sich in
der Ermüdung und Erschöpfung dar, welche bei aller Bewegung
sich einstellt. Als Gefühlssuffix hingegen wirkt es in der schöpfe-
rischen Energie der Willenshandlung. Und da ist es wiederum
vorzugsweise die Sprache und das Sprachgefühl, welches in
dieser Bedeutung des Suffixes im Willensgefühle sich betätigt.
Zunächst bringt die Sprache freilich Mässigung und Ruhe in das
Gewirr der Gefühle; das vulkanische Ungestüm wird gebändigt und
beherrscht. Zugleich aber auch wirkt das Sprachgefühl, welches
<ler Willenshandlung zu Grunde liegt, lösend und erlösend, indem
es dem Abflüsse des Affekts ein Bett bereitet und es eindämmt.
In diesem Sprachgefühl prägt sich vorzugsweise das
Willensgefühl aus. Indem der Wille, um Wille zu werden.
Der Affekt als Willensgefühl. 189
in Worte nicht sowohl sich kleidet, als vielmehr in dieselben
hineinwächst, so erwächst er aus den Wortgefühlen, mit denen
die BegrifTsworte der Sprache vei'wachsen bleiben.
Es gäbe keine Poesie, und keine Poesie, welche an Ge-
danken erblüht, wenngleich nicht in Gedanken, wenn diese Ver-
wachsung nicht bestände und nicht unaufhörlich in dem ge-
bildeten Bewusstsein sich erneute. Es ist ebenso das sittlich,
wie das aesthetisch gebildete Bew^usstsein, welches in diesen
Pflanzungen sich ergeht. Und es ist keineswegs der Abweg in
das aesthetische Gebiet, der durch diese ausgedehnte Bestimmung
des Affekts und des Willensgefühls beschritten würde. Es müsste
vielmehr die Grundlage, welche der Affekt für das reine Wollen
bildet, verschrumpfen und verdorren, wenn das Willensgefühl
in dieser Complikation versagt wäre.
Was unterscheidet nun das Willensgefühl von dem
Affekte? Der Affekt besteht uns jetzt nicht mehr bloss in dem
Fortschritt von Tendenz zu Tendenz; sondern er schliesst die
Gefühlsstufen in sich, und zwar alle Arten der Gefühlsstufen;
und er schliesst sie in sich nicht nur als Gefühlsannexe, sondern
als Gefühlssuffixe, so dass aus ihm an seinem Teile die Willens-
handlung hervorgehen mag. Aber die Willenshandlung hat
andererseits das Denken und den Begriff zur Voraussetzung.
Dieser Unterschied darf nicht aufgehoben werden, wie
Spinoza es gethan hat, indem er den Willen zum Affekt machte,
nachdem er zuvor ihn in den Intellekt aufgehoben hatte.
Wohl aber darf der Unterschied zwischen Affekt
und Willensgefühl aufgehoben werden, und zwar gerade
als Suffix; während er in Bezug auf den Gefühlsanhang, auf das
resultierende Gefühl erhalten bleiben kann. Die Quelle dagegen,
welche das Willensgefühl für die Willenshandlung bilden muss,
wie überall der neue Inhalt aus der vorausgehenden Gefühls-
stufe sich bilden muss,' sie ist in der positiven Bedeutung des
Affektes anzuerkennen. Das ist der richtige Kern an jener über-
spannten Formulierung, dass der Affekt in der Tat die Grund-
lage der Willenshandlung bildet; nicht die ganze, aber
einen Teil, einen wichtigen Bestandteil.
Es ist wichtig, diesen Beitrag des Affekts noch genauer
gegen Missverständnisse, wie sie hier besonders naheliegen, zu
190 Der Motor und das Motiv.
9
verwahren und zu schützen. Der Affekt in dieser Ausdeh-
nung, als positives Willensgefühl, könnte als ein Faktor
der Willenshandlung gedacht werden. Das ist er nicht.
Er treibt die Mühle, wie der Wind sie treibt; aber er enthält
das Korn nicht, das zu mahlen ist. Diesen Inhalt bildet aus-
schliesslich das Denken im Begriffe und in diesem begrifflichen
Elemente der Handlung. Die Aufgabe bleibt das Motiv; der
Affekt und das Willensgefühl, zu dem der Affekt ge-
steigert wird, ist nur der Motor. Der Motor darf nicht
fehlen und nicht erlahmen; er hat jedoch das Motiv nicht zu
ersetzen. Das Motiv liegt rein und ausschliesslich in dem ge-
danklichen Inhalt der Aufgabe, den die Handlung bildet; die
Handlung, welche von dem Affekt, von dem Willensgefühl ge-
trieben, belebt, beseelt und bisweilen beseligt werden muss. Die
Aufgabe bildet den geistigen Inhalt; den seelischen
Schwung gibt der Affekt.
Es liegt somit auch ein richtiger Gedanke in der Wendung,
welche die Xenie Schillers gegen Kant aussprach, obwohl nur
zum Scheine die Gegnerschaft angenommen war. Nicht nur
darf nicht Unlust allein, nicht Abneigung die Willenshandlung
leiten, so wenig als Lust allein sie motivieren darf, sondern auch,
wenn man einmal das Willensgefühl ungenau als Mischung von
Lust und Unlust denkt, so darf diese Mischung nicht gänzlich ab-
gewehrt und ausgelöscht werden. Der Aufschwung des Willens
darf des Schwungs nicht verlustig gehen, den der Affekt und er
allein zu erteilen vermag.
So bildet das Willensgefühl einen unverächtlichen
Bestandteil und Untergrund der Willenshandlung. Nicht
Abtötung, nicht Erschlaffung der Willensgefühle ist zu fordern,
noch zuzulassen und zuzugestehen, um etwa sicherer den reinen
Willen zu stände zu bringen, sondern je höher die Aufgabe des
reinen Willens gespannt wird, desto mächtiger muss die Energie
des Willensgefühls ihr entsprechend gefordert werden. Der
reine Wille hat ebensosehr das Willensgefühl, wie das strenge
Denken der Aufgabe zur Voraussetzung. Die Handlung voll-
zieht ihre Einheit in der Durchdringung der beiden Be-
dingungen: des Motivs und des Motors.
Viertes Kapitel.
Das Selbstbewusstsein des reinen Willens,
Wenn wir den Unterschied des reinen Willens von der
Begehrung an einem Begriffe bezeichnen sollten, so wäre dies
der Begriff des Gegenstands. In der Begehrung scheint der In-
halt, auf den sie sich richtet, ein Gegenstand zu sein. Im reinen
Willen geht der Gegenstand über in die Handlung. Diese Handlung
wird das Objekt des Willens.
Aus diesem Unterschiede zwischen dem reinen Willen und
der Begehrung, der sich an dem Begriffe des Objekts vollzieht^
ergibt sich der scharfe und deutliche Unterschied zwischen
dem Willen und dem Denken. Das Denken geht immer auf
den Gegenstand. Der Begriff, der sein reines Erzeugniss bildet,
ist nichts Anderes als, um es einmal ungenau, aber anschaulich
auszudrücken, das Symbol des Gegenstandes. Der Begriff hat
keinen eigenen Wert; der liegt lediglich in dem Objekt, das er
darstellt, das er vertritt. Der Wille dagegen geht gar nicht auf
ein Objekt. Der Begriff, dessen er sich bedienen muss, sofern
er einesteils am Denken sich vollzieht, geht daher auch nur ver-
mittel ungsweise auf ein Objekt; denn freilich kann der BegrifT
zu nichts Anderem benutzt werden, als zur Darstellung dieses
Gegenstands. Aber diese Benutzung und diese Darstellung ist
hier nur ein Mittel zur Vorspiegelung des eigentlichen und
einzigen Inhalts, auf den der Wille sich richtet: das ist einzig
und allein die Handlung.
Daher sind es vorzugsweise die Begriffe der Einheit und
der Bedingung, mit denen das Denken im Wollen operiert.
192 Der Unterschied zwischen Willen und Denken.
weil in diesen vorzugsweise die Handlung sich entfaltet und sich
zusammenzieht. Auch auf diese Zusammenziehung kommt es
an; sie gibt der Handlung den Halt, der die Ruhe in dieser Be-
wegung bildet, und den Gehalt in dieser Aufgabe. Sie gibt die
Festigkeit und den Bestand, der doch kein Stillstand ist. So
fehlen keineswegs die Merkmale, welche den Wert des Objekts
bedingen; und dennoch statten sie nur die Handlung damit aus,
ohne diese in ein Objekt untergehen zu lassen. Es wäre ein
Untergang für die Handlung, wenn sie in einem Objekt aufginge.
Der Unterschied, der sich am Begriffe des Objekts für den
reinen Willen feststellen lässt, erstreckt sich somit nach allen
entscheidenden Richtungen; nach der Begehrung und nach dem
Denken. Dennoch kann man noch immer von der Frage irritiert
werden, warum denn durchaus der Begriff des Objekts
ausgeschlossen werden müsse. Man versteht ja wohl die
Pointe, die damit gegen den angeblichen, anscheinenden Gegen-
stand der Begehrung ausgespielt werden soll ; aber der Gegensatz,
der damit gegen das Denken aufgerichtet wird, könnte immerhin
als Ueberspannung einer historischen Tendenz erscheinen.
Denn was kapn es schaden, wenn man die Handlung, die doch
im Begriffe Halt gewinnen muss, als Objekt bezeichnet? Es
könnte scheinen, dass der Tendenz Genüge geschehe, wenn der
Inhalt des Willens als Handlung, diese Handlung aber als
Objekt anerkannt würde.
Indessen erfordert der Unterschied zwischen dem
WMllen und dem Denken noch eine andere Rücksicht, durch
welche die Abwehr eines Objekts dringlicher geboten wird.
Erinnern wir uns der Unterscheidung zwischen dem Innern
und dem Aeussern, auf die wir recurrieren mussten. Das
Innere sollte durchaus Inneres bleiben; auch in der Aeusserung
als Tendenz, und in deren Fixierung und Gestaltung als Aufgabe.
Die Ungenauigkeit dieses Ausdrucks des Innern konnte uns nicht
verhohlen bleiben ; dennoch war er nicht zu entbehren, nicht zu
umgehen. Es könnte scheinen, dass dieser Anstoss noch ge-
steigert würde dadurch, dass der Affekt als ein eigenartiges
Moment des W^illens geltend gemacht wird. Ist es doch die
blosse Innerlichkeit, welche durch ihn mit allem Nachdruck
vertreten und geltend gemacht wird.
Das Selbstbewusstsein und die systematische Philosophie. 198
Dieser Ausdruck des Innern erfordert genauere Bestimmung.
Wir ^'aren auch sonst schon auf den Träger und Urheber des
Willens gestossen. Kurz, es muss sich in dem reinen Willen
vor Allem doch um das Subjekt des Willens handeln. In dem
Begriffe des Subjekts aber wird von Neuem die Unterscheidung
zwischen Wollen und Denken notwendig werden; und aus
dem Gesichtspunkte des Subjekts wird auch die Unter-
scheidung des Objekts noch deutlicher werden.
Es kann doch keinem Zweifel unterliegen, dass es im reinen
Wollen letztlich sich um gar nichts Anderes handeln könne als
um das Subjekt dieses Wollens. Wir hatten statt des Innern
auch den Ausdruck des Bewusstseins bisweilen nicht vermeiden
können. Im letzten Grunde muss es sich doch um die Reinheit
des Bewusstseins im reinen Willen handeln. Das Bewusstsein
muss es sein, das in der Handlung sich entfaltet; als welches die
Handlung sich vollzieht. Was ist denn nun aber der Inhalt
dieses Bewusstseins, welches nicht von Inhalten angefüllt ist;
welches lediglich in Handlung sich vollzieht und besteht? Der
Inhalt des Bewusstseins, welches in dem Willen und in der
Handlung sich verwirklicht, ist deshalb nicht als Objekt zu be-
zeichnen, weil er vielmehr das Subjekt bildet. Und wenngleich
auch das Subjekt der Objektivierung als Inhalt des Bewusstseins
bedarf, so bildet es doch dasjenige Problem, welches im Unter-
schiede von dem Bewusstsein des Objekts bezeichnet wird als
das des Selbstbewusstseins.
Im Selbstbewusstsein ist der Unterschied zwischen dem
Denken, als dem Denken der Erkenntniss, und dem reinen
Willen zu begründen. Und auf diesem Unterschiede beruht
die Tendenz der Unterscheidung Beider am Objekt.
Hier liegen nun aber die eigentlichen Schwierigkeiten im
Begriffe der systematischen Philosophie; die historischen
Schwierigkeiten im Begriffe des Idealismus. Als Descartes den
Idealismus erneuerte, ging er von dem Cogito aus. Es war nicht
das Cogitare, welches er tatsachlich doch als die Methode des
reinen Denkens suchte und bestimmte; sondern es war das Selbst-
bewusstsein, das er in der ersten Person auf die Fahne schrieb.
Er brauchte es für die Seele, welche er neben der Materie, neben
der Ausdehnung als Substanz aufstellte. Kant hat den ver-
18
194 Die Einheit des Bewusstseins bei Kant.
schiedenen Sinn in diesem Ausdrucke der Substanz blossgestellt;
er hat das Selbstbewusstsein dieses Denkens auf die erste Person
demaskiert, welche das Praesens dieses Denkens regiert So wird
dieses Selbstbewusstsein zu der ersten Person Singularis in dem
Tempus eines Zeitwortes. Das ist sein Sinn, sein Wert und seine
vielberufene Autorität.
Dennoch aber hat selbst Kant den Begriff des Selbstbewusst-
seins nicht hinlänglich aus der Schussweite des Spiritualismus^
und der Mystik zu bringen vermocht. Er hat das Selbstbewusst-
sein zurückgedrängt hinter die Einheit des Bewusstseins. Die
Einheit des Bewusstseins wurde bei ihm das Centrum der Er-
kenntniss. Was Descartes mit dem Selbstbewusstsein zu gewinnen
suchte, nämlich die Selbständigkeit der reinen Erkenntniss, das
brachte Kant durch die Einheit des Bewusstseins in Sicherheit;
während er das Zweideutige und Schlüpfrige im SeelenbegrifTe
des Selbstbewusstseins abschnitt und ausschloss. Dennoch aber
hat auch er den Ausdruck des Selbstbewusstseins nicht ganz ver-
mieden; geschweige dass er nachdrücklich den Unterschied .
zwischen der Einheit des Bewusstseins und dem Selbstbewusstsein
hervorgehoben hätte.
Der Mangel in Kants Terminologie an diesem centralen
Punkte ist jedoch damit noch nicht ausreichend gekennzeichnet.
Schon in der Logik mussten wir darauf aufmerksam werden,
dass Kant den Begriff der Einheit des Bewusstseins zu enge ge-
fasst hat, indem er ihn auf die Erkenntniss in erster und
praegnanter Bedeutung einschränkt, nämlich auf diejenige Er-
kenntniss, welche kraft der synthetischen Grundsätze sich
vollzieht, also auf die Erkenntniss der mathematischen Natur-
wissenschaft. Schon auf diejenige Erweiterung der Erkenntniss,
welche auf den regulativen Gebrauch der Ideen für die be-
schreibende Naturwissenschaft der Organismen sich stützt,
erstreckt sich die Bedeutung der Einheit des Bewusstseins nicht.
Die Einheit des Bewusstseins ist ausschliesslich der zusammen-
fassende Ausdruck der synthetischen Grundsätze; nicht aber der
regulativen Ideen.
Wenn es nun schon ein offenbarer Mangel ist, dass eine Art
des wissenschaftlichen Erfahrungsgebrauchs, also der wissen-
schaftlichen Erkenntniss von dem Prinzip der Einheit des Be-
Einheit und Selbst. Id5
wusstseins entblösst wird, so wird derselbe zu einem anstössigen
Fehler in Bezug auf die ethische Erkenntniss. Wie kann der
Wille als eine Art der Vernunft anerkannt werden, wenn er
nicht in der Einheit des Bewusstseins gegründet wird?
Man muss hier jedoch die Frage noch ganz anders wenden.
Für alle Erkenntniss mag die Einheit des Bewusstseins der
richtige Terminus sein; für die Ethik dagegen scheint sie nicht
zu genügen, scheint vielmehr der verstossene Ausdruck des
Selbstbewusstseins wieder in Ehren kommen zu müssen. Die
Einheit des Bewusstseins ist Einheit in der Einheit des Begriffs.
Und die Einheit des Begriffs ist Einheit wegen der Einheit des
Objekts, die in ihr vollzogen wird. In der Ethik dagegen handelt
es sich im letzten Grunde um die Einheit des Subjekts.
Ihretwegen richtet sich die Polemik auf das Objekt, damit der
Wille an diesem sich nicht verliere.
Diese Einheit des Subjekts heisst besser nicht Einheit;
denn man weiss es ja, und man darf es nimmermehr aus dem
Auge lassen, dass diese Einheit, wie alle Einheit, nur im Begriffe,
und also nur im Objekte zur Bestimmung gebracht werden
könnte. Da es sich nun aber hier nicht um das Objekt drehen
soll, so muss man auch die Einheit für diese Richtung des
Bewusstseins im centralen Ausdruck des Prinzips vermeiden.
Für den reinen Willen gilt es, das Selbstbewusstsein als das
Centrum des Problems, in dem alle Hebel spielen, zu erkennen
und zu formulieren.
Wenn wir so das Selbstbewusstsein an die Stelle der
Einheit des Bewusstseins hier einsetzen, so könnte es
scheinen, als ob wir nicht zwar der Psychologie nachgingen,
die freilich den Pulsschlag des Selbst für den Willen in erster
Linie fordert, aber als ob wir dabei vornehmlich an den Affekt
dächten, und auf ihn Bezug nähmen, insofern wir ihn zu einem
gleichberechtigten Faktor, wenn auch nur als Motor des Willens
gemacht haben. Der Affekt bildet demgemäss ja den In>
begriff aller Gefühlsstufen; was liegt da näher, als in
diesem Inbegriff, oder wenigstens seinetwegen das Centrum des
Selbstbewusstseins zu fixieren?
Es wäre ein schwerer Irrtum, wenn man nur diesen Grund
für die Wiederaufnahme des Selbstbewusstseins annehmen und
18«
196 Affekt nicht Grund des Selbst.
anerkennen wollte. Es läge erstlich darin der schon recht be-
denkliche Irrtum, dass der Begriff des Persönlichen, der das
Selbstbewusstsein auszeichnet, der es von der Einheit des Be-
wusstseins unterscheidet, nur durch den Affekt definierbar
würde, nicht aber durch das Denken im Wollen. Das wäre
gewiss schon ein schwerer Mangel für den Begriff der Erkennt-
niss, und kein geringerer für den Begriff des Selbst im Wollen.
Bedenken wir zuerst den Fehler für die Erkenntniss. Es genügt,
an die Sophisten zu erinnern, wie sie das Problem der Iden-
tität verdrehten, indem sie an dem Unterschiede der Personen,
welche denken, die Identität des Gedankens vereiteln zu können
meinten. Auch für das Denken also besteht das Selbstbewusst-
sein, w^elches keineswegs darüber hinfallig wird, dass es noch
andere Leute gibt; denn auch diesen steht das Selbstbewusst-
sein und zwar im Denken zu.
Schwerer wird dieser Irrtum, dieses Aergerniss, welches
man an dem Selbstbewusstsein nehmen könnte, für den Willen.
Wir haben es schon wiederholentlich ausgesprochen, dass es
sich in allerletzter Instanz für den reinen Willen schlechterdings
nur um das Subjekt desselben handelt. Würde man nun meinen,
die Position des Selbstbewusstseins müsste deshalb eingenommen
werden, weil man ohnedies der Grundlage des Affekts sich be-
geben würde, so würde man die Einseitigkeit des theore-
tischen Idealismus nur nochmals begehen. Dieser hatte eine
begründete Scheu vor dem persönlichen Beigeschmack des
Selbstbewusstseins, an welchem das Gespenst der dogmatischen
Seele hing. Hier aber kann keine methodische Besorgniss uns
davon befreien, dieses eigentliche Problem des Willens beim
rechten Namen zu nennen. Es handelt sich eben um gar nichts
Anderes als um das Selbstbewusstsein. Wie könnte man nun
meinen, der Affekt allein bringe dieses eigentlichste Problem
auf den Plan ; würde es damit nicht zu einem halben Problem,
während es doch das ganze sein soll? Wie sehr man auch den
Affekt neben dem Denken im Willen anzuerkennen hat, so ist
er doch nur Motor. Das Selbstbewusstsein ist dagegen für den
reinen Willen stets und überall das eigentliche Motiv, der tiefste
leitende und entscheidende Beweggrund. Daher darf das Selbst-
bewusstsein nicht dem Affekt überantwortet, sondern es muss
aus dem Denken hergeleitet und im Denken begründet werden.
Wir und Ich. 197
Die Irrungen sind noch nicht vollständig in dem Vor-
stehenden bezeichnet, welche unvermeidlich werden, wenn man
das Selbstbewusstsein auf den AfTekt gründet. Es handelt sich
nicht allein um den Wert des Prinzips dabei, der durch die
Grundlage des Affekts beeinträchtigt wird. Es handelt sich viel-
mehr um den Inhalt dieses Grundbegrifls selbst und um die
Disposition und die Anlage in der Bestimmung dieses Inhalts.
Schon im Ausgange des Altertums findet sich für das
Selbstbewusstsein der Ausdruck des persönlichen Fürworts, der
das Stichwort dieses Idealismus und seiner Abarten wurde.
Uebrigens findet es sich schon in sehr charakteristischer Weise
bei Piaton, aber im Plural als Wir (yjfisi;). Dieses Wir wird
mit aller pointierten Schärfe den Dingen und ihren Verhält-
nissen entgegengestellt. Bei Plotin tritt es im Singular auf als
Ich (s'i'oj). Dieses Ego tritt auch bei Leibniz auf, als die
charakteristische Differenz des Bewusstseins, das er als Appcr-
ception definierte, von aller Materie. So hat sich bei Leibniz
das Ego aus der ersten Person des Cogito herausgelöst und
selbständig gemacht.
Kant hatte, wie wir soeben es betrachtet haben, nach dem
Vorgange von Leibniz an die Stelle des Selbstbewusstseins die
Apperception gesetzt, welche Leibniz bereits durch die Einheit
charakterisiert hatte. Und wie Leibniz diese seine Apperception
von dem Bewusstsein schlechthin, als der Perception, unter-
schieden hatte, so war die Einheit des Bewusstseins bei Kant
zur Einheit der Erkentnniss geworden, und der gewöhnliche
Sinn des Bewusstseins war verscheucht. Man weiss, wie er es
noch erleben musste, dass sein Grundgedanke wie in den WMnd
verweht wurde. Die Romantik fing mit Rhetorik an. Und
gerade in der Ethik sollte diese Rhetorik trotz allem guten
Winde, mit dem sie segeln wollte, SchitTbruch leiden. An dem
Begriffe des Selbstbewusstseins lässt sich dies betrachten und
von der Logik aus für die Ethik beleuchten.
Man meint, der Gebrauch, den Fichte von dem Selbst-
bewusstsein wiederum in der Wissenschaftslehre machte, bilde
seinen hauptsächlichen, wie freilich auch seinen grundsätzlichen
Fehler. Indessen ist dieser Fehler nicht geringer, sondern nur
noch verhängnissvoller geworden in seiner Sittenlehre. Fichte
198 Ich und Nicht-Ich.
setzt für das Selbstbewusstsein ein das Ich. Und dem Ich setzt
er entgegen das Nicht-Ich. Dieses Nicht-Ich ist das Ding, das
Objekt iiberhaupt; jeder Gegenstand, als solcher. Wir nehmen
hier keine Rücksicht auf die theoretische Frage, ob das Objekt
als Correlat zum Subjekt gesetzt werden darf. Diese Frage be-
trifft Fichtes Wissenschaftslehre, auf die wir jetzt nicht einzu-
gehen haben. Was bedeutet der Gegensatz von Ich und
Nicht-Ich aber für die Sittenlehre? Ist es da in jedem
Sinne richtig, dass ich vom Ich das Nicht-Ich, welches hier viel-
mehr der Nicht-Ich ist, unterscheide?
Es handelt sich hier um ein unendliches Urteil. Dieses
ist aber ein Urteil des Ursprungs. Für welchen Begriff soll
in diesem Urteil der Ursprung gesetzt werden, so dass auf dem
Umwege des Nichts das neue Etw^as gefunden werden soll? Da
der Umweg hier an dem Ich versucht wird, so muss es sich um
nichts Anderes als um den Ursprung des Ich handeln. Es
widerspräche dem wissenschaftlichen Gebrauche des unendlichen
l'rteils und seiner Gebilde mit der eigentümlichen, dafür wie
erfundenen griechischen Partikel (»xV;), wenn in einem andern
Sinne die Formel des Nicht-Ich gemeint würde. Sie darf nicht
gebraucht werden, wenn es sich um die Bestimmung und Er-
zeugung einer Sache handelt, und wenn selbst dieser der grösste
Wert beizumessen wäre. Nicht-Ich darf ausschliesslich
nur gebraucht werden als Ursprungsbegriff des Ichi
keineswegs aber als Correlat zu Ding und Sache; denn
diese gehören einer andern Welt an als das Ich und die Person
Das wäre die erste durchgreifende Correktur, die wir an Fichtes
Formel auf Grund der Logik der reinen Erkenntniss anzubringen
haben. Die Formel ist logisch falsch; methodisch falsch. Sie
passl nicht für die Logik, für die F^rkenntniss der Natur-
wissenschaft.
Passt sie aber für die Ethik? Hier kann sie passen;
konnte sie passen, wenn sie im richtigen Sinne des Ursprungs-
urteils verstanden und behandelt wird. Denn das ist ja die
Grundfrage der Ethik: was ist das Selbstbewusstsein? Oder also:
was ist das Ich? Wie ist der Ursprung des Ich zu bestimmen,
so dass aus diesem Ursprung der volle, ganze Inhalt des Ich zur
reinen Erzeugung gelangen kann? So viel sehen wir bereits»
Woher der Nebenmensch? 199
dass es weder aus dem Ding, noch aus der Correlation zum
Ding erzeugt werden kann.
Das Nicht -Ich kann daher nur auf den Begriff des
Menschen sich beziehen, als in welchem allein das Ich seinen
Ursprung haben kann. Der Begriff des Menschen ist aber auf
eine Mehrheit von Menschen bezogen, und aus dieser Mehrheit
abgezogen. Wäre er nur eine solche Abstraktion, so würde in ihm
erstlich nicht die Logik des Begriffs, dann aber auch vornehmlich
die Ethik nicht zur Entdeckung gekommen sein. Und Plato
hätte auf Grund dieser Logik den Begriff nicht zur Einheit der
Idee entwickeln können. Der Begriff, die Idee des Menschen ist
Einheit, insofern diese nicht nur alles Treiben und Trachten des
Menschen, sondern alle bunte Mannigfaltigkeit und Verschieden-
heit der Menschen in die Einheit des Begriffs zusammenfasst. So
ist zwar der Begriff des Menschen keineswegs lediglich eine Abs-
traktion von der Vielheit der Menschen; aber er bleibt not-
wendigerweise freilich auf diese Vielheit bezogen. Und nun ent-
steht eine neue Frage für die Ethik: Woher kommtdiese
Mehrheit der Menschen? W^oher kommt der zweite
Mensch, der Nebenmensch?
Man sieht, es kann nicht bei dem Problem sein Bewenden
haben, w^elches Sokrates aufgestellt hat. Dieses war eben zugleich
und gleicherweise ein logisches, wie ein ethisches Problem. Die
Menschen nach ihren mannigfaltigen Berufen lagen seinem Blicke
vor; sie bildeten in dieser Mannigfaltigkeit keine Frage für ihn;
sie waren die Tatsache, von der er ausging. Die neue Frage, die
in ihm sich erhob, war die nach der Einheit dieser vielen, einer
grossen Verschiedenheit der Lebensarbeit nachgehenden Menschen.
Es ist sehr beachtenswert, dass auch Plato nur auf die
Einheit für den Begriff des Menschen seinen Blick richtete; dass
er aber, weil er die Vielheit voraussetzte, und an dieser Viel-
heit in der Dreiheit der Stände festhielt, auch die Einheit
nur im Sokratischen Grundgedanken der Einheit der Tugend
festhielt; sonst aber die Einheit des Menschen nicht zum
Problem machte. Es gibt ein bedeutsames Symptom für
diesen Mangel, der sich an diesem Symptom als solcher kenn-
zeichnet. Es fehlt bei Piaton an der Idee des Menschen
Und gerade diese Idee vermisst man doch sicherlich schwer;
200 Die Idee des Menschen.
schwerer als die Idee der Seele. Man könnte zwar denken, dass
Piaton als Ideen nur methodische Grundbegriffe auszeichnet,
nicht aber Gattungsnamen von Problemen. Aber der Mensch be-
zeichnet ein eigenes methodisches Problem und somit einen
methodischen Grundbegriff.
Es gibt zu denken, dass die Idee des Menschen bei
dem Juden Philo als solche bezeichnet ist. Bei ihm ist
die Einheit des Menschen an der Vielheit und angesichts der
Vielheit der Menschen zu einem fundamentalen Problem gebracht
Die Einheit des Menschen bedeutet ihm die Einheit des Men-
schengeschlechts. Was Moses lehrt, das lehrt für ihn auch
Plato. Was Moses offenbart, das begründet für ihn Plato. Die
Einheit des Menschengeschlechts ist der messianische Ge-
danke, den er von den Propheten ererbt hat; der sein Juden-
tum bildet. Da er zugleich aber von der Begeisterung für die
Wissenschaft und die wissenschafUiche Philosophie der Griechen
ergriffen ist, so kann für ihn die Wahrheit eines religiösen Ge-
dankens nur auf seiner philosophischen Begründung beruhen.
Die Einheit des Menschengeschlechts fordert die Einheit im Be-
griffe des Menschen heraus. Einheit aber kann nur die Idee
vollziehen und gewährleisten. So wird ihm der Mensch zur
Idee des Menschen. So formuliert er zuerst den ein-
heitlichen Menschen als Idee.
Die Einheit ist nunmehr in dem Begriffe des Menschen zur
methodischen F'ormulierung gelangt. Aber die Frage, die wir
oben gestellt haben^ ist dadurch nicht gelöst; ist eher zurück-
geschoben. Für Philo war das keine Frage. Von Gott geschaffen
ist für ihn nur der eine Mensch, und allenfalls das erste Men-
schenpaar. Die Verschiedenheit der Menschen wird in der Ver-
schiedenheit der Sprachen zum eigentlichen Anstoss; sie erscheint
als der eigentliche geschichtliche Sündenfall. Indessen handelt
es sich bei der Vielheit der Menschen nicht allein um die Ver-
schiedenheit, die als ein Ausfluss der Sünde betrachtet werden
mag, sondern überhaupt um die Mehrheit, um die Anzahl. Diese
aber bildet kein religiöses Problem. Sie ist umsomehr ein
ethisches Problem. Woher kommt der Nebenmensch?
Eis ist die Meinung ausgesprochen worden, und rwar sehr
bezeichnender Weise im Kampfe gegen alle Art von Nalurrecht,
Der Andere der Ursprung des Ich. 201
dass ein zweiter Mensch a priori nicht zu denken, nicht zu be-
weisen wäre; dass er vielmehr ein Ding der Erfahrung sei. Wäre
dies der Fall, dann wäre die Deßnition des reinen Willens ein
eitles, ein vergebliches Bemühen. Dann würde das Problem
einer reinen Ethik hinfallig; denn dann wäre jede andere
Hypothesis unnütz und unmöglich. Wenn irgend eine Hypothesis
notwendig und zulässig ist, so muss es die des Nebenmenschen
sein. Und es ist gute Aussicht vorhanden, dass sie als Hypothesis
sich bewähre. Den Nebenmenschen lediglich aus der Er-
fahrung entnehmen wollen, das scheint noch aussichtsloser
als die Definition, dass die Gerade durch zwei Punkte bestimmt
sei, lediglich auf Erfahrung zu gründen.
Der Irrtum an diesem entscheidenden Punkte wird wiederum
durch den Begriff der Mehrheit begünstigt. Der Nebenmensch
wird als ein Nebenmensch gedacht, oder vielmehr vorgestellt
als einer der vielen Nebenmenschen. Gehen wir dagegen
von dem richtig verstandenen Begriffe des Nicht-Ich aus, so tritt
an die Stelle des Nebenmenschen der genauere Begriff des
Andern. Der Andere ist nicht ein Anderer; er steht in der
genauen Correlation, vielmehr in der Continuitätsbeziehung zum
Ich. Der Andere, der alter Ego ist der Ursprung
des Ich.
So wird auf die strengste logische Weise die Ansicht wider-
legt, dass der Nebenmensch nur der Erfahrung angehöre, nicht
aber in der Ethik konstruierbar sei. Umgekehrt stellt es sich
heraus. Das Ich könnte nicht definiert, nicht erzeugt werden,
wenn es nicht durch die reine Erzeugung des Andern bedingt
wäre und aus ihm hervorginge. Man müsste mithin auch sagen,
dass das Ich nur der Erfahrung angehöre, dass es kein Problem,
geschweige ein Erzeugniss der auf idealistischen Hypothesen be-
ruhenden Ethik sei. Damit aber würde ausdrücklich die Möglich-
keit einer solchen Ethik aufgehoben. Diese äusserste Gefahr liegt
in dem Gedanken, dass der Nebenmensch keinen Begriff a priori
zu bedeuten habe. Auch das Ich bedeutet alsdann keinen Be-
griff der reinen Ethik. Und was bleibt dann für die Ethik übrig?
Das Selbstbewusstsein bleibt alsdann sicherlich nicht übrig.
Was an ihm dann noch Problem bleiben könnte, das wäre
lediglich ein logisches und allenfalls noch, aber nur mit Rück-
2 2 Die Correlfttion der beiden Subjekte
sieht auf dieses logische, ein psychologisches Prohlem; ein
ethisches Prohletn würde das Seliisthewusstsein dann nicht
bilden. Denn das ethische Problem des Selhstbeis^nisstseins i\t
das Problem des reinen Willens. Der reine Wille aller vollxicht
sich in der Handlung. Tnd zur Handlung gehören zwei
Subjekte, wie wir dies an der Hechtshandlung erkannt
haben. Das Selbstbewusstsein kann für den Willen und für die
ibindlung nicht das Bewusstsein des Selbst, als eines Kinzigen.
bedeuten. Ks muss vielmehr dieses Selbst den Andern nicht
sowohl einschliessen, als vielmehr auf ihn bezogen werden.
Durch den Kinschluss konnte der Andere invohiert erscheinen,
und so als ein Anderer in dem Kinen Selbst aufgehoben scheinen.
Das darl^ bei <ieni Kinen so wenig, als bei dem Andern der Kall
vin. We<ler darf der Eine den Andern, noch der Andere <len
ICincn in sich verschlungen hallen.
Keiner darf durch <len Andern auch etwa als erweitert In*-
Inuhtet werden. Heide müssen isoliert bestehen bleibrn.
Aber gerade dann bleiben sie nicht isoliert: sondern sie sind auf
nninider bezogen und bilden in dieser (Korrelation das Selbst-
bewuHsIsciu Das Selbstbewusstsein ist in erster Linie
bedingt durch das Hewusstsein des Andern. Diese Ver-
riniKung des Andern mit dem Kinen erzeugt erst das St'lbst-
br>\nHslHcin, als das des reinen Willens.
hulem wir so das SelbstbewusstsiMn aus dem Ursprungs-
lirKHlle des Nicht-Ich, als des Andern, ableiten, so erkennen ^ir
dir t ii/ulanglichkeit, die Irrigkeit und Schädlichkeit, welche in
drni ticdanken liegt, das ,Si*lbstbewusstsein auf den Affekt zu
>:iuiiden Der AlTekt konnte sich nur auf ein Bewegungs- oder
ll«7rliiunK*'geluhl stutzen, allenfalls auch durch ein Denkgcfuhl
iMilnstMt/t werden, aber es wäre dies elH*n nur ein (iefühlsanuei.
I nd \\vi\\\ dei AlTekt als solcher auch eine (Kombination und
I iiiii|irMsalMMi aller (ieluhlsstulen zu In^tieuten vermöchte, %o
\\uts\v n innnei nur als Motor wirken können, nicht aber aU
Mtili\ l nd das S4*lbsllH*wussts4*in, als das Bewusstsein zugleich
d(H Vndnu. ist das (irun«lmotiv der Kthik, muss das (irundmotiv
d<i ii'inrn WilliMis sein Dieses Moti\ muss im reinen Denken
H« inru ttiuud Itabru
Die Religion und der Egoismus. 203
In der Tat zeigt es sich schon im Rechtsgeschäfte, wo
€s sich doch für jeden Cpntrahenten um seinen Vorteil handelt,
dass nichtsdestoweniger auch der Andere berücksichtigt werden
muss; andernfalls könnte es nicht zu derjenigen Genauigkeit,
Klarheit und Sicherheit kommen, welche in der Rechtshand-
lung gefordert werden. Andernfalls würden Irrungen und
Täuschungen unvermeidlich, welche die Aufhebung der Hand-
lung herbeiführen, oder dieselbe vor ihrer Ausführung illusorisch
und nichtig machen. So ist es auch hier das reine wissenschaft-
liche Denken, und keineswegs der blosse Affekt, welcher den
Andern zur Ergänzung, zur Beigesellung bringt. Das Selbst-
bewusstsein des rechtlichen Wollens und der Rechtshandlung
darf nicht auf den Einzigen beschränkt bleiben. Das Selbst-
bewusstsein bedeutet die correlative Vereinigung des Einen und
des Andern.
.Wir stehen hier an einem Kreuzwege der systema-
tischen Ethik, an dem diese von der Religion sich
scheidet.
Es ist die Meinung vorherrschend, dass die Religion darin
ihre Hauptstärke besitze, das Individuum von den Schranken
und den Fesseln der Selbstsucht zu befreien. Sicherlich ist dies
das Ziel aller Religion. Und der Monotheismus insbesondere
hätte keinen geschichtlichen Sinn, wenn er sich dieses Ziel nicht
schon in seinem Begriffe des Einzigen Gottes hätte stecken müssen.
Der Einzige Gott bildet nicht sowohl den Gegensatz gegen die
vielen Götter, als vielmehr gegen die vielen Menschen und
Völker. Der Sinn des israelitischen Monotheismus liegt
von vornherein im Messianismus. Es ist nur die unkritische
Vorstellung, die wir mit den Büchern des alten Bundes zu ver-
binden gewohnt sind, dass die Propheten später kommen als die
mosaischen Bücher. Es sind aber von vornherein die
Propheten, welche den einzigen Gott entdecken. Und sie
entdecken ihn an ihrer messianischen Idee von der einstigen
Einigung der Menschen weit, der Einheit der Menschheit. Die
Einheit Gottes bedeutet von Anfang an nichts Anderes
als die Einheit der Menschheit.
Vor diesem Gedanken der Einen Menschheit entsteht das
Problem des Andern in einem ganz andern Sinne, als in dem es
204 Der Fremdling und der Mensch.
uns entstanden war. Wir forderten den Andern als Bedingung
des Ich. Für die Propheten hingegen erschien der Andere als
ein Fremder, der die Einheit, die der Eine Gott am Menschen
darstellen sollte, zu verletzen schien. Daher musste dieser Schein
der Fremdheit zerstreut und vernichtet werden. Der Fremd-
ling erscheint zunächst als solcher Fremde; er scheint ver-
schieden zu sein vom eigenen Volke und vom eigenen Glauben.
Daher muss vor Allem dieser Schein beseitigt, dieses Vorurteil
zerstört werden. Der Fremdling sei Euch wie der Ein-
geborene. Und wie man bei dem Eingeborenen Mitleid hat mit
dem Armen, mit der Waise und der Witwe, so wird demzufolge
es zu einer stilistischen Figur bei den Propheten: der Fremd-
ling, die Waise und die Witwe. Sie gehören zusammen; sie
stehen überall zusammen. Und wie das Recht und das Gesetz
die Grundlagen der Gesittung bilden, und von den Propheten in
besonderer Energie und Consequenz als solche eingerichtet werden,
so wird der Fremdling auch mit Recht und Gesetz in Verbindung
gesetzt: „Ein Gesetz sei Euch, dem Fremdling und dem Ein-
geborenen im Lande.'* So wird der Fremdling zum ver-
mittelnden Begriffe im Begriffe des Menschen.
Und diese Vermittlung wird genauer und packender zu-
gleich durch den Begriff des fremden Volkes. Das hat ja
hauptsächlich alle Wahrhaftigkeit der sittlichen Einsicht, nicht
nur alle Gediegenheit und innere Folgerichtigkeit aller geschicht-
lichen Kultur gehemmt, dass man nicht aufgehört hat, an dem
Begriffe einer fremden Nation keinen Anstoss zu nehmen; dass
man Kosmopolitismus und Vaterlandslosigkeit für einen und
denselben BegrifT halten zu müssen glaubt. Wenn man im
Privatleben schon es wenigstens für die dürftige Wohltätigkeit
zugestehen mag, dass das Selbstbewusstsein auch die fremde
Person, als den Nächsten, einzuschliessen habe, so hält man dies
doch in der Politik in Bezug auf die fremde Nation für einen
Frevel. Die Propheten dagegen glaubten ihr Vaterland nur da-
durch lieben zu können, dass sie die Menschheit lieben lehrten.
Und sie wollten lieber ihr Vaterland preisgeben, als dass sie ein
Jota an der Einen Menschheit verlören. Neben dem Fremdling
ist durch den messianischen Gegensatz gegen die fremden Völker
die Einseitigkeit und Selbständigkeit des Individuums durch die
Die Liebe. 205
Religion aufgehoben worden. Und es war die Menschheit in
ihrer dereinstigen Einheit, welche auch für das Individuum die
Einheit des Menschen zur Darstellung brachte.
Wenn w^ir nun aber fragen dürfen, wie es geschichtlich,
wie es nach der Musterung, die wir an den verschiedenen
Arbeits- und Denkweisen der Kultur anzustellen für angemessen
halten, zu verstehen sein möchte, dass diese erhabenen Gedanken
zwar das Gemüt erfüllen und erschüttern konnten, dennoch
aber im politischen Sinne eine geschichtliche Wirklichkeit so
gut wie gar nicht zu entfalten vermochten, so dürfen wir diese
Frage als eine Lebens- und Rechtsfrage der systema-
tischen Ethik erklären. Und wir stehen an dem Punkte, an
dem bei aller Anerkennung der Religion und ihrer sachlichen
Verdienste dennoch der Gegensatz zu ihr festgestellt werden
muss. Nicht in dem sachlichen Werte der Gedanken liegt ihr
wirksamer Wert; sondern allein in dem methodischen Werte.
Und der methodische Wert vermag auch den sachlichen
Ausdruck, also auch den sachlichen Wert belangreich
zu verändern.
Der höchste Ausdruck, mit dem die Religion zu operieren
vermag, ist die Liebe. Was bedeutet ihr dagegen das Erkennen?
Im hebräischen Ausdruck bedeutet Erkennen zugleich Lieben.
Um so mehr daher Lieben zugleich Erkennen. Die Liebe hat
den Xebenmenschen geboren. Das ist ein grosses Werk,
das von der Geschichte der Ethik nicht verkleinert werden darf.
Die Geschichte der Ethik hat, wie alle Arten der sittlichen Kultur,
so vorzugsweise auch die Religion und ihre sittlichen Ent-
deckungen zu ertbrschen und zu würdigen. Aber die systema-
tische Ethik muss ihre eigenen Wege gehen, sie darf sich von
der Sprache und von den Ausdrücken der Religion, die im
strengen Sinne niemals Begriffe sind, nicht gängeln lassen.
Daher müssen wir hier den Ausdruck der Liebe in Anspruch
nehmen und in Frage stellen.
Liebe ist ein AfTekt, und zwar auch in der gewöhnlichen
Bedeutung dieses Begriffs, geschweige in der unsrigen. Das
Selbstbewusstsein aber, welches den Andern fordert, darf nicht
auf den Affekt allein gegründet sein. Es beruht nicht auf dem
AJTekt ; es wird von dem reinen Denken im reinen Willen ge-
206 Amor intellectualis.
fordert. Der Andere wird vom Recht gefordert. Und wir werden
sehen, wie er auch vom Staate gefordert wird, und das> es
keineswegs richtig ist, dass im politischen Sinne der Andere
ausschliesslich als der Fremde betrachtet werden müsse, welcher
die Einheitlichkeit des Staates bedrohte und zu nichte machte.
Der Andere wird von deA realen Mächten des wissen-
schaftlichen Denkens gefordert; er darf nicht und er
braucht nicht dem Affekt überantwortet zu werden; auch der
Liebe nicht.
Wir können diesen Fehler auch noch aus dem Begriffe
des Affektes selbst beurteilen. Der Affekt ist höchstens ein
Suffix, wenn er nicht nur ein Annex ist. Hier aber wird er
selbständig; tritt er an die Stelle des Willens, als ob im Willen
gar nichts Anderes wirksam wäre als nur er allein. So war ja
der Doppelfehler bei Spinoza entstanden. Aber wie derselbe
aus einer doppelten Berichtigung verständlich wird, nämlich
einmal gegen die Begehrung und zweitens gegen die Einseitigkeit
des Intellekts, so zeigt sich auch hier der moralische Sinn in
seiner Vorurteilslosigkeit und Energie als der Grund der falschen
Terminologie. Liebe allein und selbständig verwirft
Spinoza. Wo Liebe ist, da ist auch Hass; denn da ist Eifer-
sucht und Neid. Und Barmherzigkeit verachtet er, wie das
auch Kant in schneidenden Worten tut. Der Affekt darf nicht
selbständig sein wollen.
Daher greift Spinoza auf den Terminus zurück, den das
religiöse Philosophieren des Mittelalters in allen Lagern gebraucht
hat. Die Liebe wird Amor intellectualis. So wird der
affektive Charakter in der Liebe durch den Intellekt korrigiert.
Aber das Hauptwort bleibt doch der Affekt, und der Intellekt
wird nur zum Attribut. Daher hat auch dieser Terminus seine
schweren Gefahren Inder Mystik gezeitigt. Und alle Verklärung
durch den Pantheismus hat es nicht verhindern können, dass
die intellektuale Liebe in der Unklarheit, in der theoretischen
Desorientierung befangen und daher auch praktisch und politisch
unfruchtbar blieb.
Die Liebe wurde dadurch besonders zu einem bestechlichen.
Ausdruck des Affektes für das sittliche Selbstbewusstsein, dass
die andere Person, auf welche die Liebe und somit das Selbst-
Der Nächste. 207
bewusstsein bezogen wurde, unter der Bezeichnung des Nächsten
in die allgemeine und höchstgeschätzte Aufnahme kam. Wie
kann man die andere Person enger und inniger mit dem Ich
verknüpfen als durch diesen unübertrefflichen Superlativ des
Nächsten? Indessen wo der Superlativ steht, da lauert der
Comparativ im Hintergrunde. Es findet sich immer ein neuer
Anlass zur Steigerung. Und doch sollte von dieser Wahrheit
vorzugsweise das Dichterwort gelten : gibt's etwa hier ein
Weniger oder Mehr? Wo die Steigerung nicht bis auf jede
Spur ausgeschlossen wird, da wird der Sinne Glück nicht über-
wunden. Der Positiv enthält schon die Gefahr in sich; es darf
sich hier überhaupt nicht um Nähe handeln, sondern lediglich
um den Begriff des Selbst.
Wie ist die Nächstenliebe überhaupt entstanden? Im
hebräischen Urtext heisst es: Liebe Deinen Rea als Dich
selbst. Rea ist der Andere. Der Ausdruck wird sogar von zwei
Nägeln gebraucht, die zu einander gehören. Wie ist aus dem
Andern nun aber der Nächste geworden? Die Septuaginta über-
setzt Rea mit Nachbar (tcXtjoio;). Dieser Ausdruck nimmt auch in
dem klassischen Griechisch die erweiterte Bedeutung der Nähe
an. Und in der römischen Sprache sind ja die Verwandten
die Nahen (Propinqui). Wenn nun im lateinischen Sprach-
gebrauche Rea mit Proximus übersetzt wird, während die Vulgata
dagegen mit dem nicht minder verfänglichen Amicus übersetzt,
so scheint durch den Superlativ der Positiv der Verwandten
überstiegen zu sein. Also sind zugleich mit den Blutsverwandten
auch die Stammesverwandten übertroffen; und welche andere
Nähe und Freundschaft könnte es sonst noch geben, in welche die
Menschen in engere Verbindung sich zusammenfügten? Man weiss
aber, wie schwer und verhängnissvoll für das sittliche Selbst-
bewusstsein der Fortgang der Kultur diese Frage beantwortet hat.
Näher als Blut und Stamm hat der Glaube die Menschen
verkettet. Und der Genosse des Glaubens wurde zum eigent*
liehen Hausgenossen (oIxsxtjc; t^c maxecot;), er erzeugte jedoch
unvermeidlich die legitime Ausnahme von der Regel der
Nächstenliebe. Er wurde zum Nächsteren. Man kann es bei
Hugo Grotius gewahren, man braucht dafür nicht auf die
208 Die relativen Gemeinschaften.
scholastische Lileratur zurückzugreifen, wie die Kriege mit den
unchristlichen Völkern dadurch gerechtfertigt werden.
Aber es wäre ungerecht, für die Charakteristik dieses
ethischen Grundgebrechens bei der Religion stehen zu bleiben,
und bei den Indulgenzen, zu denen alles religiöse Denken sich
bereit finden Hess, vielmehr muss man auf die gesamte recht-
liche und wirtschaftliche Lage der Kultur hierbei vorzugsweise
Rücksicht nehmen. In* einem neueren Buche, auf das wir schon
in der Einleitung hinweisen mussten, ist dieser Fehler er-
schreckend deutlich geworden. Mit einer unbefangenen Buch-
stäblichkeit ist da die Schablone des Nächsten für die Einzäunung
relativer Gemeinschaften verwendet worden, so dass dieser zwei-
deutige Begriff in seiner ganzen Gefährlichkeit erscheint.
Während der Sinn des Nächsten doch schlechterdings von ab-
soluter Geltung sein sollte und in der Devise auch so gemeint
sein will, wird er dort in eine genau berechnete und abgemessene
Stufenleiter von Relativitäten aufgelöst, damit man nur ja nicht
daran irre werden könnte, dass, was die Religion fordert, in den
gebührlichen Ermässigungen auch in der bürgerlichen Wirklich-
keit sich zu einer verständigen Anwendung bringen lasse. Wer
aber wird an der Wahrheit des Sprichworts zweifeln w^oUen,
dass das Hemd mir näher ist als der Rock.
All dieses Unheil und diese anstössige Zurückschraubung
desjenigen Grundgedankens, den man doch sonst als den Eck-
stein der Religion ausgibt, liegt in der falschen Uebersetzung
des Nächsten begründet. Nicht die Nähe bildet das Problem,
nicht ihr Grad, und wäre er der höchste, nicht die Verwandt-
schaft, nicht die Genossenschaft, nicht die Gemeinschaft selbst:
das Selbst allein ist das Problem. Und dieses Problem ist allein
durch das Selbstbewusstsein zu bezeichnen, durch das Selbst-
bewusstsein des reinen Willens. Ob ich das Selbstbewusstsein
des reinen Willens erlangen kann, wenn ich allein auf der Welt
bin, wenn nur ich mich habe, nur mich kenne und will, oder
aber ob ein Anderer als der Andere unbedingt zu meinem Selbst
erforderlich sei, das ist die Frage. Und der Sinn dieser Frage
wird verdunkelt und verkümmert, wenn aus dem Andern der
Nächste wird. Sagt man etwa von zwei Hälften eines Ganzen,
dass sie einander nahe oder nächst wären?
Die Nächstenliebe und die aesthetische Liebe. 209
Bei der Nächstenliebe ist aber die Skepsis verborgen, und
sie bildet dabei das unlautere Versteckenspiel, dass man diesen
Begriff des Selbstbewusstseins für eine poetische Ueberspanuung
hält, die kein Mensch ernst nehmen dürfe. Die Erweiterung des
eigenen Selbst zum Mitgefühl für ein anderes Selbst, das allein
sei der keusche Sinn dieser Nächstenliebe. Und man scheut sich
auch keineswegs, auf die Geschlechtsliebe Anspielungen zu machen
bei welcher diese Erweiterung ja tatsächlich sich bis zu der
Ueberspanuung vollzieht, dass man das eigene Selbst preisgibt,
wenn man es nicht leiblich mit dem andern Selbst zu verschlingen
vermag. Und es ist nicht allein die sinnliche Geschlechtsliebe,
die dabei als evidentes Beispiel wirkt; sondern auch die aesthetische
Liebe, die Liebe, wie sie in der Kunst und im Kunstgefühl
lebendig wird, wird zur Veranschaulichung und zu mehrerer
Beglaubigung herangezogen. Auch da sieht man, wie das Selbst
des Individuums sich verliert in die Furcht und das Mitleid für
den leidenden Helden; und wie es in dessen Erlösung die eigene
Ruhe und Beseligung findet. Und doch sind alle diese Beispiele,
so reizvoll sie sind, mangelhaft und ablenkend von dem genauen
Sinn des ethischen Selbstbewusstseins.
Es ist nicht nötig, auf die schlüpfrigen Abwege der Ge-
schlechtsliebe für die Bedenklichkeit dieses Beispiels Bedacht zu
nehmen; es sei denn in der Hinsicht, in welcher es für die
religiöse Liebe selbst so oft gefährlich geworden ist. Man muss
dabei schon die Grenzen der dogmatischen Kritik streifen, wenn
man dabei doch an den Marienkultus sich erinnern muss. Und
wie verführerisch haben zu allen Zeiten die Formen der Seelen-
brautschaft gewirkt. Aber nicht geringere Gefahr liegt in der
aesthetischen Liebe. Abgesehen davon, dass die Ethik grund-
sätzlich geschädigt wird, wenn die Idee des Guten zur Idee des
Schönen abgeschattet wird, so hat es sich in der epigonischen
Literatur immer gezeigt, wie leicht der Kultus des Genies in den
des Uebermenschen ausartet.
Durch Nichts hat sich D. Fr. Strauss in seiner religiösen
Kritik so sehr geschadet, wie durch den unklassischen Gedanken,
durch den er den klassischen Gedanken der aesthetischen Er-
ziehung vergröbert hat, dass die Religion in Kunst, in den Kultus
des Genies aufzuheben sei. Er hat es nicht an der Probe dafür
u
910 Die mystische Metaphysik.
fehlen lassen, dass seine Rechnung grundfalsch war, indem er
von aller sozialen Gesinnung in seiner nationalen Politik ent-
blösst sich darstellte. Aber auch bei Carlyle sollte man vor-
sichtiger sein, und die gefahrliche Angrenzung seiner ernsthaften
und lebendigen Religiosität und Sittlichkeit an die aesthetische
Verschwommenheit des Heroenkultus nicht übersehen und nicht
für unwichtig halten.
Die ungenaue, die falsche Ansicht von der Bedeutung des
ethischen Selbstbewusstseins wird endlich auch durch die an-
gebliche Metaphysik bekräftigt. Sie wurzelt in der pantheisti-
schen Mystik. In dieser hat sie ihre ganze Kraft; und aus dieser
bezieht sie stets von neuem ihr Ansehen. Gott und Mensch sind
Eins. Der Gott verwandelt sich in einen Menschen. Und der
Mensch vermag sich in Gott zu versenken; sein menschlich Erb-
teil zu verlieren und das göttliche Wesen anzunehmen. Wenn
der Mensch Gott werden kann, wie sollte dann das Selbstgefühl,
das man für das Selbstbewusstsein hält, nicht auch den Neben-
menschen mit sich vereinigen können? Mit dieser Formel hat
die Mystik aller Zeiten ihre Wunderkreise gezogen. Und die
Metaphysik hat sich auf diesem Boden angebaut. In ihrer Sprache
heisstes: es gibt überhaupt nicht zwei, nicht verschiedene
Individuen. In der indischen Weisheit heisst es: der Schleier
der Maja ist über die Dinge und Menschen dieser sinnlichen
Welt gebreitet. Und die Scholastik kommt mit diesem Heils-
gedanken überein, indem sie den Raum und die Sinnlichkeit
überhaupt als das Principium individuationis bezeichnet.
Die Sinnlichkeit erst bringt den Schein der Individuen hervor;
in Wahrheit gibt es gar keine Individuen. Das ist dieser Weis-
heit letzter Schluss.
Sofern es scheinbar dennoch aber Individuen gibt, so ent-
steht daher die Möglichkeit einer Ethik, die sonst entfallen
würde. Die Aufgabe dieser Ethik ist es, diesen Schein der Indi-
vidualität aufzuheben; den Willen, als den Willen des indivi-
duellen Daseins zu verneinen und das Individuum zu vernichten.
Diesen empörenden Widersinn nennt man heutzutage Metaphysik
und Philosophie, weil es Schopenhauer nicht an Wissen, noch
an Talent gefehlt hat, diesen Wahnsinn mit dem Schein von
Denken und Gelehrsamkeit auszustatten. Es gibt aber keinen
Das sinnliche Individuum. 211
unversöhnlichem Gegensatz, als welchen dieser Gedankenwust
gegenüber den Systemen Piatons und Kants bildet.
In allen diesen dem genauen Begriffe, welchen das Selbst-
bewusstsein, als das Selbstbewusstsein des reinen Willens, bildet
widerstrebenden und widersprechenden Begriffen des Selbst und
seiner angeblichen Versittlichung bleibt dies der Grundfehler,
dass es sich in ihnen allen im letzten Grunde um die leibliche
Darstellung der Person handelt. Freilich soll es nicht bei der
Leiblichkeit verbleiben. Aber das ist es eben, dass sie es ist,
welche vergeistigt werden soll. Wenn sie daher noch so sehr
verfeinert und verhimmelt wird; die Vergöttlichung selbst bessert
Nichts an diesem Grundfehler: die Person bildet das Niveau,
w^elches nur verlegt und gehoben werden; welches nicht ver-
ändert werden kann. Das Selbstbewusstsein des reinen Willens
dagegen muss das Niveau verändern; denn der reine Wille ist
nicht unmittelbar von dem leiblichen Material der Person abge-
zogen, er ist auf das Denken und die Handlung angewiesen; und
auch der Affekt, der dabei mitwirkt, so sehr er aus den ver-
schiedenen Gefühlsluftarten seinen Atem bezieht, vermag sich
doch zur Aufgabe aufzuschwingen und zu objektivieren. So wird
das Selbstbewusstsein durch ihn selbst zur Aufgabe; auch wenn
das Denken nicht dahin den Schwerpunkt verlegen würde. Auf-
gabe ist das Selbstbewusstsein, und bleibt es; nicht aber bildet
es den noch so seelisch gedachten Zusammenhang der Glied-
massen und ihrer Funktionen. Diesen Zusammenhang könnte
allenfalls die Einheit des Bewusstseins bedeuten; das Selbst-
bewusstsein bedeutet mehr, als was in diesem Sinne die Einheit
des Bewusstseins zu besagen hat. Das Selbstbewusstsein ist nicht
das des Denkens, noch das einer andern Bewusstseinsrichtung
als der des sittlichen. Das Selbstbewusstsein darf nicht ver-
wechselt werden mit dem Ich der Erkenntniss; und auch nicht
mit dem des aesthetischen Gefühls. Es ist einzig und allein als
das Problem des sittlichen Bewusstseins, als das des reinen
Willens zu denken.
Der Begriff des reinen Willens erfüllt sich erst in ihm.
Denn was wäre die Handlung, wenn sie nicht ihr eigentliches
Ziel in dem Selbstbewusstsein des Willens hätte? Wir haben es
schon betrachtet, dass der Ausschluss des Objekts an sich aus
14«
212 Die religiöse und die juristische Fassung des Selbstbewusstseins.
dem reinen Willen den Einschluss des Subjekts bedeutet. Der
reine Wille will kein äusseres Objekt, als ein gegebenes, als ein
ihn bestimmendes; er will nur in der Handlung sich selbst ent-
äussern, sich selbst entfalten. Daher ist aber auch die Handlung
nichts Anderes als diese Selbstentfaltung des Willens; als diese
Entfaltung des Willens zum Selbst; als die Erzeugung des Selbst-
bewusstseins, als des Selbstbewusstseins des reinen Willens.
Wir sind schon darauf aufmerksam geworden, dass besser
als an den religiösen und sonstigen moralischen Beispielen die
Rechtswissenschaft diesen Begriff des WoUens und der Handlung
darzustellen und klar zu machen vermag. Und auch darauf
hatten wir schon vorläufig Bezug genommen, dass der Begrifl
des Selbstbewusstseins in diesem Bereiche sich zu genauer
Praegnanz werde bringen lassen. Diese Bedeutung der juristischen
Technik haben wir nunmehr ins Licht zu setzen. Wenn es
gelingt, für das Problem, für den BegrifT des ethischen Selbst-
bewusstseins die Rechtswissenschaft als eine unzweideutigere und
fruchtbare Quelle kenntlich zu machen und zu legimitieren, als
welche man bisher in Religion und Poesie anzusprechen gewohnt
war, so dürfte damit der Zusammenhang zwischen Ethik
und Recht unverbrüchlich gesichert, andererseits aber auch von
einer neuen Seite das Problem der Rechtsphilosophie
behauptet werden.
Fassen wir zunächst den Unterschied ins Auge, der
zwischen der juristischen und der religiös-sittlichen
Auffassung des Selbstbewusstseins besteht. Die religiöse
Ansicht fasst das Selbstbewusstsein im besten Sinne objektiv; in
Bezug auf den Andern, der mit dem Selbst zu vereinigen sei.
Zwar gilt es in letzter Instanz auch das eigene Selbst, dessen
Heil und Frieden begründet werden soll; aber der Umfang des
Begriffs bildet von diesem Ausgange aus die eigentliche Schwierig-
keit. Daher geht die Forderung und die Aufgabe auf diesen
objektiven Umfang, den der Begriff gewinnen muss.
Im Rechte dagegen bildet dieser Umfang gar keine Schwierig-
keit. Es tritt gar nicht in Frage, ob und wie der Contrahent in
Bezug auf sein Ich mit dem andern Contrahenten in Bezug auf
dessen Ich vereinigt werden könne, oder solle. Denn an diesen
Ichs werden nur Merkmale und Kennzeichen in das Interesse
Die juristische Person. 213
bezogen, welche für dasselbe durch das Denken objektivierbar
sind. Die Handlung selbst, wie sehr auch in ihr der AtTekt mit-
wirken muss, tritt als Rechtshandlung nur in diesen objektiven
Kriterien in die Erscheinung. So zieht sich für den juristischen
Begriff des Selbstbewusstseins Alles auf das eine Subjekt zurück;
und es ergeht keine F'orderung von diesem einen an das andere
Subjekt, welches mitgedacht wird, um sich etwa als Subjekt mit
dem ersten zu vereinigen. Die Forderung der Vereinigung er-
streckt sich und beschränkt sich auf die Vereinigung zur Rechts-
handlung; also zur Erzeugung eines Rechtsinhalts, eines Rechts-
verhältnisses; aber nicht etwa zur seelischen oder geistigen
Verschmelzung von Subjekten. Auf die Entäusserung des Sub-
jekts nach seinem sonstigen geistigen und seelischen Inhalt und
seine Isolierung auf die Handlung allein kommt es an. Daher
bleibt der Umfang hier subjektiv; auf das Eine Subjekt bezogen.
Denn was von dem einen gilt, das gilt demgemäss auch vpn dem
andern. Das andere Subjekt ist hier nicht ein neues Problem;
es bezeichnet nicht das Problem des Andern. Und es gilt hier
nicht die Forderung und die Aufgabe der Vereinigung des Andern
mit dem Selbst.
Dieses im höchsten Masse und Sinne instruktive und metho-
dische Problem, welches die Rechtswissenschaft der Ethik darzu-
bieten vermag, bildet der Begriff der juristischen Person
wie er sich von dem Privatrecht in das Staatsrecht hinein ent-
wickelt, und daher zum methodischen Grundbegriffe der sozialen
Politik und der mit derselben verbundenen reinen Ethik wird.
Denn die reine Ethik ist die PZthik des reinen Willens. Der
reine Wille aber gibt sich, wie wir es nunmehr erkennen wollen,
in der Rechtswissenschaft und Staatslehre mit wissenschaftlicher
Genauigkeit und Unzweideutigkeit kund. Daher muss die reine
Ethik die Ethik der Rechts- und Staatslehre sein.
Die Ethik muss selbst als Rechtsphilosophie sich
durchführen. Denn alle die logischen Probleme, die dabei als
Bedingungen und Voraussetzungen mitzuwirken haben, sie müssen
in den Problemen der Ethik selbst zur Ausführung kommen, so
dass auch von dieser Seite zwischen der Ethik und der Rechts-
philosophie kein Unterschied bestehen bleibt. Von dem metho-
dischen Unterschiede, der für die Ausführung einzelner begriff-
2L4 Das methodische Verhältniss von Ethik und Rechtswissenschaft
lieber Fragen anerkannt und festgehalten werden kann, darf für
die allgemeine Fassung des Problems füglicb abgesehen werden.
Die Rechtswissensebaft einscbliesslicb der Staatslehre bedarf der
Ethik. Das ist die alte Forderung, in welcher die Rechtsphilo-
sophie zu allen Zeiten im tiefsten, eigentlichen Sinne sich be-
hauptet und ihr Recht geltend gemacht hat.
Die Rechtswissenschaft bedarf der Ethik zu ihrer eigenen
Grundlegung. Es darf in keiner Weise zugestanden werden, was
Stammler in seinem Buche vom Richtigen Rechte unternimmt,
das Recht richtig zu machen, ohne den Grund der Richtigkeit
in der Ethik festzulegen und festzuhalten. Das ist Aufgeben,
Preisgeben der Ethik und der Philosophie. Es darf nicht zu-
gestanden werden, dass zuerst selbständig und schlechterdings
unabhängig das Recht seine eigenen Wege ginge; und dass hinter-
her erst die Ethik kommen dürfte, als die Ethik des Individuums
und der Gesinnung. Denn es gibt keine Gesinnung ohne Hand-
lung; kein Individuum im ethischen Sinne ohne Rechts-
gemeinschaft. Auf diese Verirrung kann man nur geraten,
wenn man aus der Ethik im Handumdrehen die Religion macht,
die es dann eben mit jenen Begriffen der Gesinnung und des
Individuums zu tun hat. Die philosophische, die systematische
Ethik kommt nicht hinterher, nachdem die Rechtswissenschaft
sich eingerichtet und sich richtig gemacht hätte. Das ist so
wenig der Fall, als dieses nachhinkende Verhältniss zwischen
der Logik und der mathematischen Naturwissenschaft statt-
haft ist, und dem methodischen Sachverhalte entspricht.
Die mathematische Naturwissenschaft erhebt nicht geringern
Anspruch auf Eigenart und Selbständigkeit als die Rechtswissen-
schait ; und sie vermag vielleicht mit einem grössern Anschein
von Befugniss und von methodischer Vorsicht diesen Anspruch
zu begründen. Dennoch aber muss er abgewiesen und zurück-
geschlagen werden. In dieser Abwehr betätigt und bezeugt sich
die weltgeschichtliche Eigenart und Selbständigkeit der Philo-
sophie und insbesondere der Logik. Und diese Abwehr begründet
die wissenschaftliche, die kritische Philosophie; die Philosophie
Kants. Und die Philosophie Kants bildet ein System.
Wer dieses System in der Ethik zerschlägt, der hat es auch in
der Logik zerbrochen. Da ist Alles Einheit, von der man nicht
Der Mangel in der Disposition der transscendentalen Methode. 215
einen Teil wegnehmen kann. Die transscendentale Methode kann
nicht für die Logik aufgenommen, für die Ethik aber verworfen
werden. Wie die Logik in der Physik enthalten ist, so muss
sie aus der Physik ermittelt werden. Und wie die Physik
sonach in der Logik wurzelt, so muss auch das Recht
in der Ethik seine Wurzel haben; so muss daher auch
aus der Rechtswissenschaft die Ethik ermittelt und in
ihr begründet werden.
Das ist die neue Position, die wir hier der Ethik geben
Während Kant zwar auch metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaft geschrieben hat, dennoch aber in der Kritik
der reinen Vernunft die eigentlichen metaphysischen Grundlagen
der Naturwissenschaft ermittelt und aufgerichtet hat, so ist er
anders in der Ethik verfahren. In der Kritik der praktischen
Vernunft hat er keinesw^egs in einer nur irgend vergleichbaren
Weise auf die Rechtswissenschaft Bezug genommen und an ihr
sich orientiert, wie dort an der Naturwissenschaft. Er hat viel-
mehr das analoge Faktum einer Wissenschaft als ein Desiderat
bezeichnet, und dagegen nur das Analogon eines Faktums in
Anspruch genommen. Daher ist der Unterschied entstanden,
in dem das Recht bei ihm später, nämlich in seinen metaphy-
sischen Anfangsgründen der Rechtslehre der Ethik gegenüber
befangen ist. Wir werden auf diesen Unterschied zwischen Recht
und Sittlichkeit noch zurückzukommen haben. Hier soll nur
hervorgehoben werden, dass Kant die Anwendung der trans-
scendentalen Methode hier fallengelassen hat; dass er die
Deduktion der Ethik nicht an der Rechtswissenschaft vollzogen
hat„ wie die der Logik an der Naturwissenschaft.
Es kann aber keine Frage sein, dass hierdurch ein unheil-
barer Fehler in den Begriff der transscendentalen Methode
kommen musste. Denn wenn sie für die Logik gilt, warum
sollte sie nicht auch für die Ethik gelten müssen? Freilich
handelt es sich in ihr nicht um Wissenschaft im Sinne der
Naturwissenschaft ; aber wahrlich doch auch um Erkenntniss ;
doch wahrlich nicht nur um Glauben. Dann würde ja die
Ethik sich in Religion wieder auflösen ; während die Theologie
vielmehr Ethiko- Theologie werden, also in der selbständigen
Ethik gegründet werden sollte. In der Tat liegen hier alle
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Die Stiftungen und die Genossenschaften. 217
Arbeit der Rechtsphilosophie in der Ethik auf die GrundbegrifTe
beschränkt, welche analog und teilweise im Zusammenhange mit
den Grundbegriffen der Naturwissenschaft als die erzeugenden
Begriffe der Rechtswissenschaft, die wir daher bereits als die
Mathematik der Geisteswissenschaften bezeichnet haben,
nachweisbar werden. Unter diesen Grundbegriöen ist es der des
Subjekts, auf den es in den Geisteswissenschaften in analoger
Weise ankommt, wie in den Naturwissenschaften auf den des
Objekts. Diesen Begriff des ethischen Willenssubjekts
wollen wir an dem Begriffe der juristischen Person
prüfen und beglaubigen.
Im Römischen Rechte tritt das Problem der juristischen
Person in den Stiftungen (piae causae) auf; im Deutschen Rechte
prägt es sich praegnanter aus in den Genossenschaften. Die
Stiftungen sind doch vorzugsweise in Gütern objektiviert; das
Verhältniss zu den Personen tritt nicht unmittelbar hervor. In
der Genossenschaft ist dagegen die Beziehung auf die Genossen,
mithin auf die Personen unmittelbar gegeben. Bei dieser
immanenten Beziehung auf die Person wird es nun in aus-
nehmender Weise lehrreich, dass die Genossenschaft in ihrem
rechtlichen Charakter in Gegensatz tritt zu der physischen
Person; zu der Person, wie sie gewöhnlich als Einzelwesen
gedacht wird.
Und mit diesem Gegensatze gegen die einzelne
Person tritt zugleich auf der Gegensatz gegen einzelne
Interessen und einzelne Zwecke, als solche der einzelnen
Person. Mit dem Gegensatz gegen die einzelne Person verbindet
sich demnach der Gegensatz gegen den einzelnen Gegenstand
und den vereinzelten Zweck. Auch die Objekte treten
homogen in die Sphäre der Genossenschaft ein. Dies wird
nur dadurch möglich, dass sie in den Begriff der Handlung auf-
genommen werden. Und so verbinden sich alle Momente, welche
das Problem des Subjekts der Handlung und des Willens aus-
machen. Es entsteht in der Genossenschaft das Problem
des Rechtssubjektes.
In dem Begriffe des Rechtssubjekts scheint sich das Problem
der Rechtswissenschaft mit dem der Ethik schlechterdings zu
vereinigen; sofern man einerseits den sittlichen Charakter für das
218 Die Gesamtheit der WiUen.
Rechtssubjekt nicht fahren iässt, und andererseits die ethische
Person eines mystischen Nimbus entkleidet Es wäre nun aber
grundfalsch, Person und Mensch gleichzusetzen. Die
Person ist von Anfang an eine Abstraktion; wie sie denn auch
in der Maske des Schauspielers als solche in die Erscheinimg tritt
Der Mensch mag als ein Einzelwesen gegeben scheinen; die
Person dagegen ist eine Abstraktion des Rechts; wie das Rechts-
subjekt eine solche ist. Es kann auch nicht zur Lösung des
Problems führen^, wenn man mit I bering das Rechtssubjekt zum
Destinatar macht; denn es kommt nicht allein und nicht in
erster Linie auf den Zweck an. sondern auf den Urheber und
Disponenten des Vertrages, auf dem die Genossenschaf) beruht.
Der Grund des Problems liegt in der Kraft und Richtung
des Willens. Der Wille beruht und besteht in seiner Einheit;
dass er nicht in ein Ungefähr von Velleitäten zerflattert Die
Einheit des Rechtssubjekts vollzieht und bewährt sich demgemäss
in der Einheit des Willens. Das ist nun eben das Auffallige, das
Interessante und das entscheidend Lehrreiche in dem Begriffe
der Genossenschaft, dass es sich in ihr doch nicht um einen
einzelnen Willen, nicht um den Willen eines Einzelnen handelt;
und dass gerade dieser Wille mehrerer Personen nicht als
ein gespaltener Wille gilt: sondern dass in ihm und nur
in ihm die echte Einheit des Willens, und demgemäss
der Begriff des Rechtssubjekts zu seiner exakten Geltung
gelangt
Diese mehreren Willen vereinigen sich in einen Gesamt-
willen auf Grund dessen, dass die mehreren Personen in eine
Gesamtheit sich vereinigen. Welcher Begriff stellt diese
Gesamtheit dar? Durch welchen Begriff wird sie gerechtfertigt?
Durch den der Mehrheit, oder aber den der Allheit? Die Frage
betrilTl das vorliegende Problem; sie ist nur ein anderer Ausdruck
desselben. Denn der Unterschied der Allheit von der
Mehrheit liegt in der logischen Befugniss der unendlichen Zu-
sammenfassung der einzelnen Glieder, welche demzufolge als
einzelne nicht ferner in Frage kommen.
Wenn die Genossenschaft als Gesamtheit diesen logischen
Charakter der Allheit anzunehmen fähig wird, so kann diese
""^higung sich nur auf die Willenshandlung beziehen, in welcher
Die juristische Person eine Fiktion? 219
ihre rechtliche Tätigkeit und ihr rechtliches Dasein besteht.
Diese Rechtshandlung wird durch den Beschluss gebildet, den
die einzelnen Mitglieder dieser Korporation zu fassen haben. Der
Beschluss ist gleichsam der Zusammenschluss der
einzelnen Willen in einen einheitlichen Willen. Dieser
einheitliche Wille gehört keinem dieser Einzelwillen an; er ist
ein Gesamtwille. Das ist aber wiederum der problematische
Ausdruck, auf den von Neuem die Frage zu richten ist: ob er
ein AUheits- oder nur ein Mehrheitswille sei.
Es wird von juristischer Seite ausgesprochen, dass dieser
Gesamtwille nicht die Summe der immerhin fortbestehenden
Willen repräsentiere; sondern dass er diese vertilgt und sich an
ihre Stelle gesetzt habe. Und nichtsdestoweniger ist dieser re-
präsentative, dieser ideale Wille der eigentlich reale; denn von
seinem Beschlüsse, von dem Beschlüsse, der sich nur auf ihn
bezieht, hängt der Wille, und somit das Rechtssubjekt der Ge-
nossenschaft ab. Dieser geeinte repräsentative, ideale
Wille bildet die Einheit des Willens und die Einheit
der Person; den Begriff der juristischen Person.
Es wird nun aber die grosse idealistische Aufklärung,
welche in diesem Begriffe der juristischen Person die Rechts-
wissenschaft der Ethik zuführt, dadurch abgeschwächt, dass man
diesen grundlegenden Begriff als eine Fiktion zu bezeichnen
pflegt. Man verkennt damit die Bedeutung der Hypothesis,
welche und sofern sie der Fiktion zuzuerkennen ist. Doch das gilt
nur allgemein für diesen Begriff. Hier aber besteht der grössere
Schaden darin, dass dadurch die Annahme wieder bekräftigt
wird, als ob nur die Person, die physische Person Rechtssubjekt
sein könnte; so dass die Genossenschaft nur als Fiktion einer
Person gedacht werden dürfe. Dahingegen schafft der Begriff
der juristischen Person in der Genossenschaft eine neue Art von
Willen, eine neue Art von Selbstbewusstsein, und demgemäss eine
neue Art von Rechtssubjekt. Daher ist dieser Begriff nicht
als Fiktion zu bezeichnen; sondern es ist ihm der Grund-
wert der Hypothesis zuzusprechen. Es ist die Hypothesis
des ethischen Selbstbewusstseins, des ethischen Subjektes, welche
sich vollzieht in der juristischen Person der Genossenschaft.
220 Die Diskussion zwischen Heusler und Gierke.
Diesen methodischen Wert erkennen wir in der DiskuvMon«
welche zwisi^hen Heusler und Gierke geführt wird. Heusler
macht den Gharakter der juristischen Person für die (ienoHsen-
schall geltend, und zwar im Unterschiede von der Gemeinder-
si*han, der Gesamthand, wo das (iut dem Dritten durch die
Gemeinder communihus manihus aufgelassen werden muss.
Kine solche sinnliche Zusammenwirkung der Willen hraucht Ihm
der (ienossenschan nicht stattxurm<ien; bei ihr treten die
Kinzelnen als solche zurück. (Werke dagegen lehnt den li«*;;rilT
<ier juristischen Person für die (ienossenschatt ah. Kr nuisN sich
daher in eine schwierige Abstraktion liegeben, um die Art dor
(lesamtheit zu bestimmen, welche die Genossenscluin darslellt
Kr hebt den l'nterschied zwischen der Kinheit und der Vicilieit
in ihr auf; ist dies aber durchzuführen? Kr muss vielmehr m»-
wohl die Kinheit, wie «lie Vielheil festhallen: er versteigt sich /u
dem (ledanken der Identilizierung von Kinheit und Vielheit Ist
diese Identifizierung alu'r möglich, wenn sie sich in einem
andern Ik^grifVe vollzieht, der W(*<ier Vielheil, nfK*h Kinheit im
;;rw( dm liehen Sinne ist?
Kine Gesamtheit \on (ienossrn ohne irgend nn eiche br;;n(1-
liehe Trennung ihrer einheitlichen und vielheitlichen Seitr. du*
<iesamtheit sowohl in ihrer einheitlichen, ^ie in ihrer \ielhrit*
liehen .Vite, das ist eine Formulierung, der man die Kmplimiunu
der logischen Schwierigkeit anmerkt, welche jedtH'h Mm iler
Kiisung abirrt; tienn sie \ereinbarl BegritTe, die nach der '^*"
wohnlichen Ansicht sich wi<lersprechen; und sie umgeht «len
fundamentalen Begriff, durch welchen das jurislixcbe Problem,
wie «las ethische, formulierbar un<l Insliar wird.
Auch in Bezug auf das Objekt \ erirrt sich (Üerke Ih-i drr
Verbindung \(m Kinheit und Vielheit. Das genosM*nM'haft liehe
(•esamteigenlum ist nach ihm ein Bechtsverhaltniss. welcht^s auf
der Verbindung \on (iesamteinheilsrecht und (iesamtxielhnls.
recht beruhe Diesrs Gesamtx iellteitsrecht ist ein ne;;ali»i's
Musirr beispirl für den notwendigen Wert der Allheit Vielheit
ist nicht <iesamtheit; Vielheit ist Mehrheit. Gesumthnt
ist Allheit Kinheit ist \or/ugsweise Allheit; sonst nur
K i n / e 1 h e i t . \% e 1 1* h e d e r Mehrheit / ti g e li ort. Dan ist der
Fell 1er in dieser ganzen (>|HTati(»n mit den P.egrifTen Kinheit,
Die Einheit der Allheit. 221
Vielheil und Gesamtheit, bei der der Begriff der juristischen
Person vermieden werden soll, als bildete sie eine paradoxere
Fiktion als diese versuchte Identifizierung von Einheit, vielmehr
Einzelheit, und Vielheit.
Und doch ist der Unterschied der Einheit von der
Einzelheit, zwar nicht als Allheit, aber doch in der Richtung
der Zusammenfassung an dem Problem der Person, nämlich der
Seele bei Piaton schon zum Austrag gekommen; die Einheit ist
die Einheit der Seele (sv v. '^^yr^). So ist die Einheit nicht in
der Zahl zur Entdeckung gekommen; denn dort ist sie ursprüng-
lich auch nur Einzelheit. Die ideale Einheit, die Grundlage der
Zahl, die Grundzahl ist erst als Uebertragung von dieser seelischen,
geistigen Einheit entstanden. Diese Einheit darf nicht mit der
Vielheit verwechselt, geschweige identifiziert werden. Sie ist
Allheit. Und das ethische Beispiel dieser Allheit ist die juristische
Person, als das Rechtssubjekt der Genossenschaft, in welcher die
Vielheit verschwindet; und die Allheit, und in ihr die Einheit
an deren Stelle tritt. Sie ist die Einheit der Allheit.
Gegen diese Lösung des Problems der juristischen Person
erhebt sich abei jun immer von Neuem das Bedenken, dass
doch die eigentliche Einheit der Person in dem Einzelwesen
sich darstelle; und dass man die Sache auf den Kopf stelle, w^enn
man das Einzelwesen zur Illusion, die Allheitseinheit dagegen
zum realen Rechtssubjekt mache. Es scheint, als ob dieses Be-
denken unwiderlegbar; als ob dagegen kein logisches Kraut
gewachsen wäre. Und auf der Stärke dieses Vorurteils beruht
nicht nur der psychologische Naturalismus; sondern, was
schlimmer ist, der ethische Materialismus.
Gegen dieses Vorurteil dürfen wir uns nun aber auf die
Logik der reinen Erkenntniss berufen, w^elche die Einzelheit
als Einheit gestrichen, und in der Mehrheit aufgehoben hat.
Den besondern Wert, der der Einzelheit beiwohnt, hat sie jedoch
in dem Problem der Empfindung zum Ausdruck und zur
Anerkennung gebracht. Demzufolge ist die Einzelheit aus der
Ordnung der constitutiven GrundbegrilYe ausgeschieden, und in die
der modalen, methodischen ForschungsbegrifTe verwiesen worden.
Die constitutiven Kategorieen, wie die der Realität, der Allheit
lösen ihr Problem in sich, insofern sie es delinieren. Die modalen.
220 Die Diskussion zwischen Heusler und Gierke.
Diesen inetliodischen Werl erkennen wir in der Diskussion, •
welche zwischen Heusler und Gierke geführt wird. Heusler
macht den Charakter der juristischen Person für die Gcnossen-
schalt geltend, und zwar im Unterschiede von der Gemeinder-
schaft, der Gesamthand, wo das Gut dem Dritten durch die
Gemeinder communibus manibas aufgelassen werden muss.
Eine solche sinnliche Zusammenwirkung der Willen braucht bei
der Genossenschaft nicht stattzulindcn: bei ihr treten die
Einzelnen als solche zurück. Gierke dagegen lehnt den Begriff
der juristischen Person für die Genossenschaft ab. Er muss sich
daher in eine schwierige Abstraktion begeben, um die Art der
Gesamtheit zu bestimmen, welche die Genossenschaft darstellt.
Er hebt den Unterschied zwischen der Einheit und der Vielheil
in ihr auf; ist dies aber durchzuführen? Er muss vielmehr so-
wohl die Einheil, wie die Vielheil festhalten; er versteigt sich zu
dem Gedanken der Identilizierung von Einheil und Vielheit. Ist
diese Idenlifizicrung aber möglich, wenn sie sich in einem
andern Begriffe vollzieht, der weder Vielheit, noch Einheit im
gewöhnlichen Sinne ist?
Eine Gesamtheit von Genossen ohne irgend welche begrill-
liehe Trennung ihrer einheitlichen und vielheitlichen Seite, die
Gesamtlieit sowohl in ihrer einheitlichen, wie in ihrer viclheit-
lichen Seite, das ist eine Formulierung, der man die Emplindung
der logischen Schwierigkeit anmerkt, welche jedoch von der
Lösung abirrt; denn sie vereinbar! BegritTe, die nach der ge-
wöhnlichen Ansicht sich widersprechen; und sie umgeht den
fundamentalen Begriff, durchweichen das juristische Problem,
wie das ethische, förmulierbar und lösbar wird.
Auch in Bezug auf das Objekt verirrt sich Gierke bei der
Verbindung von Einheit und Vielheit. Das genossenschallliche
neKnmteigentum ist nach ihm ein Rcchtsverhältniss, welches auf
erbindung von Gesamteinheitsrecht und Gesamtviciheits-
beruhc. Dieses Gesamtvielheitsrecht ist ein negatives
rbeispiel für den notwendigen Wert der Allheit. Vielheit
cht Gesamtheit; Vielheit ist Mehrheit. Gesamtheit
Iheit. Einheit ist vorzugsweise Allheit; sonst nur
ilheit, welche der Mehrheit zugehört. Das ist der
* in dieser ganzen Operation mit den Begriffen Einheit,
Die juristische Person und die Affekte. 228
Affekte ausgehen und, durch ihn genährt, ein Objekt erzeugen,
das sie daher auch nur dem Affekte geben, ihm wiedergeben.
Sicherlich bildet der Begriff des Vaterlands ein solches Mittel
der Erweiterung des Selbst. Der Egoismus des Einzelnen wird
durch ihn abgestumpft; der Gedanke einer Gesamtheit wird
entzündet. Wer möchte das bezweifeln; nicht vollauf beherzigen?
Und dennoch liegen schwere Gefahren in diesem so wichtigen,
so heilsamen Kulturbegriffe. Schon im Altertum musste der
Einseitigkeit und Engherzigkeit des Patriotismus der Kos-
mopolitismus entgegentreten. Und es waren nicht allein die
Propheten, welche in dem Gedanken der Einen Menschheit dem
partikularistischen Patriotismus entgegentraten ; sondern bei den
Griechen waren es die Begründer der Ethik in Demokrit und
Sokrates, welche den gesamten Kosmos als die Erde der guten
Seele bezeichneten. So tritt das Denken der Ethik im Kosmo-
politismus auf gegen den Affekt der Vaterlandsliebe. Wir
werden aber sehen, dass es nicht bei diesem Gegensatze zwischen
Kosmopolitismus und Patriotismus sein Bewenden hat; dass
vielmehr die Antinomie eines andern Begriffspaares auf-
tritt, durch welches der Begriff der juristischen Person dem
Vaterlande gegenüber in genauerer Form sich vollzieht.
Darauf kommt es bei dem Begriffe der juristischen Person
an, und darin liegt ihr juristischer Wert, dass es sich bei ihr
nicht um die Verschlingung und Aufsaugung handelt; diese
käme nur der Vielheit zu Statten ; sie kann jedoch nichts aus-
richten für die Allheit. Es genügt auch nicht, dass die Einzelnen
ihrer Einzelheit sich entäussern ; damit würden sie doch noch
nicht ein wahrhaftes einheitliches Selbstbewusstsein zu Stande
bringen. Den Affekterweiterungen, welche das selbstische Ich
verengen, treten nur allzu leicht wieder Affektverengungen zur
Seite, welche die Machtausdehnung der selbstischen Sphäre be-
wirken. Auch bei den religiösen Affekten ist dies eine sich stets
erneuende Tatsache. Die Liebe zu Gott ist keineswegs immer
nur als eine Sicherung der Menschenliebe gedacht, geschweige
angewendet worden. Bei der juristischen Person dagegen spielen
die Affekte keine Rolle; bei ihr handelt es sich lediglich um
die Willenshandlung, welche vermittelst und kraft der Bedingung
und der Einheit als Rechtshandlung sich vollzieht.
222 ^AS Vorurteil der Einzelheit.
methodischen Kategorieen dagegen bezeichnen nur das Problem
und die Stufe, welche dasselbe auf dem Wege der Forschung
bildet; keineswegs aber enthalten sie in ihrer Definition zugleich
die Lösung. Das Problem der Empfindung ist das Problem
der Einzelheit.
Die Einzelheit ist ein Problem. Wodurch wird dieses
Problem gelöst; wodurch wird es lösbar? Es ist das eigentliche
Unglück der Logik, dass man die Einzelheit nicht lediglich als
ein Problem der Methodik gelten lassen will. Daher schleicht
sich die Empfindung ein und verdrängt das Denken der Er-
kenntniss. Einesteils meint man, das Denken könne die Einzel-
heit nicht ergeben und nicht ermitteln; dazu bedürfe es der
Empfindung; andernteils meint man es aber so, dass es für die
Einzelheit des Denkens nicht bedürfe; dazu sei eben die Empfindung
da; und sie allein zulänglich. So wurzelt aller Gegensatz
gegen den Idealismus und seine Zulänglichkeit in diesem
Fehler; in der logischen Charakteristik der Einzelheit.
Das Vorurteil der Einzelheit wächst zu dem der
Einzelperson aus; nur diese könne Selbstbewusstsein haben
und Rechtssubjekt sein. Man wird versucht, schon psycho-
logisch gegen dieses Vorurteil anzugehen. Wie steht es denn
mit dem StoflFwechsel dieser ehrenwerten Person? Und mit dem
Wechsel normaler und gesteigerter, sowie geminderter geistiger
Regsamkeit in ihr? Und mit den Stufen der Aufmerksamkeit
und des vollen, wachen Bewusstseins ? Wird nicht auch im
psychologischen Sinne schon das Selbstbewusstsein zu einer Art
von Fiktion? Und sieht man nicht schon hieraus, dass es
keineswegs lediglich der unaufhaltsame Hang zu falscher
Hypostasierung ist, welcher die Rechtswissenschaft und die Ethik
zu einer nicht sowohl erweiterten, als vielmehr erhöhten sub-
jektiven Inhaltsbestimmung des Rechtssubjekts und des Selbst-
bewusstseins des Willens hinführt?
Diese rechtswissenschaftliche Darstellung und Begründung
der idealen Person im Rechtssubjekte ist lehrreicher, über-
zeugender, weil praeciser und praegnanter als alle die sonstigen
Erweiterungen des Selbstgefühls, mit denen man das Individuum
von den Schranken des Eigensinns und der Selbstsucht zu be-
freien und zu erlösen liebt. Sie können alle nur von dem
Die juristische Person und die Affekte. 228
Affekte ausgehen und, durch ihn genährt, ein Objekt erzeugen,
das sie daher auch nur dem Affekte geben, ihm wiedergeben.
Sicherlich bildet der Begriff des Vaterlands ein solches Mittel
der Erweiterung des Selbst. Der Egoismus des Einzelnen wird
durch ihn abgestumpft; der Gedanke einer Gesamtheit wird
entzündet. Wer möchte das bezweifeln; nicht vollauf beherzigen?
Und dennoch liegen schwere Gefahren in diesem so wichtigen,
so heilsamen Kulturbegriffe. Schon im Altertum musste der
Einseitigkeit und Engherzigkeit des Patriotismus der Kos-
mopolitismus entgegentreten. Und es waren nicht allein die
Propheten, welche in dem Gedanken der Einen Menschheit dem
partikularistischen Patriotismus entgegentraten ; sondern bei den
Griechen waren es die Begründer der Ethik in Demokrit und
Sokrates, welche den gesamten Kosmos als die Erde der guten
Seele bezeichneten. So tritt das Denken der Ethik im Kosmo-
politismus auf gegen den Affekt der Vaterlandsliebe. Wir
werden aber sehen, dass es nicht bei diesem Gegensatze zwischen
Kosmopolitismus und Patriotismus sein Bewenden hat; dass
vielmehr die Antinomie eines andern Begriffspaares auf-
tritt, durch welches der Begriff der juristischen Person dem
Vaterlande gegenüber in genauerer Form sich vollzieht.
Darauf kommt es bei dem Begriffe der juristischen Person
an, und darin liegt ihr juristischer Wert, dass es sich bei ihr
nicht um die Verschlingung und Aufsaugung handelt; diese
käme nur der Vielheit zu Statten ; sie kann jedoch nichts aus-
richten für die Allheit. Es genügt auch nicht, dass die Einzelnen
ihrer Einzelheit sich entäussern; damit würden sie doch noch
nicht ein wahrhaftes einheitliches Selbstbewusstsein zu Stande
bringen. Den Affekterweiterungen, welche das selbstische Ich
verengen, treten nur allzu leicht wieder Affektverengungen zur
Seite, welche die Machtausdehnung der selbstischen Sphäre be-
wirken. Auch bei den religiösen Affekten ist dies eine sich stets
erneuende Tatsache. Die Liebe zu Gott ist keineswegs immer
nur als eine Sicherung der Menschenliebe gedacht, geschweige
angewendet worden. Bei der juristischen Person dagegen spielen
die Affekte keine Rolle; bei ihr handelt es sich lediglich um
die Willenshandlung, welche vermittelst und kraft der Bedingung
und der Einheit als Rechtshandlung sich vollzieht.
Die Gemeinschaft und die Natur. 225
Charakter eingeboren ist. Aber älter noch und unzweideutiger
als die Genossenschaft ist doch die Gemeinschaft, auf die wir
ja früher schon nach ihrer uralten Bedeutung aufmerksam
werden mussten. Das Gemeinsame ist der erste Ausdruck für
Mass und Vernunft (xotvov, Sovdv). So ist es bei Heraklit der
Terminus für den Logos. Und das Gemeinsame der Freunde
(xoiva tot Ttt)v fiXwv) ist bei Piaton der religiöse Ausdruck der
Freundschaft. Sollte nicht daher die Gemeinschaft sich doch
noch gründlicher, weil umfassender, zum Musterbegriffe des
Selbstbewusstseins eignen als die Genossenschaft?
Man könnte meinen, der Unterschied des juristischen Be-
griffs von allem religiösen Begriffe begünstige und begründe allein
den Vorzug der Genossenschaft vor der Gemeinschaft. Das soll gar
nicht in Abrede gestellt werden; aber es spielt doch noch ein
anderer Grund dabei mit, der scheinbar für die Gemeinschaft den
Ausschlag geben könnte. Die Gemeinschaft nämlich fasst
nicht nur die Subjekte, sondern auch die Objekte zu-
sammen. Und so befestigt sie die Bedeutung, die ihr schon
mit Rücksicht auf die Subjekte beizuwohnen scheint, dass sie
eine Gesamtheit darstellt, die weniger willkürlich und relativ sei
als die der Genossenschaft. Sie wird als ein Analogon zur
Natur gedacht. Wie diese die Einheit und den Inbegriff der
Kräfte und der Gegenstände bezeichnet, so scheint auch die
Gemeinschaft den Inbegriff und die Einheit der sittlichen Kräfte,
der Subjekte und der Objekte darzustellen.
Die Gemeinschaft moralischer Wesen ist das Regnum
gratiae, welches dem Regnum naturae zur Seite tritt. Darauf
aber, so scheint es, müsse sich doch vornehmlich das ethische
Interesse richten, dass der Zusammenhang der ethischen Kräfte
hergestellt und sichergestellt werde. Diesen geschlossenen, ein-
heitlichen Zusammenhang stellt die Gemeinschaft dar, während
die Genossenschaft nur ein unzulängliches Gleichniss von ihr
zu bedeuten scheint, in welchem sie aber vielmehr die Einheit
dieses Zusammenhangs tatsächlich durchbricht, sie relativ macht,
und also aufhebt und vereitelt. So stellt sich die Gemeinschaft
gegen die Genossenschaft aus dem Interesse des Zusammenhangs
der sittlichen Welt, der Gemeinschaft der moralischen Wesen dar.
15
226 Die natürlichen .Gemeinschaften.
Darf nun aber dieses Interesse des Zusammenhangs schon
jetzt sich geltend machen, wo es vielmehr erst darauf ankommt^
das Rechtssubjekt selbst zur Erzeugung zu bringen? Liegt in
jenem Bedenken nicht daher deutlich der Irrtum, dass man das
sittliche Subjekt aus dem Zusammenhange dieser Subjekte her-
zuleiten habe, anstatt dass man vielmehr auf Grund des Rechts-
subjekts und seines Begriffs den Zusammenhang der Subjekte
erst zu gewinnen hat? Es ist also ein schweres methodisches
Bedenken, das hier auftritt und gründliche Beseitigung fordert
Es könnte nicht allein ein religiöses, sondern zugleich ein
realistisches Vorurteil sein, welches die idealistische Erzeugung
des sittlichen Subjekts und Selbstbewusstseins hemmt.
Dieser Anstoss ist um so gefahrlicher, als er einen natür-
lichen und rationellen Anspruch geltend zu machen scheint,
nämlich den des natürlichen Ursprungs und der natürlichen
Entwickelung des Selbstbewusstseins. Wenn es aber selbst der
natürliche Weg wäre, den das Selbstbewusstsein in der Er-
weiterung des AfTektgefühls nähme, so brauchte er darum noch
nicht der methodische zu sein für die Bildung des Selbstbewusst-
seins des reinen Willens. Hier bewährt sich die Zweckmässig-
keit der Orientierung der Ethik auf die Rechtswissen-
schaft.
Die juristische Person einer Genossenschaft wird an sich
nicht gerade mit Affekt gewollt. Dennoch aber sind jene Gegen-
stände des natürlichen Willens, auf welche man in jenem Be-
denken anspielt, meistens juristische Personen. Sofern sie aber
auf dem Affekt beruhen, wirken sie zweideutig und vermögen
das Selbstbewusstsein des ethischen Subjektes nicht rein dar-
zustellen. Solche juristische Personen von einem zweideutigen
Werte als Rechtssubjekte bilden der Stand, der Stamm, die
Kirche, selbst das V^aterland. Man kann sich beim Vater-
lande durch einen kritischen Blick sofort darüber belehren, in-
dem man nämlich die Richtung dieses Begriffs nach Aussen und
nach Innen unterscheidet. Nach Aussen wirkt der Begriff in der
vollen Gewalt des Affekts, während er nach Innen träge schlummert
und nur langsam und gewaltsam geweckt werden kann. Und
doch bildet das Vaterland die mächtigste Gestaltung der
Gemeinschaft; wie ist es da zu begreifen, dass sie dennoch
Der Gentilbegriff. 227
nicht den reinsten Ausdruck der juristischen Person und des
Rechtssubjekts darstellt und lebendig macht? Verrät sich darin
nicht ein schwerer Mangel in dem Begriffe der Gemeinschaft?
In der Tat ist der Schein illusorisch, als ob die Gemein-
schaft absolut, die Genossenschaft dagegen relativ wäre. Viel-
mehr ist die Gemeinschaft ihrem Begriffe nach eine
Relativität; nach den Kategorieen der Quantität ausgedrückt^
würde sie nicht sowohl der Allheit als vielmehr der Mehrheit
entsprechen. Nur als Mehrheit ist sie Einheit. Die Ge-
nossenschaft dagegen ist Allheit; ist Einheit der juristischen
Person. So ist es nur eine Illusion, die vielleicht auch mit dem
kirchlichen Begriffe der Gemeinde zusammenhängt, dass man die
Gemeinschaft für etwas Absolutes zu halten pflegt; dass man die
Relativität und Particularität, die in ihrem Begriffe liegt, und
vermöge der sie in ein gleichsam concentrisches Netz von Rela-
tivitäten sich zergliedert, gänzlich übersieht. Das Vaterland beruht
auf dem Volke. Das Volk auf dem Stamm. Der Stamm auf der
Familie. Die Familie auf der Ehe. Daraufhin hält man es für
den Weg der natürlichen Entwickelung, dass das Selbst-
bewusstsein seines egoistischen Charakters sich entledige, indem es
von der Ehe aus an dem Bewusstsein der Familie, des Stammes,
des Volkes und des Vaterlands sich entwickele und erziehe.
Gerade die neueren Untersuchungen über die Urformen
der Gesellschaft, wie sie bei den wilden Völkern noch sich
vorfinden, haben indessen den umgekehrten Weg als denjenigen
erwiesen, den die geschichtliche Entwickelung genommen
habe. Der Gentilbegriff erst hat die Familie und die Ehe
bestimmt; die wilde Ehe durch hygienische Rücksichten auf die
Erhaltung des Stammes eingeschränkt. Und alsbald sind die
hygienischen Rücksichten durch politische und rechtliche Rück-
sichten auf die Erhaltung des Besitzes in einem Stamme und
einer Familie verstärkt worden, so dass der Volksbegriff erst den
Stammesbegriß zur Fixierung gebracht hat. Dass es zwischen den
Begriffen Volk und Vaterland so sich verhalte, bedarf keiner
Ausführung; der Begriff des Vaterlands ist der Leitbegriff für die
Einheit des Volkes in seinen Stämmen.
Wenn man nun aber von der Meinung sich leiten lässt,
dass in allen diesen Stufen der menschlichen Gesellschaft eine
15*
228 Der Staat.
selbständige und absolute Gemeinschaft mit dem Werte eines
sittlichen Selbstbewusstseins sich darstelle, so wird diese Ansicht
schon durch die Collisionen und Kämpfe widerlegt, in welche
diese Stufen mit einander geraten. Die Ehe und die Familie
wird in ihrem sittlichen Charakter verdächtig, weil politische
und rechtliche Interessen mit ihnen sich complicieren. Es ist
ein Irrtum, dass dadurch der reine sittliche Charakter der Ehe
und der Familie verdorben und verheuchelt wurde; denn auch
mit den rechtlichen Interessen des Eigentums und der Politik
verschmelzen sich nichtsdestoweniger in den frühesten Anfängen
schon ideale und aesthetische Interessen. Aber es ist doch er-
klärlich, das die Beurteilung der Ehe und der Familie, als von
dem capitalistischen Standpunkte beherrscht, sich hervordrängt,
und in den Fehler der Verkennung und Verurteilung dieses
ethischen Rechtsinstituts verfallt. Wir haben den eigent-
lichen Grund dieses F'ehlers in dem Begriffe der
Gemeinschaft zu erkennen; in dem naturalistischen, socio-
logischen Begriffe, welchen die Gemeinschaft als eine geschicht-
liche Relativität der filntwickelung darstellt.
In welchem BegriflFe können wir denn nun aber dieser
relativen Gemeinschaft in allen ihren Stufen gegenüber eine Art
von Genossenschaft aufstellen, welche dem Begriffe der juristischen
Person entsprechen, und demgemäss den Wert des ethischen Selbst-
bewusstseins genau und unzweideutig darstellen würde? Nicht
um Verbreiterung der Affektstufen darf es sich handeln, so dass
das Ich, als hätte es einen grossen Magen, immer mehr Parti-
cularitäten in sich aufzunehmen und in ihnen sich zu erweitern
hätte; nicht auf dem Wege solcher Ausweitungen vollzieht sich
der Begriff und das Selbstbewusstsein der juristischen Person.
Der gesuchte, der geforderte Begriff ist der Begriff des
Staates.
Viele und vielartige Bedenken erheben sich gegen diese
These. Wir sind gewohnt, den Begriff des Staates unter dem
Begriffe der Herrschaft zu denken, gemäss dem römischen Staats-
rechte vom Imperium und Dominium. Unter diesem Begriffe
fliessen freilich die Grenzen des öffentlichen und des Privatrechts
gar oft und leicht ineinander über. Es handelt sich da nur zu
oft und mit einer methodischen Consequenz um die Eigentums-
Rousseaus volontö universelle. 229
Herrschaft der herrschenden Stände, die den Staat zu bilden
scheinen, weil sie ihn regieren. Indessen kann der Staat sich
dennoch grundsätzlich nicht der Aufgabe entschlagen, welche
durch die Formel pacta servare bezeichnet wird. Und diese
Formel bedeutet zugleich fidem servare. In den Verträgen
wahrt der Staat die Treue. Und diese Treue bildet trotz allem
Missbrauche der Herrschergewalt seine Grundlage und sein
ethisches Recht; sein Recht, als juristische Person anerkannt und
als das höchste und exakteste Muster des ethischen Sei bstbewusst-
seins dienlich zu werden.
Das Selbstbewusstsein der juristischen Person ist das Selbst-
bewusstsein der Einheit des Willens; derjenigen Einheit des
Willens, welche die Allheit zu vollziehen vermag. Und diese
höchste Einheit sollte im Staate zu erkennen sein? Wenn man
ganz absieht von den schweren Bedenken gegen den fortgesetzten
Missbrauch der Staatsgewalt, den die Geschichte und der sie
blossstellt, so kann man sich des Bedenkens schwer erwehren,
dass hier ein Svmbol und eine ideale Fiktion für eine wissen-
schaftlich reale Sache eingesetzt würde. Nun haben wir aber
schon erwogen, dass eine juristische Fiktion ein ernsthafter Be-
griff ist, den man nicht seines Wertes als einer Hypothesis be-
rauben, den man auch nicht mit einem aesthetischen Symbol
verwechseln darf. Daher muss der Begriff des Staatswillens von
jedem Verdacht einer symbolischen Abstraktion befreit werden,
um dem Begriffe der juristischen Person gerecht zu werden.
Schon Rousseau hat die volonte generale, und richtiger
universelle von der volonte de tous unterschieden. Dadurch
ist der Allheitscharakter anerkannt. Heisst das nun aber etwa,
dass es auf die Einzelnen selbst gar nicht ankomme, wenn nur
ein allgemeiner Wille zu Stande kommt? Wie könnte aber dieser
allgemeine Wille als ein universeller, als ein Wille der Allheit
zu Stande kommen, wenn von dem Willen der Einzelnen abge-
sehen werden dürfte? Auf dieser Schwierigkeit beruht der
Anstoss, den man allezeit an dem Begriffe des Vertrages,
als der Grundlage des Staates, genommen hat. Wenn der
Staatswille den Vertrag zur Voraussetzung hat, so ist er durch
die Ausübung jedes einzelnen Willens bedingt. Wie aber, wenn
ein einzelner WMlle nicht teilnimmt, oder sich versagt, wird davon
880 Die Allheit des Staatswillens.
der Einheitswille des Staates betrofTen und aufgeholienf Hier
bricht der Anarchismus ein, der von dieser Bresche aus den
ethischen BegrifT des Staates angreift. Und wie könnte in der
Tat der Staatswille das Selbstbewusstsein des Willens bedeuten,
wenn auch nur ein Mitglied seine Mitwirkung xur Einheit dii^ses
Willens nicht geleistet hat?
Allen solchen Bedenken gegenul>er haben wir nun vielmehr
unser Interesse auf den BegrilT der juristischen Person zu lenken,
und aur die metho<lische Bedeutung, welche diesem Begriffe zu-
steht. Das ist es ja eben, was die Genossenschaf) auszeichnet,
was sie von der Gemeinerschaft unterscheidet: dass es nicht auf
die aktuelle Mitwirkung der einzelnen Genossen ankommt; das%
dadurch nicht ul>er den Gharakter der (ienossenschaft und ulM*r
die Einheit des durch sie auszuiil>enden Willens entschieden
wird. Gera<le in dieser rnabhängigkeit von der aktuellen Einzel-
heit liegt ihr rnterschied von der Mehrheit; beruht ihr Wert nU
Allheit und als juristische Person.
Ileisst das nun al>er etwa, dass es auf die Einzelnen und
auf den Vollzug ihres Einzelwillens gar nicht abgesehen sei, weil
es in letzter Instanz auf ihn nicht ankommt? Das wäre ein
plattes Missverstiindniss dies(*s (inmdbegrifTs, dessc^n sich die
HechlHwivHenschaft alsdann nur bedient hatte, um die Technik
des Diebstahls zur feinsten und iMTÜckendslen Ausbildung /u
bringen. Wenn anders dagegen in der GenoxM*nsi*han der BegrilT
der juristtsehen Person in der Hichtung zur Ausbildung gelangt,
dass dadurch der Begriff des Eigentums von seiner Härte
und egoistisc*hen Einseitigkeit methodisch abgelöst wird, so dass
in dit*M*r Ethisierung des Eigentums auch die Person des Eigen-
tümers auf die Bahn des ethiM*hen SelbsIbewussIvMns gelenkt
wint. dann kann der Bi^grifT der juristischen Pers<m nur in di(*sem
Sinne einer ethischen Hy|M»tbesis als die Fiktion der juristisi'hen
Technik dienlich sein. Wenn dies alMT Ihm der (ienoss4*nsc*liaft
sicli nachweisen lassen wird, so wird es so sich auch Im*! der All-
heit des Staalswillens zu bewahren hal>en. Seine Bedeutung
liegt nicht in seiner aktuellen Wirklichkeit, sondern in
seinem Werte als ethischer Leilbegriff des Selbtt-
bewusslseins.
Der Doppelsinn im Anarchismus. 23 L
Wir dürfen hier auch an den BegrifF der Aufgabe erinnern,
unter dem der Inhalt des Willens schon in seinem Anteil als
Bewegung bestimmt wurde. Aufgabe bleibt nicht beschränkt auf
die Tendenz und deren Fortschritt in der Begehrung; auch wenn
das Denken hinzutritt, bleibt die Fügung des Willens in Be-
dingung und Einheit, oder, wie man es gewöhnlich zu bezeichnen
pflegt, als Zweck, immer doch Aufgabe. Und so liegt denn auch
der Wert des Selbstbewusstseins, als Fiktion des Staatsrechts, in
dem Begriffe der Aufgabe. Sie gilt nach beiden Seiten: für den
Einzelnen, wie für die Allheit.
Dem Einzelnen gegenüber wehrt die Aufgabe des Selbst-
bewusstseins des Staatsbegriffs den Anarchismus ab. Der Staat,
als Selbstbewusstsein, sagt dem Anarchisten: nur in mir und
durch mich kannst du ein wahrhaftes menschliches Selbst-
bewusstsein erlangen und behaupten. Du begehst also ein Un-
recht am Menschentum, nämlich am Selbstbewusstsein des
Menschen, indem du der Aufgabe des Staates dich widersetzest.
Es ist nicht etwa ein Wortspiel, indem wir auf einen Doppel-
sinn in dem Worte Anarchismus hinweisen. Zunächst liegt
darin der Widerspruch gegen die Herrschaft. Aber das griechische
Wort bedeutet zugleich und vornehmlich und ursprünglich das
Prinzip. Und so wird der Anarchismus zum Widerstreit
gegen das Prinzip des reinen Willens und des Selbstbewusst-
seins. Und auch die Herrschaft, auf welche das Prinzip hinweist,
wird zur Selbstbeherrschung, welche in der Aufgabe des
Selbstbewusstseins formuliert wird. So hat der Anarchismus seine
logische Erklärung nur in einem Missverständniss: in der ein-
seitigen Fassung des Wortes als Herrschaft, und nicht zugleich
als Prinzip. Und dieses Missverständniss wird durch das natura-
listische Vorurteil begünstigt, welches an die Stelle des Staates
das Volk setzt. Darauf kommen wir zurück. Jetzt ziehen wir
zunächst die Folgerung aus der Bedeutung des Staats, als Auf-
gabe des Selbstbewusstseins, für den Gesichtspunkt der Allheit.
Wir hatten der logischen Bedeutung der Allheit gemäss das
Selbstbewusstsein des Staates unabhängig gemacht von der Ver-
wirklichung aller Einzelwillen. Aber wenn daraus der Verdacht
aufsteigt, als ob der Staatswille der Mitwirkung aller Einzelwillen
entbehren und sich entheben könnte, so vernichtet der strenge
222 Das Vorurteil der Einzelheit.
methodischen Kategorieen dagegen bezeichnen nur das Problem
und die Stufe, welche dasselbe auf dem Wege der Forschung
bildet; keineswegs aber enthalten sie in ihrer Definition zugleich
die Lösung. Das Problem der Empfindung ist das Problem
der Einzelheit.
Die Einzelheit ist ein Problem. Wodurch wird dieses
Problem gelöst; wodurch wird es lösbar? Es ist das eigentliche
Unglück der Logik, dass man die Einzelheit nicht lediglich als
ein Problem der Methodik gelten lassen will. Daher schleicht
sich die Empfindung ein und verdrängt das Denken der Er-
kenntniss. Einesteils meint man, das Denken könne die Einzel-
heit nicht ergeben und nicht ermitteln; dazu bedürfe es der
Empfindung; andernteils meint man es aber so, dass es für die
Einzelheit des Denkens nicht bedürfe; dazu sei eben die Empfindung
da; und sie allein zulänglich. So wurzelt aller Gegensatz
gegen den Idealismus und seine Zulänglichkeit in diesem
Fehler; in der logischen Charakteristik der Einzelheit.
Das Vorurteil der Einzelheit wächst zu dem der
Einzelperson aus; nur diese könne Selbstbewusstsein haben
und Rechtssubjekt sein. Man wird versucht, schon psycho-
logisch gegen dieses Vorurteil anzugehen. Wie steht es denn
mit dem Stoffwechsel dieser ehrenwerten Person? Und mit dem
Wechsel normaler und gesteigerter, sowie geminderter geistiger
Regsamkeit in ihr? Und mit den Stufen der Aufmerksamkeit
und des vollen, wachen Bewusstseins ? Wird nicht auch im
psychologischen Sinne schon das Selbstbewusstsein zu einer Art
von Fiktion? Und sieht man nicht schon hieraus, dass es
keineswegs lediglich der unaufhaltsame Hang zu falscher
Hypostasierung ist, welcher die Rechtswissenschaft und die Ethik
zu einer nicht sowohl erweiterten, als vielmehr erhöhten sub-
jektiven Inhaltsbestimmung des Rechtssubjekts und des Selbst-
bewusstseins des Willens hinführt?
Diese rechtswissenschaftliche Darstellung und Begründung
der idealen Person im Rechtssubjekte ist lehrreicher, über-
zeugender, weil praeciser und praegnanter als alle die sonstigen
Erweiterungen des Selbstgefühls, mit denen man das Individuum
von den Schranken des Eigensinns und der Selbstsucht zu be-
freien und zu erlösen liebt. Sie können alle nur von dem
Der Geist. 288
Da wird es sich denn rechtfertigen, dass als das Wesen,
als der Träger und Urheber dieses reinen Willens der Geist
bezeichnet wird. Geist hat mehr zu bedeuten als lediglich die
Ausübung der Intelligenz. Die Verwendung derselben, die Ver-
klärung derselben im Willen und zum Willen ist das Erzeugniss
und das Zeugniss des Greistes. Das Selbstbewusstsein hat seinen
praegnanten Ausdruck, den allein zulänglichen im Geiste. Und
so wird der Staat zu der Welt der Geister; zu dem Inbegriff,
zu der rechtlichen Verfassung der Geister.
Das scheint ein sonderbarer Gebrauch des Wortes Geist zu
sein. Der Schein der Sonderbarkeit fallt jedoch auf das Vorurteil
zurück. Man meint, den Geist nur beziehen zu dürfen auf die
religiöse Verfassung und auf die religiöse Gestalt des Menschen.
Die Kirche hält man für das Reich der Geister. Man übersieht
dabei aber, dass der Kirche die Ausbildung des Bewusstseins der
Erkenntniss niemals von der Kultur anvertraut worden war. Man
denkt also den Geist ohne den wissenschaftlichen Inhalt des
Geistes, wenn man ihn im geistlichen Sinne verstehen zu müssen
und zu dürfen glaubt. Der Geist hat jedoch die theoretische Kultur
zu seiner unerlässlichen und unersetzlichen Voraussetzung. Erst
auf dem Grunde der theoretischen Kultur erhebt sich die sitt-
liche Art und Macht des Geistes. So fordert es das Grundgesetz
der Wahrheit. Und so wirkt es nun auch positiv in dem Inhalte
des StaatsbegrifTes nach. So wird die Fiktion der juristischen
Person zur Hypothesis des Subjekts in seinem höchsten.
Ausdruck als Geist.
Wir waren schon aufmerksam geworden auf den juristischen
Grundbegriff des Vertrages; wie alle Rechtshandlung als ein
Vertrag aufgefasst werden kann. Man kann Verträge beinahe als
gleichbedeutend ansehen mit den Rechtsgeschäften unter Lebenden
überhaupt ( S a v i g n y ). Einseitige Rechtsgeschäfte haben doch
immer Rücksicht auf den Andern; diese muss darin nicht als
eine blosse Enunciation, sondern als Disposition enthalten sein
(Windscheid). Pactio est duorum pluriumve in idem
placitum consensus (Ulpian). Savigny bezeichnet den Ver-
trag daher als übereinstimmende Willenserklärung. Windscheid
aber steigert noch den Ausdruck der Einheit, indem er die
224 Die juristische Person als die moralische.
So erklärt es sich, dass für die juristische Person
der Ausdruck der moralischen Person gebraucht wird
Es ist der Zugang zur Ethik, der mit ihr und durch sie gebahnt
und vollzogen wird. Das subjektive Selbstbewusstsein der
juristischen Person wird zum Musterbegrifle des ethischen
Selbstbewusstseins. Dabei spielt keinerlei Mystik mit, und es
bedarf keiner poetischen Symbolik. Keine affektive Erweiterung
wird dabei gefordert, und keine demütige Verkleinerung. Es
handelt sich nicht um Ironie dabei, sondern schlechthin um
praecise wissenschaftliche Technik. Es ist ein irreführender
Ausspruch, dass das Individuum durch den Rechtszwang es
lernen solle und lernen könne, zu dem Bewusstsein der Gemein-
schaft sein Selbstbewusstsein zu erweitern. Es soll nicht das
Selbstbewusstsein erweitert werden zu dem der Gemeinschaft ;
sondern es soll dem Begrifle der Genossenschaft nach und ge-
mäss diesem Musterbegriffe des Rechts der Begriff des Selbst-
bewusstseins definiert werden. Dass das Selbstbewusstsein dem-
zufolge gebildet und erzogen werden könne und solle ; oder, da
das Selbstbewusstsein als ein stehendes Gebilde nicht einmal
psychologisch gegeben ist, es wäre denn in Gemeingefühlen,
dass es danach zu erzeugen sei, von dem Allen handelt es sich
bei diesem MusterbegrüTe nicht ; wenigstens nicht in seiner
hauptsächlichsten Bedeutung. Diese besteht darin, den Gedanken
lebendig und eindringlich zu machen : dass das ethische Selbst-
bewusstsein als das Selbstbewusstsein des reinen Willens gedacht
werden müsse gemäss und auf Grund der logischen Bedeutung
der juristischen Person, welche in der Genossenschaft zu
ethischer Bedeutung und Wirksamkeit gelangt. Das Rechts-
institut und der rechtswissenschaftliche Begriff bringt
den ethischen Begriff des Selbstbewusstseins des reinen
Willens zur Realisierung und zur Rechtfertigung. Das
ist der methodische Gewinn, den wir aus dem Problem der
juristischen Person der Genossenschaft zu ziehen haben.
Es könnte sich hier ein Einwurf erheben, den wir zu Worte
kommen lassen müssen. Wir legen allen Wert auf die Genossen-
schaft. Freilich ist die Societas, obwohl sie zunächst nur ein
Compagniegeschäft bedeutet, von Anfang an blutsverwandt der
Socialitas und Consocialitas, so dass ihr der naturrechtliche
Ich und Du. 235
Und nun wollen wir den Fortschritt betrachten, der sich
für den Begriff des Nebenmenschen aus dem Gesichtspunkte des
Vertrages entwickeln lässt Bisher erschien das Nicht-Ich
nur als der Andere zum Ich. Nicht als ein Anderer, sondern
als der Andere. Aber die Aenderung musste das Ich doch erleiden,
um Selbstbewusstsein zu werden. Die Identität des Selbstbewusst-
seins scheint immerhin dadurch beeinträchtigt, dass eine solche
Aenderung aufgenommen, erlitten werden muss. Der Vertrag
beseitigt dieses Misstrauen und diese Besorgniss; er zerstreut den
Anschein des Fremden von dem Andern.
Der Vertrag ist ein Anspruch; ein Anspruch des Rechts, den
ich an den Andern erhebe. Ein solcher Rechtsanspruch, zum
mindesten als Gerichtsanspruch, ist ja die Rechtshandlung über-
haupt (Actio). Der Vertrag macht nun aus dem Anspruch
die Ansprache. Und daher verwandelt sich der Andere
zum Ich in Du. Du ist nicht Er. Er wäre der Andere. Er
kommt in Gefahr, auch als Es behandelt zu werden. Du und
Ich gehören schlechterdings zusammen. Ich kann nicht
Du sagen, ohne dich auf mich zu beziehen; ohne dich in dieser
Beziehung mit dem Ich zu vereinigen.
Aber es liegt darin zugleich die gesteigerte Forderung: dass
ich auch nicht Ich denken kann, ohne dich zu denken. So hat
der Andere im Selbstbewusstsein sich gleichsam in den Dualis
des Ich verwandelt. Wenn das Selbstbewusstsein die Einheit des
Willens zu bedeuten hat, so muss sie die Vereinigung von Ich
und Du bilden. Der Wille vereinigt mich und dich; dich
und mich. Diese Einheit bedeutet die Aufgabe des
Selbstbewusstseins.
Das ist der Fortschritt des Andern zum Du. Und
diesen Forschritt betätigt die juristische Fiktion. So bewährt
sich die juristische Person als die moralische Person. Und diese
Realität der moralischen Person stellt der Staat dar, als Aufgabe
des Selbstbewusstseins. Dieses Selbstbewusstsein ist die Ver-
einigung von Ich nnd Du, welche die Rechtshandlung des Ver-
trages vollzieht. Dieser Vertrag ist nicht ein Versuch der Willkür
und des Experiments; sondern er ist die Bedingung, die not-
wendige und die zureichende Bedingung für den Vollzug des
Selbstbewusstseins. Im Staate wird das Ich zur reinsten
236 Der Unterschied von Staat und Volk.
Entfaltung gebracht, indem der Andere zum Du ver-
wandelt wird.
Auf Grund dieser Aufgabe des Selbstbewusstseins, in welcher
die Einheit des Staatswillens besteht, beruht die Macht, der
scheinbare Zwang des Staates; der vielmehr nur sein Recht ist.
Darauf werden wir in anderem Zusammenhange genauer einzu-
gehen haben. Hier ist nur auf das Selbstbewusstsein zu achten,
welches der Staatswille vollbringt. Und nur dies allenfalls mag
noch beachtet werden, dass aus dieser Correlation von Ich und
Du, die er vollzieht, seine Competenz zu Gesetzen und Ver-
ordnungen herfliesst, welche ebenfalls in der Form dieser
Correlation ergehen: Ich will; Du sollst. Das Soll geht uns hier
noch nicht an; nur das Ich und Du sei schon mitbeachtet
So haben wir denn den einzigen Inhalt des reinen Willens,
das Selbstbewusstsein, aus dem juristischen Begriffe der Genossen-
schaft hergenommen; die Gemeinschaft aber zurückgewiesen.
Genossenschaft und Gemeinschaft sind unvergleichbare
Begriffe. Genossenschaft ist ein methodischer Grundbegriff der
Rechtswissenschaft; Gemeinschaft dagegen ein vieldeutiger Um-
fangsbegriff. Die Genossenschaft dient der Methodik der juristischen
Person, mithin der desSelbstbewusstseins. Die Gemeinschaft dagegen
führt nicht auf geradem, sicherem Wege zum Selbstbewusstsein;
sie wird von dem Affekte beflügelt und geleitet. Der Affekt aber
kann nicht nur die Gemeinschaft nicht als Einheit sichern,
sondern sogar das Individuum lässt er in ihr im Stiche; während
es doch für das Selbstbewusstsein erhalten werden muss.
So entsteht uns hier der Unterschied von Staat und Volk.
Das Volk bildet eine echte Gemeinschaft; als solche aber eine
relative. Und alle Gefahren und Zweideutigkeiten der Relativität
sind daher mit dem Begriffe des Volks behaftet. Wir sind schon
bei dem Begriffe des Vaterlands und seinen zwei Seiten, nach
Aussen und nach Innen, dagegen behutsam geworden. Die Ge-
schichte, die Politik und die Rechtswissenschaft, sie alle lassen die
Mängel und Gefahren dieser Relativität erkennen. Am genauesten
aber zeigt das Recht, wie der Volksbegriff, als Grundlage, zurück-
steht gegen den Staatsbegriff.
Die historische Rechtsschule leitet das Recht aus dem
Volksgeiste ab. Ehe wir den positiven Sinn dieser Ansicht
Die rechtshistorische Theorie vom Volksgeist. 237
bedenken, beachten wir die negative Ansicht, welche dadurch
abgewehrt werden soll. Es ist dies die Vertragstheorie, deren
ethischen Sinn wir an der Hand des Rechts begründen konnten.
In der Tat erkennt Savigny für das gesamte Recht den Vertrag
als die Grundlage an. Der Staat dagegen, sofern in ihm das
Recht substantiiert wird, soll nicht auf dem Vertrage beruhen;
und daher soll es nun auch das Recht nicht, welches aus der Sub-
stanz des Staates sich entfaltet; obwohl es doch mit dem Ver-
trage, als mit seinem methodischen Grundmittel, operiert.
Es muss offenbar ein doppelter Sinn sein, der hier bei dem
Worte Vertrag obwaltet. Savigny versteht unter dem Vertrage
den er als die Grundlage des Staates und des Rechtes abweist,
die „individuelle Willkür", die er dabei voraussetzt; während
der Mensch „durch die Geburt Glied eines Volkes und zugleich
eines Staates, welcher nur die Erscheinung des Volkes in be-
stimmter Rechtsform ist**, sei. So wird einerseits Volk und
Staat unterschieden, andrerseits gleichgesetzt. Der Mensch soll
nicht im rechtlichen und ethischen Sinne zum Menschen werden
als Glied des Staates, sondern als Glied eines Volkes; und da-
durch werde er zugleich, aber auch dadurch erst, Glied eines
Staates. Schon dadurch wird Staat und Volk ebenso einander
gleichgesetzt, wie von einander unterschieden.
Und der Nachsatz wiederholt dieselbe Doppelform. Der
Staat sei nur die Erscheinung des Volkes in bestimmter Rechts-
form. Dadurch aber tritt auch das Recht in die Correlation ein.
Obwohl sonach der Staat an die Rechtsform gebunden ist, das
Recht aber sich auf den Vertrag reduciert, soll dennoch der
Staat nicht auf dem Vertrage beruhen, sondern worauf denn?
Auf dem Volke. So jedoch wird freilich der Gegensatz nicht aus-
gedrückt.
Wenn er so ausgedrückt würde, so würde eine zu sehr
offenliegende Discrepanz zum Ausdruck kommen. Recht und
Staat sind Gebilde des Geistes; das Volk dagegen ist ein Produkt
der Natur. Wie könnte man auch den Naturbegriff des Volkes
mit dem religiösen Gedanken von dem ..Ganzen der Menschheit"
in Verknüpfung bringen, den doch Savigny nicht fallen gelassen
hat, obwohl er die feine Consequenz begeht, den Einzelnen an
dieses Ganze der Menschheit anzuknüpfen, und zwar „noch ehe
238 Hegels aUgemeiner Geist.
er ein Bewusstsein davon haben kann." So wird die Mensch-
heit dem Volke schon in die Wiege gelegt. Indessen durfte es
doch wohl bei diesem Unbewussten sein Bewenden nicht
behalten.
So ist aus dem Volke der „Volksgeist*" geworden. Also
das Naturgewächs des Volkes sollte doch nicht ausschliesslich
als Urheber und Schöpfer von Recht und Staat anerkannt werden.
Das Volk musste in den Volksgeist sublimiert werden. Indessen
ist dadurch das Problem nur schwieriger und flagranter geworden.
Ist das Volk an und für sich Geist; und hat es Geist? Worin
unterscheidet sich dieser Volksgeist alsdann von den mythischen
Begriffen des Genius und der Penaten? Der ethische Begriff des
Geistes, und einen andern darf es nicht geben — der theoretische
selbst erschöpft ihn nicht — der ethische Begriff des Geistes ist
auf die Aufgabe des Selbstbewusstseins als Staat verwiesen; der
Naturbegriff des Volkes kann dagegen auch in der Hypostasierung
zum Volksgeiste nicht als der Schöpfer, nicht als der Träger dieser
Aufgabe gelten. Die historische Rechtsschule wurzelt in
einem Naturalismus, der sich nach der üblichen Art
des Spiritualismus als solchen ausstattet und darstellt
Der Volksgeist wird nur scheinbar etwas Anderes in
Hegels allgemeinem Geiste. Auch dieser allgemeine Geist
hat seine Realität in der Wirklichkeit der einzelnen Volksgeister.
Und wie das Recht die Ausgeburt des einzelnen Volksgeistes ist,
so hätte die Rechtsphilosophie zu ihrem Inhalte die Darstellung
dieser Ausgeburten der einzelnen Volksgeister. Das ist die An-
sicht, welche Lassalle von dem Problem der Rechtsphilosophie
hat; und ihr zufolge urteilt er über die Rechtsphilosophie Hegels.
Sie habe nicht dieselbe Ausführung gewonnen, wie seine Reli-
gionsphilosophie, in welcher die Geschichte der religiösen Ent-
wickelung bei den einzelnen Völkern dargestellt werde. Solche
Aufgabe sei auch der Rechtsphilosophie zu stellen.
Danach aber würde sich die Rechtsphilosophie in eine ver-
gleichende Rechtsgeschichte auflösen. Lassalle hat nur deshalb
diese Consequenz nicht gezogen, und dadurch seine Ansicht sich
nicht selbst berichtigt, weil er in seinem System der er-
worbenen Rechte den Gedanken demonstriert zu haben glaubte,
dass eine logische Beleuchtung, geschweige eine allgemeine ver-
Lassalles Vertauschung von Logik und Ethik. 239
gleichende Würdigung der Rechtsgescbichte ohne die Leitung
der Philosophie, ohne die Kategorieen der Logik sich nicht
durchführen lasse. Immer aber bleibt es auch für ihn bei
der Logik. Dass es sich um Ethik dabei handele, und nicht
allein um Logik, dieser Wendepunkt des Problems geht auch
ihm nicht auf; obwohl er doch Recht und Staat reformieren
und umwälzen will. Dass dieses Beginnen ein Problem der Ethik
sein müsse, das sieht er nicht ein. In Hegel befangen, sieht er
in der Welt des Geistes nur die Welt des Begriffs; und die
dialektische Bewegung des Begrijffs ist auch für ihn die Welt-
geschichte, die Geschichte des sittlichen Geistes.
Das ist der Grund und die Wurzel des Materialismus,
in welcher der Materialismus der Geschichtsansicht
gegründet ist, welche zum tiefen Schaden der Sache alle
sozialistischen Gedankenkreise beherrscht. Auch der
logische Begriff bleibt Materialismus, wie es der Begriff des
Volksgeistes ist, wenn er nicht fortgeführt wird zum ethischen
Begriffe, auf dem allein Recht und Staat gegründet werden kann;
wenn anders in ihm in Recht und Staat und somit letztlich im
Staate das Selbstbewusstsein zur Ausgestaltung, zur Ausreifung,
zur Ausprägung gelangen soll.
So gehen Naturalismus und Materialismus Hand in Hand,
obwohl sie in andere, in feindliche Richtungen auseinander-
gehen. Aus dem allgemeinen Geiste ist die Reform hervor-
gegangen, welche machtvoll und trotzig an die Revolution an-
pocht. Aus dem Volksgeiste aber ist die Romantik, ist die
Reaktion hervorgegangen, gegen welche der Sozialismus in die
Schranken trat. Die Romantik hat sich hinter den Affekt ge-
flüchtet; denn im Unterschiede von dem Staatsrechte, als der Auf-
gabe des einheitlichen Selbstbewusstseins des Staatswillens, ist
auch das Vaterland nichts Anderes als der Naturtrieb, der mit
allen Zweideutigkeiten eines solchen behaftet ist.
Im Volksbegriffe selbst, als dem Begriffe des Vaterlandes,
liegt nicht die unabweisliche Mahnung, alle Glieder des Volkes
ohne Ausnahme und ohne Unterschied zu Teilhabern und zu
Urhebern des Rechtes und des Staates zu machen und auszu-
bilden. Angesichts des Volksbegriffes drückt man die Augen zu
über die ständischen Unterschiede, die er geschichtlich erfahre.
240 Der Begriff des Sozialismus.
und also auch wohl natürlich zulasse. Der Staalsl)egriff hingegen
entlarvt diese Romantik als eine der Aufgabe der Ethik höhn-
sprechende Heuchelei, l'nter der Leitung des Vertrages wird
der Andere nicht nur zum andern Ich, sondern zur andern
Hälfte des Ich; während er unter dem Schutze der Vaterlands*
liebe der Andere bleibt, von dem der Dichter sagt: den ich Heb'
und nicht kenne; man versteht darunter: nicht kennen will.
Im Gegensatze zu solcher Romantik, welche mit dem
heiligen Worte der Vaterlandsliebe Verraterei treibt, hat der
Sozialismus an einen Begriff der (lenossenschaft angeknüpft: ah
ob er von dem dunkeln (iefühl getrieben worden wiirc, den
Geruch der Gemeinschaft zu scheuen. Diese Bedeutung der
Genossenschaft hat der Begriff der Gesellschaft: und in
dieser Bedeutung, als eine Form der (lenossenschaÜ, verflicht rr
den Gegensatz gegen den Staat. Das scheint eine Paradox ie. Kt
es doch der Staat, auf den der Sozialismus hinsteuert. Und das
ist ja die (lorrectur, welche Lassalle in einem scheinbaren
Widerspruche, in der Vereinigung seiner beiden philosophisi*hen
(lewährsmänner darstellt und vollzieht. Er beruft sich auf
Fichte und zugleich auf Hegel.
Bei Fichte ist der treibende (uHiunke der des Volks. Das
ist der Naturalismus in ihm, und so liildet er die eigentliche
Wurzel der Romantik. Er gründet daher die ethische Fort-
bildung aul die Nationalerziehung. Hegel dag€*gen erkennt
die Substanz der Sittlichkeit im Staate an. DiescT (ii*<ianke. der
die eigentliche Philosophie Hegels, seine ges(*hichlliche Ansicht
der Welt leitet, bildete die Anziehung für Lassalle. So verbinden
sich im Sozialismus der Begriff des Volkes und des Staates;
vielmehr wird so der Volksbegriff durch den Staatsbegriff
berichtigt und erfüllt.
l'nd damit man nur ja nicht den Staat mit dem Volke ver*
wechsele, wird dem Ik-griffe des Staates, im scheinliaren Wider«
Spruch zu Hegel, der Bi'grilf der Gesellschaft entgegengestellt.
Der Wicierspruch ist nur scheinbar. Denn es ist der romantische
StaatslM*grtff, der auf der geschichtlich absoluten (ft^mein-
Schaft des Volkes beruht, ge^en welchen der ik*griff der Gesc*ll-
schaft aufgelioten wird. In Wahrheit ul>er l>edeutet die Ctescil*
Schaft nichts Anderes als den methodischen Begriff der (ienossen*
Die nationale Idee. 241
Schaft, der daher durch sie erneuert, verjüngt, zu erweiterter
Wirksamkeit lebendig gemacht wird. Es steht also gar nicht so,
dass durch die Gesellschaft der Staat berichtigt werden sollte,
sondern es ist der echte Staatsbegriff, der in dem Be-
griffe der Gesellschaft enthüllt und beseelt werden soll.
So klärt sich der Schein des Gegensatzes , welchen der
Sozialismus gegen den Patriotismus bildet. Es ist das höhere
Recht des Staates, welches er aufbringt gegen das zweideutige,
zweischneidige Recht, welches der Affekt der Vaterlandsliebe und
der nationale Absolutismus austeilt. Der Begriff des
Volkes hat nur methodische Bedeutung für den Begriff
des Staates. In diesem geschichtlichen Sinne hat sich die
nationale Idee als ein Wegweiser der Staatenbildung
erwiesen; aber nur in dieser methodischen Einschränkung besteht
ihr Heilverfahren; ausserhalb derselben artet sie zum Gifte des
Nationalismus und des Rassendünkels aus.
Die nationale Idee bedeutet und bezeichnet den Wegweiser
zur Einheit des Staates. Die Völker bleiben Stämme, und wenn
sie noch so volkreich wären, wenn sie sich nicht in einem Staat
zu vereinigen bestreben. Der Staatsbegriff ist der ethische
Kulturbegriff. Er bildet das Ziel der geschichtlichen Ent-
wickelung. Der nationale Begriff ist förderlich und zulässig als
ein Mittel zu diesem Ziele; und dieses Mittel braucht nicht aus
einem falschen Verdacht des Naturalismus verschmäht zu werden.
Sobald jedoch der Volksbegriff selbständig und absolut wird, so
wird er barbarisch. Und es gibt ein sicheres Kennzeichen dafür,
dass dieses Urteil nicht ungerecht, noch unbillig ist. Dieses
Kennzeichen besteht und erneuert sich unaufhörlich in dem
Widerspruch, den der Nationalismus gegen die Staatsidee bildet
und erhebt. Der Nationalismus wird zum Anarchismus.
Dieser aber besteht, wie wir gesehen haben, in der Preisgabe des
Staatsbegriffs, als des Prinzips des ethischen Selbstbewusstseins.
Und auch der Nationalismus setzt sich über dieses Prinzip hin-
weg. Er macht sich zum Selbstzweck, während das Volk nur
das Mittel zum Staate ist.
Die Begeisterung für den Staat ist das Kennzeichen einer
wahrhaften Vaterlandsliebe; wie denn auch die Sehnsucht des
Patriotismus sich stets auf den Staat gerichtet hat. An der
^2 Das politische Selbstbewusstsein
germanischen Rasseneinheit hat es dem deutsclien Volke nirnials
gefehlt; und auch eine geographische Kinheit war ihm besi*hieden
geblieben trotz allen Duodez -Fürstentümern. Woran es al>cr
gefehlt hatte, das war die Einheit des Staates. Und auf diese
Kealitat des Staates hatte sich die glühende Vaterlandsliebe Jahr-
hunderte lang gerichtet. Nicht anders ging es bei den Italienern.
Und noch lehrreicher ist das Beispiel der Franzosen, welche
durch ihren Staat sogar erst zu einem Volke geworden sind. S<i
bildet der Staat die entscheidende Widerlegung gegen das angeb-
liche Recht des Anarchismus.
Indessen liegt diese Krafl des Staates in seiner ethisehen
Bedeutung, als Aufgabe des Selbstbewu.sstseins. Und wie es im
BegrifTe der Aufgabe liegt, dass sie zugleich die Mittel ihrer Be-
handlung und ihrer Lösung in ihrer Methodik enthalten nuiss
.So auch enthält der Staat die Aufgatn* und ihre Lösung in sich.
Nur der Staat stellt das Selbstbewusstsein des Menschen
dar. Unter der Leitung des StaatsbegrifTs der juristisehen IVimhi
lerne ich es vei^stehen und ausüben, <lass icli nicht in meiner
natürlichen Individualita'it das Si*lbstbewusstsein des Willens
producieren kann; und auch nicht darin, dass ich mich in Liebe
tmd Kntbusjasmus zu den Stufen relativer (iemeinschalt /u
erweitern trachte; sondern <ladurch allein, dass ich in derjenigen
Bestimmtheit und Fxakiheit, welche das Recht allein ermöglicht,
und gemäss derjenigen .\llheit, welche der Staat allein als Hin-
heil >oll/.ieht. alles .Selbstischen mich begebe, und mein Ich nur
in der Korrelation \on Ich un<l Du denken und wollen lerne
/u diesem lA*rnen gebort theon*tische Kultur. Und indem
der Staat mehr und besser, als Volk und Kirche dies tun. die
theoretische Kultur in seine Befugnisse aufnimmt, wie dies
die Aufgabe des SelbsIbewnssNeins \or/ugs\\eise fordert, so dient
er dadurcii auch der Liebe /u Volk und Vaterlantl. Die Vater-
landsliebe ist tmmeidar eiiu* Blute der nationalen Kultur
Diesen Anteil darf nuin auch der Romantik M*lbst an «ler
Kultur, >^eil an der \alerlan<iisclien (tesiniiunK. nicht lK*streiteii
Aber in ihr hat die theoretische Kultur nicht ihre Wur/el. sie
scnmnckt sich «labei nur mit fremden Bhunen und Fruchten
Die echte theoretische Kultur ist ursprunglich unti selbstandu.
und sie l.isst die sittliche Kultur aus si(*li erst erwachsen Das
Chamisso. 243
ethische Selbstbewusstsein hat das wissenschaftliche Denken zur
Vorbedingung. Den Gipfel aber, in dem die theoretische und
die sittliche Kultur zusammenkommen, bildet der Staat; nicht das
Volk. Die nationale Kultur, auch die Poesie und Literatur, wie
die Philosophie, sind auf die Einheit des Staates gerichtet; wenn-
gleich es scheinen mag, als ob der nationalen Poesie der politische
Gedanke fern läge. Vielmehr ist er um so lebendiger und
mächtiger in dem humanitären, weltbürgerlichen Geiste, der ihr
eigen ist, verborgen und geborgen. Diese Freiheit des staatlichen
Volkstums gegenüber dem nationalen Naturalismus stellt, wie ein
ethisches Musterbild, Chamisso dar, der, Franzose von Geburt,
als wissenschaftlicher Botaniker und als Kantischer Philosoph
ein deutscher Dichter geworden ist.
irt*
Fünftes Kapitel.
Das Gesetz des Selbstbewusstseins.
Das Selbstbewusstsein ist als der einzige, der entscheidende,
der centrale Inhalt des reinen Willens nunmehr erkannt. Das
Ich des reinen Willens ist das Selbst. Und darin besteht der
Unterschied zwischen Selbst und Ich, dass das Ich, als das Subjekt
des reinen Denkens, sein Correlat im Objekt hat. Im reinen
Wollen dagegen fallen Subjekt und Objekt zusammen. Das Ich
ist nur ein Teil, eine Seite, eine Richtung des Du. Es gibt im
reinen Wollen kein Ich ohne Du. Dieses Du ist der unmittel-
bare Ausdruck des Objekts; und was von ihm gilt, das lässt sich
auf alle Art des Objekts übertragen. Der Gegenstand, auf den
der reine Wille gerichtet ist, ist schlechthin Vereinigung, Identität
von Subjekt und Objekt. Diesen Unterschied vom Ich gegenüber
dem Objekt bezeichnet das Selbst.
Es kommt daher bei dem Ausdruck Selbstbewusstsein nicht
sowohl auf das Bewusstsein an, als auf das Selbst. Die An-
knüpfung an das Bewusstsein muss freilich begründet sein. Sie
rechtfertigt sich genugsam durch die Hypothese der Möglich-
keit, welche unserer Logik gemäss das Bewusstsein bedeutet.
Es ist eben gar nichts Anderes als die neue Möglichkeit des
reinen Willens, und also des Selbst im Unterschiede vom Ich,
welche durch das Selbstbewusstsein erschlossen und errichtet
wird. Die Erschliessung der Möglichkeit wird durch das Be-
Der Wille zum Selbst. 245
wusstsein bezeichnet; die Errichtung der Sittlichkeit im reinen
Willen durch das Selbst. So bedeutet das Selbstbewusstsein
die Möglichkeit des Selbst.
Das Bewusstsein tritt zurück; das will sagen, es handele
sich jetzt nicht mehr eigentlich um Erkenntniss, sondern eben
um Willen. Der Unterschied zwischen Willen und Erkenntniss
besteht nun aber nicht nur in dem verschiedenen Verhältniss des
Subjekts zum Objekt, wie wir es soeben an dem Unterschiede
von Ich und Selbst bestimmt haben. Wir haben vielmehr von
Anfang an mit dem Begriffe der Aufgabe operiert, und an ihr
den Unterschied vom Gegenstande erörtert. Aber dass das Selbst-
bewusstsein im letzten und im höchsten Sinne nur Aufgabe sei,
das war bisher noch nicht zur nachdrücklichen Aussprache
gekommen. Und doch kommt Alles auf diese genaue Einsicht
an. Wenn wir jetzt sehen, dass es sich bei dem Selbstbewusst-
sein keineswegs im psychologischen, sondern nur im methodischen
Sinne um Bewusstsein handelt, so können wir auch sagen, das
Selbstbewusstsein bedeute den Selbstwillen; das heisst
aber: den Willen zum Selbst.
Das Selbst ist nicht etwa die psychologisch gegebene
Xaturkraft, welche den Willen hervorbringt; und wäre sie noch
so primitiv als eine verborgene Naturmacht und Anlage gedacht;
sondern es ist immer nur die Aufgabe, welche, als solche, so das
Subjekt, wie das Objekt des reinen Wollens bildet. Wie ist nun
aber die Aufgabe nach dieser ihrer anspruchsvollen Bedeutung
am Selbstbewusstsein durchzuführen, und mit der Forderung
und auch mit der Evidenz des Selbstbewusstseins zu vereinbaren'?
Wir können die Frage auch in anderer Anknüpfung ent-
wickeln. Das Erzeugniss und das Zeugniss des reinen Willens ist
die Handlung. Ihr entspricht, ihr entspringt das Selbstbewusst-
sein. Das Selbstbewusstsein vollzieht sich, entfaltet sich in der
Handlung. Mehr und deutlicher als der Wille stellt die Hand-
lung die Erzeugung des Selbstbewusstseins dar. Wenn man nun
fragen wollte: wo und wie ist das Selbstbewusstsein ohne die
Handlung, ausserhalb der Handlung vorhanden? so würde diese
Frage sich kennzeichnen als ein Ausdruck des Vorurteils vom
psychologischen Ich, welches allenfalls auf das theoretische Ich
passen mag, gar nicht aber auf das wollende; denn dieses ist
246 Die Aufgabe des Selbstbewusstseins im Staate.
immerdar nur als Aufgabe zu denken; niemals aber als ein
psychologischer Quell und Herd, als eine Macht und Kraft des
sogenannten Bewusstseins.
Aber eine andere Frage kann von hier aus noch immer
auftauchen. Auch die Aufgabe kann als eine solche Zwangs-
auf gäbe gedacht werden, welche der fundamentalen psycho-
logischen Deßnition entspricht. Sie wurzelt in der Tendenz, also
in der Eigenart des reinen Denkens der Bewegung. Und nur der
Fortschritt voi> Tendenz zu Tendenz macht das Denken zur Be-
wegung, und demzufolge den Inhalt des Denkens zur Aufgal)e;
also zum Inhalt und Gegenstand des Willens. Es kommt hinzu,
dass der Affekt, als das Convolut von Gefühlsannexen und
Gefühlssufflxen, in die Verbindung eintritt. So könnte die Meinung
entstehen, dass dem Begriffe der Aufgabe Genüge geschehe, wenn
sie gemäss diesen Definitionen als eine psychologische Tatsache
gedacht würde, wobei doch die ethische Definition der Psycho-
logie gegenüber die Selbständigkeit vertreten würde. Immerhin
aber würde der Begriff der Aufgabe alsdann nur in dem des
reinen Willens begründet sein, und nur folgeweise auf das Selbst-
bewusstsein erstreckt werden. Der Begriff der Aufgabe hat sich
jedoch nicht nur als solche Consequenz für das Selbstbewusstscin
zu bewähren. Diese neue Bedeutung ist jetzt zu ermitteln.
Wir haben das genaue methodische Verhältniss des
Selbstbewusstseins zum Staatsbegriffe erkannt und fest-
gestellt. Der Staat bildet nicht nur das Musterbeispiel für das
Selbstbewusstsein der moralischen Person, sondern zugleich den
Leitbegriff und den Zielbegriff des ethischen Selbstbewusstseins.
Wo und wie vollzieht denn nun aber der Staat die Auf-
gabe seines Selbstbewusstseins? Das Selbstbewusstsein und
das Selbst sind hier offenbar lediglich ideal; man vermisst nicht
den Stoffwechsel; oder man sollte ihn wenigstens nicht ver-
missen, aus dem dieses Willensgetriebe resultierte. Aber wenn
das Selbstbewusstsein hier durchaus als Aufgabe sich darstellt,
so bleibt doch die Frage, wie diese Aufgabe in Vollzug komme;
wie dieser Vollzug zu denken und zu definieren sei. Wir wissen,
dass das Selbstbewusstsein am praegnantesten sich in der Hand-
lung vollzieht. Wie vollzieht sich denn nun im Staate die
Handlung? In welcher begrifflichen Fassung lässt ^sich die
Das Gesetz und das Sollen. 247
Handlung, in welcher der Staat die Aufgabe des Selbstbewusst-
seins entfaltet, mittelst welchen Begriffs lässt sich diese Handlung
fixieren und verwirklichen?
Wir kommen hier auf einen neuen Begrifi, auf den des
Gesetzes. Die Handlungen des Staates bestehen in Ge-
setzen. Die Aufgabe muss als Gesetz gedacht und bestimmt
werden. Der Wille des Staats bekundet sich in Gesetzen. Das
Selbstbewusstsein des Staates muss daher in den Gesetzen, als
seinen Handlungen, sich vollziehen und entfalten. Die Gesetze
sind seine Aufgaben. In ihnen besteht die Aufgabe des Selbst-
bewussiseins. Der Begriff der Aufgabe wurde nicht erschöpft
innerhalb der Construktion des reinen Willens; und so ist auch
durch diese Construktion die Methode nicht erschöpft worden,
das Selbstbewusstsein zu erzeugen. Der methodische Begriff des
Gesetzes muss hinzukommen; die Aufgabe mu^ss zum Gesetze
werden, wenn das Selbstbewusstsein zum LeitbegrifT werden soll
für alle Rechtsfragen; für die des Eigentums, wie die der
persönlichen Ehre und die des persönlichen Gefühls. Da ent-
steht nun vor Allem die Frage: warum haben wir dieses Wort,
dieses Grundwort aller Kultur bisher vermieden?
Die nächste Antwort könnte in dem Hinweis gefunden
werden auf die schon mehrmals erwogene Schwierigkeit, die in
Kants Begriffe des Sollens im Unterschiede vom Sein liegt.
Gerade weil das Sollen eine Art des Seins nichtsdestoweniger zu
bedeuten und zu vertreten hat, wie Kant das Reich der Sittlich-
keti in diesem Sollen realisiert, gerade darum wird der Begriff
des Gesetzes für das Selbstbewusstsein von nicht unmittelbar
einleuchtender Bedeutung. Man denkt das Gesetz danach zumeist
als Grundgesetz, als die Verfassung des Reiches der Sitten; mit-
hin als das Analogon zum Grundgesetze der Natur, und somit
zur Natur selbst. Dadurch aber taucht wiederum die Zweideutig-
keit auf, die in dem Naturgesetze liegt, und die das Gesetz
daher als ein Gesetz in meinen Gliedern erscheinen lässt. So
wird aus dem ersten Momente, dass das Gesetz die Verfassung
und das Reich der Sittlichkeit bedeute, weil gewährleiste, unver-
sehens das andere Moment, dass das Gesetz ein Naturgesetz des
Bewusstseins sei. Dadurch aber wird der methodische Idealismus
der Ethik von Grund aus verwirrt und gelähmt.
246 Die Aufgabe des Selbstbewusstseins im Staate.
immerdar nur als Aufgabe zu denken; niemals al>er als ein
psychologischer Quell und Herd, als eine Macht und Krafl de>
sogenannten Bewusstseins.
AIht eine andere Frage kann von hier aus noch immer
auRauchen. Auch die Aufgabe kann als eine solche Zwangs*
aufgäbe gedacht werden, welche der fundamentalen |>sycho-
logischen Definition entspricht. Sie wurzelt in der Tendenz, al%o
in der Fligenart des reinen Denkens der Bewegung. Tnd nur der
Fortschritt voij Tendenz zu Tendenz macht das Denken zur Be-
wegung, un<l demzufolge den Inhalt des Denkens zur Aufgal>e:
also zum Inhalt und Gegenstand des Willens. Hs kommt hinzo,
dass der Affekt^ als das (lonvolut von (lefühlsannexen und
(•etuhlssuflixen, in die Verbindung eintritt. So k«~>nnte die Meinung
entstehen, dass dem Begriffe der Aufgabe (ienüge geschehe, wenn
sie gemäss diesen IX'finitionen als eine psychologische Tatsache
gedacht würde, wolK'i doch die ethische Definition der INvcho-
logie gegeniiiHT die «Selbständigkeit vertreten würde. Immerhin
al>er wünle der Begriff der Aufgala* alsdann nur in dem des
reinen Willens begründet s^'in, und nur folgeweise auf das Sell»st-
Im'wussImmu erstreckt werden. Der Begrill der Aufgal>e hat sich
jeilm-h nicht nur als solche (lonsequen/ für das Si*lbsttM*wusstM*in
7U iK'wahren. Diese neue Bedeutung ist jet/t zu ermitteln.
Wir haben das genaue methodische Verhältnis» des
Selbstbewusstseins zum Slaatsbegriffe erkannt und fest-
gt*strlll IXt Staat bildet nicht nur das MusteriHMspiel für das
Selbstl^ewusstsein der moralischen l*ers<m, sondern zugleich den
Leitlh'jiriff uml den ZiellH'grilT des ethisi^hen S*»lbstlievusstseins
Wo und wie \ollzieht denn nun aber der Staat die Aul-
gäbe seines Selbstbewusstseins*' Das Si*li)sllM*wusstM*in und
das Vibsi sind hier olTenbar lediglich ideal; man vermisst nicht
den .St<»t1>%tvtisel; cnler man sollte ihn wenigstens nicht %er-
nusxen, aus «lein dieses Willensi«etnelK» n*su liierte. Alter wenn
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HaiittUin^' In welcher iHviiMlulieii r\iN>iin^ lasxi sich die
Das Gesetz und das Sollen. 247
Handlung, in welcher der Staat die Aufgabe des Selbstbewusst-
scins entfaltet, mittelst welchen Begritfs lässt sich diese Handlung
fixieren und verwirklichen?
Wir kommen hier auf einen neuen Begriff, auf den des
Gesetzes. Die Handlungen des Staates bestehen in Ge-
setzen. Die Aufgabe muss als Gesetz gedacht und bestimmt
werden. Der Wille des Staats bekundet sich in Gesetzen. Das
Selbstbewusstsein des Staates muss daher in den Gesetzen, als
seinen Handlungen, sich vollziehen und entfalten. Die Gesetze
sind seine Aufgaben. In ihnen besteht die Aufgabe des Selbst-
bewusstseins. Der Begriff der Aufgabe wurde nicht erschöpft
innerhalb der Construktion des reinen Willens; und so ist auch
durch diese Construktion die Methode nicht erschöpft worden,
das Selbstbewusstsein zu erzeugen. Der methodische Begriff des
Gesetzes muss hinzukommen; die Aufgabe muss zum Gesetze
werden, wenn das Selbstbewusstsein zum Leitbegriff werden soll
für alle Rechtsfragen; für die des Eigentums, wie die der
persönlichen Ehre und die des persönlichen Gefühls. Da ent-
steht nun vor Allem die Frage: warum haben wir dieses Wort,
dieses Grundwort aller Kultur bisher vermieden?
Die nächste Antwort könnte in dem Hinweis gefunden
werden auf die schon mehrmals erwogene Schwierigkeit, die in
Kants Begriffe des Sollens im Unterschiede vom Sein liegt.
Gerade weil das Sollen eine Art des Seins nichtsdestoweniger zu
bedeuten und zu vertreten hat, wie Kant das Reich der Sittlich-
keti in diesem Sollen realisiert, gerade darum wird der Begriff
des Gesetzes für das Selbstbewusstsein von nicht unmittelbar
einleuchtender Bedeutung. Man denkt das Gesetz danach zumeist
als Grundgesetz, als die Verfassung des Reiches der Sitten; mit-
hin als das Analogon zum Grundgesetze der Natur, und somit
zur Natur selbst. Dadurch aber taucht wiederum die Zweideutig-
keit auf, die in dem Naturgesetze liegt, und die das Gesetz
daher als ein Gesetz in meinen Gliedern erscheinen lässt. So
wird aus dem ersten Momente, dass das Gesetz die Verfassung
und das Reich der Sittlichkeit bedeute, weil gewährleiste, unver-
sehens das andere Moment, dass das Gesetz ein Naturgesetz des
Bewusstseins sei. Dadurch aber wird der methodische Idealismus
der Ethik von Grund aus verwirrt und gelähmt.
248 Die Satzung und die ungeschriebenen Gesetze.
Bei dem Gesetze, wie es hier gemeint ist, handelt es sich
aber nicht um die Einheit und den Inbegriff der Gesetze, den
das Grundgesetz, die Verfassung ausmacht; sondern um die
einzelnen Gesetze selber, in denen die Aufgaben des Staatswillens
sich bekunden und betätigen. Ohne Gesetze kein Wille, also
auch kein Selbstbewusstsein des Staates. Dieser Staatsbegriff
des Gesetzes muss der Leitbegriff werden für das persön-
liche Selbstbewusstsein. Das Gesetz unterscheidet die Auf-
gabe des reinen Willens von der psychologischen Aufgabe der
Tendenz, der Bewegung und der Begehrung. Indessen ist es
nicht diese Collision mit dem Naturbegrifte allein, welche den
Begriff des Gesetzes zweideutig macht; auch für das Recht selbst
ist er prinzipiellen Bedenken zu unterwerfen, die nicht nur auf
die Ethik auszudehnen sind; sondern die in der Ethik ent-
springen. Wir müssen auf das ganze Problem des Gesetzes, wie
es in der Logik entsteht, zurückblicken, um hier die richtige
Orientierung zu finden.
In der griechischen Kultur entstand der Gedanke des Gesetzes
keineswegs ursprünglich in der logischen Besinnung, wenigstens
nicht allein oder vorwiegend in ihr. Die theoretische Frage freilich
verknüpfte von vornherein den Gedanken des Gesetzes mit dem des
wissenschaftlichen Seins, mit der Substanz. Die Politik da-
gegen und die politische Reflexion und demgemäss das Drama,
in ihnen wird das Gesetz zum Grundbegriffe, um den sich alle
ihre Fragen und alle Kämpfe drehen und gruppieren. In der poli-
tischen Bedeutung stellt sich nun aber die Zweideutigkeit dieses
Begriffes schroff und unverkennbar bloss. Das Gesetz ist das Gesetzte,
die Satzung. Vernunft wird Unsinn; die Willkür wird Gesetz.
Daher entsteht der tiefe Gegensatz der ungeschriebenen
Gesetze gegen die geschriebenen. Man sieht, der Gedanke des
Gesetzes wird nicht fallen gelassen, sondern nur zurückverlegt
und im Geheimniss des Ursprungs geborgen. Das Gesetz bleibt
der Ankergrund der Sicherheit und der Gewissheit in allen Fähr-
nissen des politischen und des sittlichen Daseins. Der Be-*
deutung des Gesetzes gleich der Satzung tritt entgegen
die Bedeutung des Gesetzes gleich der Natur und der
Wahrheit. Und so ist der Begriff des Gesetzes in der neueren
Die einzelnen Gesetze. 249
Zeit zum Palladium der theoretischen Kultur geworden; und von
ihr aus erst auch zu dem der sittlichen und der politischen.
Wir sind soeben darauf aufmerksam geworden, dass wir
hier das Gesetz als einzelnes Gesetz in Anspruch nehmen, nicht
aber im Sinne des Grundgesetzes und der Verfassung. Wir
werden später zu erwägen haben, dass durch jene Analogie zur
Natur, welche letztere allerdings als die Verfassung der Gesetze
objektiviert wird, das Sein der Sittlichkeit in eine verhängnissvolle
Schwierigkeit versetzt wird; in eine doppelseitige, nämlich in
Mystik und in Skepsis. Wir werden dieser doppelten Schwierig-
keit zu begegnen suchen; und es wird daher dieser Versuch an
dem Begritfe des Gesetzes nach dieser seiner umfassenden Be-
deutung für das Reich des Sollens einzusetzen haben. An diese
Bedeutung des Gesetzes, als der Verfassung des sittlichen Reiches,
dürfen wir jetzt daher nicht denken; sondern nur an das
einzelne Gesetz, in dem der Staatswille sich entfaltet; und indem
demgemäss auch das Selbstbewusstsein des Hinzel willens sich zu
entfalten hat.
Man sollte denken, es könne nicht zweifelhaft sein, dass
das Gesetz für das Selbstbewusstsein des reinen Willens als der
unersetzliche LeitbegrilT gelten müsse. Wenn der reine Wille
und sein Selbstbewusstsein noch so genau und streng auf den
Staat orientiert ist, so sind die Collisionen mit der Willkür, der
vorübergehenden Stimmung und Wallung, und endlich mit der
nicht ausgereiften und abgeklärten Ansicht und Einsicht darum
nicht ausgeschlossen. An welchen Begriff soll sich die sittliche
üeberlegung heften, wenn sie zur Ueberzeugung und zur Ge-
sinnung sich hindurchringen will? Es ist nicht allein das unge-
schriebene Gesetz, auf welches die sittliche Arbeit zu recurrieren
hat; sondern es -bleibt trotz aller Mängel und Schwächen, mit
denen das geschriebene Gesetz otTenkundig behaftet ist, am
letzten Ende nichts Anderes übrig, als ihm sich zu unterwerfen
und seine Unverletzlichkeit zu bezeugen.
Das ist der ewige Sinn, den der Opfertod des Sokrates für
die sittliche Welt hat. In ihm wurde an einer Satzung ver-
blendeten Hasses einer verworrenen Generation nichtsdestoweniger
der Begriff des Gesetzes in seiner sittlichen Grundkraft beglaubigt.
Für die sittliche Welt ist jenes Gesetz Athenischer Bürger eine
260 Der Opfertod des Sokrates.
Lücke und ein Widerspruch; für das Selbstbewusslsein des
Sokrates war es der LeitbegrifF, der ihm zum reinen Willen und
zum Selbstbewusslsein verhalf. Und so vermochte er jene Lücke,
welche das Athenische Gesetz in der sittlichen Welt entstehen
Hess, durch seine Auslegung dieses Gesetzes auszufüllen. Er trat
in die Bresche, und er heilte den Riss, den jenes einzelne Gesetz
in das Gesamtgesetz der sittlichen Welt schlug. Das Verhältniss
kehrt sich scheinbar hier um: das Individuum wird zum Leit-
begriffe für den Staat. Aber das ist nur Schein ; aus dem Staats-
begriffe vielmehr strömte die Kraft des Gesetzes auf Sokrates
über. Er isolierte das einzelne Gesetz nicht nach seiner statistischen
Besonderheit; sondern er erkannte^und er ehrte in ihm die Majestät
des Staates und den Begriff des Gesetzes.
Daher ist dieses Martyrium von einer einzigartigen ethischen
Bedeutung. Es hatte keinen andern Zweck als den, das Gesetz
zu heiligen und in ihm die Sittlichkeit zu begründen. Und es
besteht hier ein klaffender Widerspruch zwischen dem Individuum
und der Gesamtheit, welche das Gesetz gegeben hat. Dennoch
sagt das Individuum: es ist mir nicht nur gegeben; sondern ich
erkenne es an; und ich unterwerfe mich ihm. Das ist die rechte
Erzeugung des Individuums. Es gibt kein anderes sicheres
Mittel, das Individuum zum Selbstbewusstsein zu bringen und es
von der Selbstsucht zu erlösen. Hier hatte Sokrates seinen Wahr-
spruch zu bezeugen: ich weiss, dass ich nicht weiss. Er durfte
nicht sagen: ich weiss, dass die Athener nicht wissen, was sie
tun; denn dann wäre er in die Collision geraten, in die ihn
Kriton hineinzieht, indem er ihn zum Verlassen des Kerkers
bereden will. Er weiss, dass er selbst unschuldig ist. Aber er
will nicht wissen, dass die Athener schuldig sind. Darum geht
er nach ihrem Gesetze, welches er zu seinem Gesetze macht, in
den Tod. Es gibt kein Selbstbewusstsein, welches ohne Rück-
sicht auf den Staat und ohne Leitung durch den Staatsgedanken
des Gesetzes zu gewinnen wäre.
Das ist der tiefe tragische Zug der Weltgeschichte, dass
durch die frechste Willkür und durch die grausamste Heuchelei
die Heiligkeit des Gesetzes verletzt und verlästert wird, und dass
die Edelsten dieser Anomalie zum Opfer fallen; aber die Schlechtig-
keit der Menschen darf uns nicht irre machen an der Idee der
Die Paradoxie im Gesetze. 251
Menschheit, an der Idee der Sittlichkeit, also an dem Problem des
reinen Willens und des Selbstbewusstseins. Der Frage nach der
Erklärung des Bösen in der Weltgeschichte werden wir nicht
ausweichen; nur hier darf sie uns nicht den Weg versperren;
hier gilt es die Richtung auf das Gute und seine Möglichkeit
einzuhalten; und das Gute in dem Guten, in dem Selbstbewusst-
sein des Guten zu begründen; in dem Selbstbewusstsein des
Gesetzes.
Auch wenn man von den Gesetzen des Staates und des
Rechtes abstrahiert, muss man eine feste Richtschnur für das
Wollen und das Handeln fordern, wenn ein Selbstbewusstsein
auch nur in dem gewöhnlichen Sinne der Einheit des Bewusst-
seins entstehen soll. Das ist es ja, was unter dem Begriffe des
Charakters in der besten Bedeutung des Wortes gemeint und
gesucht wird. Er soll die Einheit bedeuten, welche das Wollen
von seiner Zwiespältigkeit und Unberechenbarkeit befreit; welche
dem Handeln Sicherheit und Uebereinstimmung gibt. Indessen
ist aus dem Begriffe des Charakters dem des Gesetzes doch wieder
Gefahr erwachsen; denn mehr noch als das Gesetz ist der
Charakter von methodischen Schwierigkeiten durch flochten. Wir
gehen jedoch jetzt noch nicht auf die Erörterung des Charakters
ein; die Einheit, welche das Gesetz herstellen soll, braucht nicht
in dieser Richtung begründet zu werden.
Das Gesetz soll ja doch ein solches des reinen Willens sein.
Der Hauptunterschied muss demzufolge gegen alle Nuancen der
Begehrung und der Lust gerichtet werden; nicht minder auch
gegen die der Unlust, die wir nur in Mischung mit der Lust
kennen. Das ist nun eben der neue Weg, den hier das Prinzip
des Selbstbewusstseins führt: dass wir das Gesetz zuvörderst gar
nicht als das eigene Gesetz suchen, sondern als ein scheinbar
fremdes. Das ist die Paradoxie in diesem Begriffe des Selbst-
bewusstseins. Wir kennen kein Ich ohne Du; also auch kein
Selbst ohne Du oder Wir. Daher suchen wir auch das Gesetz
nicht im absoluten Ich. Die Frage, ob es ein selbstherrlich
eigenes sei, lassen wir uns einstweilen nicht anfechten; uns ist
mehr darum zu tun, die Gefahren, die Schleichwege und die
Schlupfwinkel des Egoismus auszuschalten. Gegen den Stoss
von Aussen sind wir durch die allgemeine Methodik der Hypo-
252 Das sittliche Gesetz nicht Naturgesetz.
thesis geschützt. Wie alles Gesetz, auch im logischen Sinne,
Hypothesis ist, so muss es auch hier gewiss nur als Grundlegung
zur Grundlage und Richtschnur gefordert werden.
Das Gesetz ist als die Grundlegung zu erkennen, welche
im Selbstbewusstsein gelegt wird. Die Aufgabe des Selbstbewusst-
seins ist ja doch die Hypothesis des Selbstbewusstseins. Und sie
bedeutet nichts Anderes als die Aufgabe, die Aufforderung zum
Selbst. So wird die Aufgabe des Selbstbewusstseins zum Gesetz
des Selbstbewusstseins, weil zur Grundlegung des Selbstbewusst-
seins. Da kann von keiner auswärtigen Aufgabe die Rede sein;
es ist vielmehr die innerste Entwickelung des Grundgedankens
der Hypothesis, welche in der Forderung des Gesetzes vollzogen
wird. Und es ist zugleich die deutlichste und natürlichste Ab-
lenkung von allem Selbstischen, Transitorischen, Wechselnden
des isolierten Individuums, die durch das Gesetz weitergeführt
und durchgeführt wird. Wie ich mein Selbst nicht im Ich,
sondern im Du und Wir nur finden kann, so kann ich die Auf-
gabe, die mir schon in der ersten Regung des Willens entsteht,
in der Handlung nur dadurch ausführen, dass ich das Selbst-
bewusstsein als Gesetz erkenne, wie ich es im Staate anzu-
erkennen habe.
Woher es komme, diese Frage geht mich in diesem Punkte
nichts weiter an. Woher es auch kommen mag, ich darf die
Richtung nicht verlieren, in die es sich erstreckt; ich muss die
Spur seines Laufes verfolgen; der Begriff des Gesetzes muss der
Leitstern meines Selbstbewusstseins bleiben. Nur dadurch kann
ich von dem Verdachte frei werden, dass ich mit allem meinem
Wollen und Tun doch nur in dem Zirkel des Stoffwechsels ver-
haftet bliebe; dass ich nur ein isoliertes Individuum wäre. Denn
das Gesetz bedeutet hier ja gerade das einzelne Gesetz; und
dennoch soll es den Begriff des Gesetzes unwidersprechlich ver-
treten dürfen. Das geht über die Befugniss eines Naturgesetzes,
welches die pathologischen Ausnahmen ausschliesst. Hier aber
soll das einzelne Gesetz in aller seiner Schlechtigkeit nichtsdesto-
weniger ein Symbol des ewigen und wahren Gesetzes sein. So
sieht man hieraus, dass der Begriff des Gesetzes, als des einzelnen
Gesetzes, notwendig und unersetzlich ist für den reinen Willen
und das Selbstbewusstsein.
Legalität und Moralität. 253
Indessen ist dem Begriffe des Gesetzes die grösste Schwierig-
keit gerade auf der Seite entstanden, auf welcher ihm seine tiefste
Begründung geworden war. Kant hat das Gesetz zum Schwer-
punkt der Ethik gemacht. Und dennoch hat er Legalität von
Moralität unterschieden. Die Moralität wurzelt im Gesetze;
al)er sie ist nicht Legalität. Man ersieht hieraus sofort, wie hin-
tallig der Verdacht ist, als ob das Gesetz die Ethik entnervte,
unselbständig und unfrei machte. Das wäre Legalität; das ist
nicht Moralität. Das Gesetz gerade unterscheidet die
Moralität von der Legalität. Bevor wir jedoch diesen Sinn
des Gesetzes weiter zu beleuchten und tiefer auszuschöpfen ver-
suchen, fragen wir nur vor Allem nach dem Sinne der Legalität.
Wohin trifft und zielt diese Pointe?
Geht sie auf die Religion, die statutarische, die nachdem
Buchstaben des göttlichen Wortes sich einrichtet und festbaut?
Das Hesse man sich gefallen; und in der Tat ist dies der Gesichts-
punkt, aus weichem Kant die Religionen nach Massgahe seiner
literarischen Kenntnisse von ihren Urkunden und ihrer Geschichte
beurteilt hat. Aber der Gegensatz bleibt nicht bei der Religion
stehen; sondern er erstreckt sie* auch auf das Recht. Und
hier wird er um so bedenklicher, als er für evident und für
unverdächtig gehalten wird. Es entsteht daraus nicht nur eine
schwere Zweideutigkeit für den Begriil des Rechtes und des
Staates, sondern zugleich eine nicht minder verhängnissvolle für
das ganze Problem der Ethik, gerade weil und insofern sie auf
dem Begriffe des Gesetzes beruht
Denn der Begriff des Gesetzes wird durch jene Legalität,
der die Moralität entgegengestellt wird, unwillkürlich und unver-
meidlich in Verdacht gebracht. Der Grundbegriff der Moralität
ist zugleich das Wort für das Widerspiel derselben. Eine solche
Zweideutigkeit darf dem Begriffe des Gesetzes nicht anhaften; sie
muss von ihm entfernt werden. Sie hat in der Tat keinen recht-
lichen und keinen philosophischen Ursprung, sondern einen un-
zweifelhaft religiösen. Sie entspringt der Polemik, welche
Paulus ander Mosaischen Lehre übt, die er als Gesetz bezeichnet
und kennzeichnet. Es tritt in der ursprünglichen Polemik gegen
das Gesetz mithin ein ganz anderer Begriff «luf, dessen Bedeutung
für die Sittlichkeit übrigens hier nicht in Frage kommen darf.
254 Die Form des Gesetzes.
Nur das Gesetz darf uns darum nicht verdächtig, aber auch nicht
zweideutig werden.
Wir befinden uns hier wieder an einem Wendepunkt der Ethik
in der Richtung zur Rechtsphilosophie. Kant hat diese als
die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von der
Ethik unterschieden; und zwar nicht nur in Bezug auf die
technische Ausfuhrung. Das Prinzip wird ein anderes. An die
Stelle des Sittengesetzes tritt der Zwang. Der Unterschied wird
um so härter, als eine Vereinbarung behauptet wird; Recht und
Befugniss zu zwingen bedeuten einerlei. Bevor wir nun die Be-
deutung dieses Zwanges für das Recht betrachten, wollen wir
nur erwägen, was dieser Unterschied für die Ethik ausmacht.
Man könnte denken, wenn die Legalität des Gesetzes so
gleichbedeutend wird mit dem Zwange des Rechtes, dass dadurcli
der Sinn des Gesetzes für die Ethik ausser Zweifel gestellt würde;
dass es als das schlechthin allgemeine Gesetz von der Maxime,
als dem subjektiven Bestimmungsgrunde, unterschieden w^rde.
Indessen wenn sonach das Sittengesetz, als das Gesetz der Gemein-
schaft und der Menschheit, aller Isoliertheit des Individuums
entgegentritt, worin unterscheidet es sich alsdann von dem Ge-
setze des Rechts, bei welchem es sich doch auch um Jedermann
handelt?
Es entsteht bei dieser Unterscheidung zwischen Recht und
Sittlichkeit der schwere Zweifel, dass die reine Sittlichkeit viel-
mehr leer sei; und dass sie, von der Lehrart abgesehen, in der
Hauptsache doch nichts Anderes als die Religion besage und be-
deute. Der Zweifel wird am schlimmsten dadurch gehoben, dass
die Conse([uenz daraus gezogen wird: sie könne und sie solle
auch nichts Anderes bedeuten. Man w^eiss, dass die Kantische
Ethik in ihrem Sittengeselze diesem Verdikte dauernd verfallen
ist; zumal der Verdacht bestärkt wurde durch das Missverständniss
der Form des Gesetzes, auf welche das Sittengesetz zurückgeführt
wurde. Anstatt zu erkennen, dass aus der Form des Gesetzes
der echte Inhalt des Gesetzes lauter und fruchtbar hergeleitet
werden sollte, hat man die Form dem Inhalt entgegengesetzt.
Wenn es aber angemessen ist, für grosse durchgreifende Irrungen
nicht nur Oberflächlichkeit und Verkehrtheit als die historischen
Gründe anzunehmen, so darf man vielleicht in der Zwitterstellung.
Der Zwang. 255
des Gesetzes, welche sich aus der Unterscheidung von Ethik und
Recht h?\ Kant ergibt, einen Erklärungsgrund für dieses durch-
greifende Missverständniss erkennen.
Welche Bedeutung kann nun aber der Zwang für das Recht
haben? Auf den Erfolg des Zwanges, um diesen Gedanken zu-
nächst abzufertigen, ist es keineswegs abgesehen; der wird nicht
erwartet. Es handelt sich lediglich um das Merkmal, welches
der Begriff des Rechtes dadurch empfangen soll, um die Willkür
des Einen mit der Willkür des Andern zu vereinigen. Es handelt
sich also im Grunde nur um den Gegensatz des Einen und des
Andern, der geschlichtet werden soll. Und der Zwang, als ein
inneres Merkmal des Rechtes, ist nichts Anderes als das
Schlichtungsmittel dieses Widerstreits. Handelt es sich denn aber
in der ganzen Ethik um etwas Anderes als um das Problem des
Einen und des Andern? Müsste nicht daher also auch für die
gesamte Ethik der Zwang zum Prinzip gemacht werden, sofern
er nichts Anderes bedeutet als die Vereinigung des Einen und
des Andern? Es ist dies dieselbe Frage, welche wir von Anfang
an gestellt hatten: was ist die Ethik ohne das Recht?
Daher lassen wir füglich den Zwang fallen; denn er
kann und soll und darf nichts Anderes bedeuten als das Gesetz.
Wenn die Befugniss des Zwangs ein inneres Merkmal des Rechts
ist, welches die Vernunft anzuerkennen hat, so geht der Zwang
ebenso sehr auf den Einen wie auf den Andern. Damit aber ist
man auf das sittliche Gesetz zurückgekommen, welches, ohne
allen besondern Inhalt, in seiner Form die Allgemeinheit voll-
zieht und darstellt, also den Widerstreit vom Einen und Andern
aufhebt. Der Zwang richtet sich eigentlich doch nur gegen den
Andern; denn für den Einen zwingt doch schon das Sittengesetz.
Wenn dieses nun aber zugleich auf den Andern bezogen ist, wie
es denn gar nicht ohne den Andern gedacht werden kann, so
wird der Zwang gänzlich überflüssig. Er könnte nur zum Ausdruck
der doppelten Tendenz, das Recht von der Ethik und die Ethik vom
Rechte abzutrennen dienen. Die Ethik würde damit gegen das
historische Material des Rechtes unabhängig gestellt, das Recht aber
auch der Ethikgegenüber souverän. Jedenfalls wird dadurch wieder-
um dem Verdachte der Leerheit des allgemeinen Sittengesetzes Vor-
schub geleistet. Die Ethik hat ihre Unabhängigkeit von der
266 Die Normen.
historischen Materie des Rechts dadurch zu beweisen, dass sie
an den grossen Rechtsinstituten ihre methodische Kritik übt,
und dass sie diese Kritik positiv fruchtbar zu machen sucht in
der Forderung solcher Rechtsinstitute, welche dem unnachlass-
liehen Sittengesetze schlechterdings gerecht werden.
Die Ethik kann den Begriff des Zwanges für das Recht um
so getroster fallen lassen, als der Begriff des Gesetzes in einem
andern charakteristischen Terminus an die Spitze tritt: in der
Rechtsnorm. Die Normen sind an und für sich Gesetze; sind
sie doch die mathematische Urform eines Gesetzes, insofern sie
als Winkelmass die Vorschrift und die Richtschnur bilden.
In den Normen legitimiert das Recht den Begriff des Gesetzes.
Es lenkt von dieser logischen Bedeutung der Norm ab, wenn
auf die sprachliche, grammatische, stilistische Form der Nachdruck
gelegt wird. Freilich drückt sich die Norm am bequemsten und
natürlichsten in der Form des Imperativs aus; denn die Norm
richtet sich an Jedermann; an jeden Menschen; aber auch nur
an jeden Menschen. Wir werden sehen, was diese Einschränkung
zu bedeuten hat.
Wenn sie aber als Imperativ sich ausdrücken darf, so ist
der Grund der Norm ebensowenig in dem Befehle zu erkennen,
wie der Grund des Gesetzes in dem Zwange. Diese Spitze des
Befehls . wird schon dadurch abgestumpft, dass Niemand übrig
bleibt, dem nicht befohlen wnirde. Es ist Niemand von dem
Gesetze, von der Norm ausgenommen. Das Recht befiehlt eben-
sosehr dem Einen, wie dem Andern; wie es auch den Einen
ebensosehr zwingt, wie den Andern. Man darf daher auch nicht
zuviel Wert auf die sprachliche Form des Gesetzes legen, sofern
sie sich in „Wir verordnen" darlegt. Dieses Wir schliesst eben
den Gesetzgeber, der das Winkelmass anlegt, ebenso ein, wie
alle die Anderen, auf die der Eine ebenso bezogen ist, wie sie
auf ihn. Daher ist es auch unnötig und unzweckmässig, wenn
Bierling ^Du sollst" auflöst in „Ich will. Du sollsf-. DennBier-
ling verlangt ja selbst richtigerweise Anerkennung, wenigstens
indirekte für das Recht. Dann kann aber auch Jedermann an
sich selbst den Ruf ergehen lassen: Du sollst; und er braucht
dazu nicht erst das Ich des Gesetzgebers hinzuzunehmen. In
seiner Anerkennung, die erfordert wird, gibt sich eine Befugniss
Die Normen nicht Urteile. 267
zur Verordnung kund. In der Aufgabe seines Selbstbewusstseins,
werden wir sagen dürfen, liegt der Rechtsgrund der Norm.
Dieses Absehen von der Befehlsform ist der richtige Kern
in Zitelmanns Ansicht von den Normen, als Urteilen. Aber
hier entsteht der geföhrlichere Irrtum in der Gleichsetzung
der Rechtsurteile mit den Urteilen über die Natur.
Schon Mill hatte auf diese falsche Bahn gelenkt, indem er die
Gesetze als Indicative charakterisiert. Das Recht beschreibt
jedoch keineswegs lediglich Verhältnisse und Einrichtungen;
sonst könnten die Normen nicht Rechtswirkungen zur Folge
haben, abgesehen von den Strafen. Das Recht erhebt Forderungen,
von deren Erfüllung Rechtswirkungen abhängig gemacht werden;
deren Erfüllung Rechtswirkungen zur Folge haben. Dieses
consecutive Verhältniss greift über die Beschreibung hinaus,
welche dem blossen Indicativ zusteht. Aber die Rücksicht auf
die Folge, welche der Norm eigentümlich ist, unterscheidet sie
auch von den Urteilen über die Natur.
Mit dieser Rücksicht auf die Folge hängt jedoch noch eine
andere Schwierigkeit zusammen, welche den Begriff der Norm
zu dem des Naturgesetzes zu nivellieren droht. Die Norm wird
demzufolge als Bedingung gedacht; wie sie denn auch aus-
drücklich oder latenter Weise in der logischen Struktur der Be-
dingung errichtet wird. Wenn sie aber Bedingung ist, so wird
sie zum Naturgesetz, welches als Bedingung formulierbar wird.
Man meint der Rechtsnorm dadurch zu dem höchsten logischen
Werte zu verhelfen, wenn man sie mit dem Naturgesetze auf
eine logische Stufe bringt. Man übersieht jedoch, dass darüber
die Unterscheidung von Ethik und Logik verloren geht; und
was kann alle Logik der Rechtswissenschaft helfen, wenn sie
darüber der Ethik verlustig gehen muss? Hier muss also ein
Fehler vorliegen; die Normen dürfen nicht schlechthin
als Urteile gelten.
Der Unterschied zwischen den Gesetzen der Rechts-
normen und den Naturgesetzen der Bedingungen lässt
sich nach der Terminologie unserer Logik der^reinen Elrkenntniss
kurz und bestimmt bezeichnen. Die Naturgesetze der Bedingung
gehören dem Gesichtspunkte der Relation an; und sie sind not-
wendig zur Constituierung des sachlichen Begriffs der Natur.
17
258 Die Modalität ffir die Rechtsnorm.
Man könnte nun glauben, dass auch die Normen notwendig seien
für den sachlichen BegrifT des Rechts. Das sind sie freilich; aber
man darf den sachlichen Begriff des Rechts nicht einfach gleich-
setzen dem sachlichen Begriffe der Natur. Die Sache macht
hier den Unterschied; und die Sache bedingt das Problem und
die Methode.
Uebrigens enthält die Methode auch die Probe auf das
Exempel. Auch die Natur, und also auch das Naturgesetz der
Bedingung muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie nur ein
Problema und eine Hypothese, oder aber eine Wirklichkeit zu
bedeuten habe. Diese Frage ist die Frage der Modalität. Und
die Modalität dient nicht allein etwa der Skepsis und deren Auf-
lösung, sondern sie begleitet alle Schritte der Forschung auf
ihren einzelnen Wegen. Die Rechtsnorm gehört der Moda-
lität an. Deshalb darf sie nicht als Bedingung, welche
eine constitutive Urteilsart ist, gedacht werden. Sie
muss als der Quell gehalten und behütet werden, aus dem un-
versiegbar neue Normen herleitbar werden. Sie muss die
methodische Richtschnur der Rechtsforschung und der Rechts-
findung, wie der Gesetzgebung, bilden.
Was wäre denn damit gewonnen, wenn die Norm als Be-
dingung gelten dürfte, wie man dies aus dem Gesichtspunkt der
Ueberspannung des Naturgesetzes so ansieht? Nichts als eine
blosse Tautologie wäre damit ausgesprochen. Das Recht besteht
in den Normen. Diese werden, wir wollen es einmal so annehmen,
in Bedingungssätzen formuliert. Also sind die Normen Be-
dingungen. Und was bringen diese Bedingungen zu Stande?
Welchen Inbegriff von Verhältnissen constituieren sie? Die
Antwort ist: das Recht. Ist dieses Recht aber, welches nun so
als der Inbegriff der Bedingungen, die die Normen bilden, her-
auskommt, etwas Anderes als das Abstraktum des Rechtes,
welches von Anfang an als in den Normen bestehend definiert
wurde? Welcher neue Begriff kann sich so ergeben?
Man sieht, der Begriff der Bedingung bedeutet hier für die
Constituierung etwas ganz Anderes als bei der Natur. Dort lehrt
er, dass die Natur, von der man meint, sie werde durch die
Sinne offenbart, vielmehr erst durch die Bedingungsgleichungen
entdeckbar werde. Und darauf kommt alsdann die Modalität
Die Notwendigkeit als Allgemeinheit. 259
mit ihren skeptischen, vielmehr methodischen Fragen: was ist
diese bedingte Natur? Ist sie nur Möglichkeit, oder auch Wirk-
lichkeit? Hat es nun aber etwa den gleichen Sinn, wenn diese
modalen Fragen auch auf die Rechtsnormen, wie sie als Be-
dingungen gefügt seien, gerichtet werden? Zweifelt man etwa
an der Wirklichkeit einer Verordnung, wenngleich sie nur Be-
dingung sei?
Der Nachteil, der in der Charakteristik der Normen als
Bedingungen liegt, ist jedoch noch schwerer und positiver. Bei
der Modalität, die so umgangen und aus dem Felde geschlagen
wird, handelt es sich nicht allein um Möglichkeit und Wirklich-
keit, sondern auch um Notwendigkeit. Möglichkeit und Wirk-
lichkeit mögen für die Charakteristik der Normen zurücktreten;
umso wichtiger und unumgänglicher wird die Notwendigkeit;
Hier aber müssen wir uns auf diejenige Bedeutung der Not-
wendigkeit berufen, welche die Logik der reinen Erkenntniss be-
gründet hat. Nach ihr ist die Allgemeinheit nicht mehr der
Lückenbüsser, der da sich einschleichen mag, wo das Gesetz sich
nicht klar und ausdrücklich als ausnahmslos durchgreifend er-
w^eist. Wir haben die Allgemeinheit von der Allheit
unterschieden. Die Allheit ist ein constitutiver Grundbegriff.
Sie ist dies für die Mathematik. Sie hat sich so auch für die
Ethik bewährt; das Selbstbewusstsein des Staates ist dieser Muster-
begriff der Allheit. Die Allgemeinheit dagegen hat aus-
schliesslich methodische Bedeutung für den Gang, für
den Stufengang der wissenschaftlichen Forschung auf
allen Gebieten; so auch im Rechte.
Im Rechte aber kommt es vor Allem auf Allgemein-
heit an. Das ist der Sinn der Norm, der modale Charakter der
Norm, dass sie ausnahmslose Allgemeinheit festsetzt. Das
ist schon negativ ein grosser Gewinn. In dieser Negation der
Ausnahme liegt der Grund für den positiven Inhalt der Allgemein-
heit. Darin besteht der logische Wert, mit dem Kant den
ethischen Wert seines Sittengesetzes, als der Form einer all-
gemeinen Gesetzgebung, begründet hat. Wenn Nichts für den
Begriff des Sittengesetzes vorausgesetzt werden darf, was als
Materie gelten müsste, als empirische, sei es psychologische, sei
es historische Voraussetzung, so bleibt in der Tat nur dieses
17*
2(}0 Kants Form des allgeraeinen Gesetzes.
übrig, und dies bleibt übrig: die Allgemeinheit des Gesetzes. Ein
Gesetz, das Ausnahmen zulässt, ist kein Gesetz.
Man würde neue Planeten nicht suchen können, wenn sie
nicht als Störungen für das ausnahmslose Gesetz der Gravitation
gedacht würden. Wieviel mehr gilt dies für das Sittengesetz,
welches doch nicht einmal an die Planeten gebunden ist, sondern
lediglich an die Definition von Ich und Du und Wir. Die All-
gemeinheit kann hier gar nicht mit der Allheit verwechselt
werden; denn die Allheit wird allein schon durch Ich vertreten.
Bei der Allgemeinheit dagegen kommt es auf die Entfaltung zum
Du und zum Er an, welches Er wiederum in Du verwandelt
wird; und auf die breiteste Entfaltung aller Er, auf dass sie in
Wir zusammengezogen werden. Es kommt dabei auch nicht
auf die Zusammenziehung in Wir allein an, sondern auf die
breite, deutliche Entfaltung der Einzelnen, auf dass sie als All-
gemeinheit darstellbar werden.
Man könnte einwerfen, die Allgemeinheit unterscheide sich,
wenn allenfalls von der Allheit, so doch nicht von der Mehr-
heit in unserem Sinne. Aber wir wissen aus der Logik, dass
es bei der Mehrheit sich nur um diese selbst handelt, gar nicht
aber um ihre einzelnen Glieder. Das kann für die Allgemeinheit
nicht der Sinn sein; in der es vielmehr auf jeden Einzelnen
ankommt, dass er nicht etwa als Ausnahme aus der Norm
herausfalle. Man erkennt an diesem Einwände, dass es bei dem
Begriffe der Allgemeinheit sich im letzten Grunde gar nicht um
Allheit oder Mehrheit handelt; sondern um etwas ganz Anderes,
welches eben der modalen Rücksicht angehört.
Hier kommen wir auf eine andere Schwäche in Kants
Bestimmung des Gesetzes unter der Form des allgemeinen Gesetzes.
Die eigentliche Bedeutung der Allgemeinheit kommt bei dem
Unterschiede von Form und Materie nicht zum Austrag.
Es handelt sich hier um einen modalen Unterschied, also um
eine Stufe auf dem Wege der Forschung, der Findung und der
Ausbildung und Ausdehnung und erweiterten Durchführung des
Gesetzes. Diese Rücksicht ist auch schon für den Charakter des
Sittengesetzes an sich von Belang. Es beruht darauf seine
Lebendigkeit und seine ewige, unerschöpfliche Fruchtbarkeit;
nicht nur die Variabilität seiner Formulierung. Aber dieser
Der Uebergang der Form in den Inhalt. 1)6 L
modale Wert der Allgemeinheit wird nun für den logischen
Charakter der Norm wichtig und ausschlaggebend.
Wir haben soeben den hohen Wert betrachtet, der dem
Kantischen Gedanken des Gesetzes beiwohnt, sofern dasselbe
lediglich durch die allgemeine Gesetzgebung der Form gemäss
bestimmt wird, und seinen Inhalt empfangt. Wir haben dabei
allerdings nur auf die Allgemeinheit Rücksicht genommen; aber
das Moment der Gesetzgebung, auf das wir ausführlich noch ein-
zugehen haben, ist ja immerhin schon im Begriffe des Selbst-
bewusstseins zur Anlage gekommen. Auch kommt in letzter
Instanz für den Begriff des Sittengesetzes doch Alles auf die All-
gemeinheit an. Da muss man nun aber fragen: worin liegt die
Bürgschaft für diesen hauptsächlichen Wert der allgemeinen
Geltung des Gesetzes? Und die Antwort kann nur die sein, dass
die Definition allein diese Bürgschaft enthalte; in Kantischer
Terminologie der analytische Begriff des Gesetzes. Daraus wird
es aber wiederum verständlich, dass man mit dieser Bestimmung
des Gesetzes aus der Methodik der Form heraus sich nicht zu-
frieden geben mochte, dass man in einem falschen Ausdruck des
gefühlten Mangels den Inhalt in dieser allgemeinen Form ver-
misste; während man mit Recht, wie wir sehen wollen, den Zu-
sammenhang mit dem Inhalt und den Uebergang gleichsam
der Form in den Inhalt vermissen durfte. Es genügt nicht
zu sagen, dass der Begriff des Gesetzes die Allgemeinheit fordere;
sondern es gilt ausdrücklich zu lehren, dass die Allgemeinheit
den praegnanten methodischen Sinn hat: alle Einzelheit, die dem
betreffenden Problema angehört, aus sich ableitbar zu machen.
Das ist der modale Sinn der Allgemeinheit.
Dieser modale Sinn setzt die Allgemeinheit gleich
der Notwendigkeit. Allgemein und notwendig sind immer
schon zusammen gedacht worden. Die Logik der reinen Er-
kenntniss hat es klargestellt, dass und wie sie zusammengehören.
Das Beweisverfahren, wie es für die Probleme der Induktion
geboten ist, ist auf den allgemeinen Obersatz angewiesen. Der-
selbe enthält daher keineswegs eine Erschleichung oder Vorweg-
nahme dessen, was erst bewiesen werden soll, sondern einfach
die Anweisung und den Leitfaden, dessen sich die apodiktische
Notwendigkeit, die Notwendigkeit des Beweisverfahrens zu be-
262 Das Gesetz bat keine Lücke.
dienen hat. Wenn man Alle sagt, so hat man nicht etwa
die Einzelnen vorweggenommen; sondern man sagt nur
Alle, um die Einzelnen zu finden; man gibt sich damit
nur die Direktion, sie zu suchen. Der allgemeine Satz hat
seine praegnante Bedeutung nur als Obers atz des induktiven
Syllogismus. Wo er als deduktiver Satz ausgesprochen wird
für die Probleme der mathematisch - naturwissenschaftlichen
Deduktion, da liegt seine logische Bedeutung in der Grundlegung
des Prinzips; nicht aber in der Form des allgemeinen Urteils.
Die Allgemeinheit ist das methodische Hilfsmittel, und daher die
Kategorie des induktiven Syllogismus. >
Vor einem solchen Probleme steht allerwege das Recht;
und demgemäss die Ethik, insofern sie sich verwirklicht. Welches
Mittel und welche Gewähr gibt es, dass das Gesetz zu seiner
logischen Grundbedeutung, zur ausnahmslosen Allgemeinheit
durchgeführt werde? Das ist nicht nur das vornehmlichste,
intimste Anliegen der Ethik; das ist ebenso dringlich die Frage
im Probleme der Norm. Und auf diese Grundfrage erteilt der
modale Charakter der Allgemeinheit die bändige Antwort. Das
ist die Probe für die Norm; es gibt keine andere: dass ihr diese
Befugniss zusteht, alle Einzelheiten in sich zu enthalten,
und jede Ausnahme auszuschliessen. Wie sie das kann? Das
ist die logische Kraft ihres Begriffs. Könnte sie dies nicht, so
würde der Begriff hinfallig.
Die tatsächliche Geltung dieser Allgemeinheit der Norm
zeigt sich in dem Grundsatze des Rechts, dass der Richter
nicht sagen darf, das Gesetz habe eine Lücke, und er könne
das Recht nicht finden. Dieser Spruch ist dem Richter versagt;
er widerspricht dem Begriffe der Rechtsnorm, die er zu befolgen,
zu verwalten und auszulegen hat. Er ist Richter und nicht
Gesetzgeber. Das Gesetz ist ihm gegeben; und das Gesetz ist all-
gemein. Alle Fälle der Wirklichkeit sind in ihm enthalten;
müssen aus ihm erschlossen werden; denn sie sind aus ihm
herleitbar. Das heisst: die Norm hat Allgemeinheit.
Man könnte meinen, der Begriff des rechtsleeren Raumes,
den man zugesteht, spräche gegen diese Allgemeinheit. Indessen
gilt dieser rechtsleere Raum doch auch in dem positiven Sinne,
dass er durch das Recht ausfüllbar sei, wenngleich er noch nicht
Modaler Unterschied von den Naturgesetzen. 263
ausgefüllt ist. Und ohnehin hat eben die Allgemeinheit hier
noch nicht Platz gegrifTen. Sie ist eben nur da vorhanden, wo
die Norm vorhanden; wo sie schon gefunden und positiv ge-
worden ist.
Die deduktive, syllogistische Bedeutung der Allgemeinheit
zeigt sich bei der Norm besonders deutlich in dieser ihrer Neben-
bedeutung, dass die Analogieen, die ähnlichen Fälle zu prüfen
seien, inwiefern sie unter die Norm fallen, unter ihr subsumierbar
werden. Diese Bedeutung wohnt der Norm inne; sie enthält die
Forderung, die Aehnlichkeit der Momente zu prüfen. Daraufhin
ist der Richter von der Befugniss, das Recht zu finden, nicht ent-
bunden. Hier sieht man deutlich, dass die Allgemeinheit die
apodiktische Notwendigkeit bedeutet; dass sie eine Anweisung
für das Beweisverfahren bildet; dass sie die einzelnen Fälle und
alle Einzelfalle herausfordert, wie weit sie unter die Norm
gehören; das heisst vielmehr, wie weit sie die Norm specialisieren
und verwirklichen. So erweist sich die Norm in Bezug auf ihre
Allgemeinheit als eine Art von Zweckprinzip, welches ja der
induktive Begriff überhaupt ist, für die Behandlung des fraglichen
induktiven Problems.
Damit aber kommen wir auf die Frage zurück, welche das
Verhältniss der Normen zu den Naturgesetzen betrififl.
Diese sind in der Struktur der Bedingung zu formuliren. Hier
kann man nun den Unterschied deutlich erkennen. Dem Be-
dingungsgesetze liegt es schlechterdings fern, Analogieen in sich
zu enthalten; oder gar zur Aufsuchung ähnlicher Fälle aufzu-
fordern. Man kommt nur auf den Irrtum, dass dem Causal-
gesetze eine solche Bedeutung beiwohne, weil man es in Form
der Allgemeinheit zu formulieren pflegt. Diese Formulierung ist
jedoch ganz ungehörig; sie gehört durchaus nicht in die Struktur
der mathematischen Funktion. Das Causalgesetz büsst
Nichts ein an seinem Werte, wenn es nur auf Einen Fall zu
beziehen wäre. Dem Werte des Rechtsgesetzes dagegen würde
im römischen Sinne damit ein Makel angeheftet. Es verunziert
den rechtlichen Charakter eines Gesetzes; es entlarvt sich als
ein Tendenzgesetz, wenn es nur auf einen einzelnen Fall und
eine einzelne Person zugeschnitten ist.
264 Der Begriff der Zukunft
Dahingegen könnte man nun in der Tat meinen, der An-
deutung nachgeben zu dürfen, welche eben vorhin gefallen war,
dass die Allgemeinheit der Norm vergleichbar wäre dem Zweck-
prinzip des induktiven Begriffs. Es könnte scheinen, als ob
unter dieser logischen Beleuchtung die Bedeutung der Norm
nicht verdunkelt und nicht unklar würde. So weit die Norm
auf einem Begriffe beruht, den sie expliciert, ist dies unbe-
denklich zuzugestehen. Der Begriff ist auch hier die Anweisung
und der Leitfaden, die zugehörigen Merkmale, und demzufolge
die Träger dieser Merkmale aufzusuchen und zu erforschen.
Aber die Norm enthält ja eben mehr als nur den Begriff; sie
leitet an und in sich selbst Wirkungen aus diesem Begriffe ab.
Und ihre Kraft und Bedeutung besteht in dieser Wirkung, die
sie geltend macht. Diese Wirkungen liegen jenseits derjenigen
Allgemeinheit, über ^welche das Zweckprinzip verfügt; oder auf
welche es auch nur Anspruch erhebt. Und andererseits lassen
sich diese Wirkungen nicht vergleichen mit der Wirkung,
welche der Ursache im Bedingungsgesetze der Causalitäf ent-
spricht. Denn diese letzteren Wirkungen werden ganz ohne
Rücksicht auf die Zeit gedacht. Hier aber bei den Wirkungen,
auf die die Normen es absehen, tritt die Rücksicht auf die Zeit
in den Vordergrund. Damit aber kommen wir zu einem Mo-
mente, welches die Normen von aller Art der Naturgesetze und
der auf sie bezüglichen Urteile prinzipiell unterscheidet.
Es ist der Begriff der Zukunft, dem wir schon von
Anfang an auf der Spur waren; der im ganzen Gebiete des
Willens von massgebender Wichtigkeit ist, und der nun auch
bei der Norm die Entscheidung mit sich führt. Die Rechts-
normen sind darum nicht Indicative; nicht Urteile;
nicht Aussagen über ein wahrhaftes Sein, welches, als
solches, auf alle Zeit sich beziehen muss, weil sie vor-
zugsweise auf die Zukunft sich beziehen. Sie können, sie
müssen auf die Zukunft sich beziehen, weil sie auf Hand-
lungen sich beziehen, und nicht auf Bewegungen, Vorgänge und
Geschehnisse. Eine solche Rücksicht auf die Zukunft, geschweige
ein Vorwiegen derselben liegt dem Naturgesetze fern. Schon die
Unterscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit fallt
ausserhalb seines Bereiches, Ganzlich ausserhalb seiner Tendenz
Die rückwirkende Kraft des Gesetzes. 265
aber liegt die Rücksichtnahme auf die Zukunft, wie sie der
Begriff der Handlung fordert. Uie Norm hat es überall mit
Wirkungen zu tun, die durch Handlungen herbeizuführen sind;
die somit durchaus der Zukunft angehören.
Daher bildet das Problem der rückwirkenden Kraft
des Gesetzes ein so wichtiges Kriterium. Der Begriff der Norm
wird dadurch in Frage gestellt, und es erfordert allen Aufwand
der juristischen Theorie und Technik, um diesen Schein zu zer-
streuen. Durch diese Beziehung auf die Zukunft, welche für den
Begriff der Norm Bedingung ist, wird der Unterschied vom
Naturgesetze und vom naturwissenschaftlichen Urteile
klargestellt. Die Zukunft darf hier nicht als ein nebensächliches
Moment der Zeit gedacht werden. Die Zukunft tritt in Gegensatz
zur Vergangenheit und zur Gegenwart. Auf diesen Gegensatz
kommt es an bei dem Gesetze.
Dieser Gegensatz zu den anderen Momenten der Zeit, den
die Zukunft erhebt, macht einen solchen Unterschied aus zwischen
der Norm und dem Naturgesetze, dass der Gedanke entstehen
kann, deswegen sogar den Begriff des Gesetzes fallen zu lassen.
Wir werden später diesem Gedanken Raum geben, und in einer
bestimmten Einschränkung ihm sein Recht schaffen. Hier aber
steht jene andere Bedeutung des Gesetzes noch nicht in Frage,
die uns später beschäftigen muss; hier handelt es sich nur um
diejenige Bedeutung des Gesetzes, welche die Aufgabe des Willens
von den Zufälligkeiten und Wechselfällen des Selbstischen
befreit, und die Aufgabe, das Gesetz des Selbstbewusstseins zur
Vollführung bringt. Daher können wir uns hier in der Charak-
teristik der Zukunft Einhalt gebieten, und uns auf die Hervor-
hebung des Gegensatzes beschränken, welchen die Zukunft gegen
die Vergangenheit und die Gegenwart bildet. Es ist die Ab-
kehrung von der Vergangenheit und der durch sie bestimmten
Gegenwaii, welche an sich der Zukunft eine eigene positive
Kraft und Bedeutung gibt.
Aus diesem Hinaussehen auf die Zukunft, unbeirrt durch
jede andere Richtung, er^'ächst der Zukunft eine Eigenmacht
und Souveränität, welche freilich dem Begriffe der Handlung und
dem des Willens entspricht, mit denen die Norm operiert. Aber es
wird dadurch auch über jeden Zweifel klargestellt, dass die Rechts-
266 Die Romantik für die Vergangenheit.
norm von dem Naturgesetze nach dem ganzen Sinn der Probleme
verschieden ist. Der Sinn der Probleme lenkt die Rechtsnorm
von dem Naturgesetze ab; aber auf die Ethik hin. In der Ethik
liegt ihr methodisches Bett und der Quell aller ihrer Ströme.
Daran darf man nicht irre werden. Deshalb sind die Analogieen
mit den Urteilen und Naturgesetzen nicht bloss unrichtig, un-
zweckmässig und dilettantisch spielerisch, sondern irreführend
und verhängnissvoll; nicht allein für die Jurisprudenz, sondern
auch für die Ethik.
Auf die Bedeutung der Zukunft für die Ethik werden wir
zurückkommen, wenn wir auch die andere Bedeutung, die dem
Gesetze zugesprochen wird, zu erörtern haben werden. Hier aber
dürfen wir es schon aussprechen und betonen, dass für die
ethische Bedeutung des Gesetzes, wie es in der Aufgabe des
Selbstbewusstseins sich praecisiert, Alles ankommt auf die Eman-
cipation von Vergangenheit und Gegenwart; zumal wenn
anders das Selbstbewusstsein am StaatsbegrifTe und im Staats-
willen eminenter Weise zu vollziehen ist. Da heisst es sich
emancipieren von aller sentimentalen Romantik für die Ver-
gangenheit und von aller Anhänglichkeit an das Trägheits-
gesetz, kraft dessen die Gegenwart verharrt; allen diesen Zeit-
mächten die Zukunft entgegenzustellen, und ihr die Entscheidung
einzuräumen. Das ist die Richtung, in welcher allein das Selbst-
bewusstsein gedeihen und zur Reife kommen kann, als das
Gesetz des Selbst; im Unterschiede von den vorübergehenden
Vorstellungen und Regungen, aus denen das psychologische
Selbstbewusstsein, das fälschlich so genannt wird, jeweilig sich
zusammensetzt.
Das Selbstbewusstsein befestigt sich dadurch in der Aufgabe
des Gesetzes, dass es in der Zukunft allein diese Festigkeit gründet.
Aller Schein einer natürlichen, psychologischen Bedeutung des
Selbstbewusstseins wird dadurch beseitigt. Die Bedeutung eines
Gesetzes scheint auf seiner Wirklichkeit zu beruhen; wenn nicht
gar in ihr sich zu erschöpfen. Die Wirklichkeit aber pflegt man
auf die Gegenwart einzuschränken; und dies hat auch eine un-
leugbare Richtigkeit. So angesehen, würde aber die Bedeutung
des Gesetzes für die Norm und gar für das Selbstbewusstsein
ganz hinfallig. Dem gegenüber zeigt es sich nun hier, dass die
Die Bedeutung der Zukunft für das Selbstbewusstsein. 267
Norm, und dass mit aller Bestimmtheit das Selbstbewusstsein
^ich auf die Zukunft richten, und auf die Zukunft allein pochen.
Dadurch wird der Schein des Naturalismus und des Psycholo-
^ismus von der ethischen Bedeutung des Selbstbewusstseins hin-
^eggenommen. Nur der Zukunft, und immer nur der Zukunft
gehört diejenige Wirklichkeit an, welche für das Selbstbewusst-
sein des reinen Willens zu erringen und zu erstreben ist. Mit
dem Stoffwechsel und seiner Einheit hat es Nichts gemein.
Aber auch eine andere, angeblich geistige Einheit darf nicht
gedacht oder erdichtet werden, welche etwa das Zukunftsgesetz
des Selbstbewusstseins verwirklichen zu können sich anheischig
machen wollte. Wir müssen in jeder solchen Verwirklichung,
in welcher die Zukunft restlos aufgehen würde, einen Wider-
spruch gegen die Zukunft erkennen; und wir müssen dem Mo-
mente der Zukunft die Kraft und die Entscheidung über das
Selbstbewusstsein anheimgeben. Das Selbstbewusstsein des reinen
Willens zerfallt und verschwindet, wenn das Moment der Zukunft
seine Schwingen sinken lässt und seine Herrschaft über den
Willen verliert. Das gilt vom reinen Willen; nicht etwa von
dem unaufhaltsamen Ungestüm der Begierde.
Die Zukunft ist das Moment des Gesetzes. Und das Selbst-
bewusstsein ist der Inhalt dieses Gesetzes. Das Gesetz ist das
sittliche Gesetz. Das Selbstbewusstsein bedeutet das sittliche
Selbst, das nur Ich ist, sofern es Wir ist. Indem das Selbst-
bewusstsein auf die Zukunft gestellt wird, wird die gesamte Sitt-
lichkeit auf die Zukunft gestellt. Wir werden sehen, wie die
Ethik in der Ausdeutung dieses Begriffes gipfelt. So wird durch
den Begriff der Zukunft nicht nur das Recht, die Norm, sondern
die Sittlichkeit überhaupt von dem Naturgesetze und von der
Natur methodisch und svstematisch, nämlich aus dem Gesichts-
punkte des Systems der Philosophie unterschieden.
Blicken wir jetzt noch schliesslich auf die Bedenken zurück,
welche sich gegen den Begriff des Gesetzes erhoben hatten. Vor
Allem dürfte sich der Gesichtspunkt des Zwanges erledigt haben.
Zwang gehört ebenso wenig in das Prinzip des Rechts, wie in
das der Ethik. Aber auch das Sittengesetz war als Müssen ver-
dächtigt worden. Die Norm ist, wie das sittliche Gesetz, ein
einzelnes Gesetz, in welchem das allgemeine Gesetz des Selbst-
2R8 FiktioD und Hypothcsis.
t>ewusst.Heins sich zu vollziehen hat. Wie es in der Handlung
sich entralten muss, so auch ist es auf das einzelne Gesetz an-
gewiesen in seiner Selbstvollziehung. So wenig das Gesetz des
Selbstl>ewus.st5ieins als Zwang gedacht werden kann, so wenig
darf es auch das einzelne (iesetz.
Auch das Sollen war bedenklich erschienen, insofern es
vom Sein unterschieden wird; als ob es nicht selbst auch eine
Art des Seins darzustellen hätte. Dieser Funkt bedarf am meisten
noch weiterer Aufklärung, die wir uns in der angedeuteten
Richtung vorbehalten müssen. So viel aber ist aus dem Ver*
ständniss des (iesctzes schon klar geworden, dass zwischen dem
reinen Wollen und dem Sollen kein Unterschied besteben bleibt«
Der reine Wille ist das Gesetz des Willens^ also das Sollen. Da
der Inhalt dic*sc»s reinen Willens das Selbstbewusstsein ist, des.sen
Vollzug unaufhörlich auf die Zukunft bezogen ist, so schwindet
der rnterschie«! zwischen Wollen und Sollen. Ks ist das Sollen
des Selbstl)ewusslseins, welches im reinen Willen sich vollzieht.
Ks ist die juristische Person des Staates, an der und
in der das Selbstbewusstsein moralische, ethische Person wird.
Keine Fiktion h'ivst sich so praegnant veridcieren, wie diese. Sie
wird zum (iesetze, zum (jrundges(*tze des SelbMl>ewus%Ueins un<l
der ganzen Kthik. Fehlt es etwa an der Wirklichkeit für
diene Fiktion? Wir erkennen jetzt, dann solche Wirklichkeit
ein schlechtes Zeugniss wäre. Das (jesc*tz des Sell>stl>ewusstseins
ist allezeit an die Zukunft hinausgewicM*n. Auf sie ist die
Handlung, ist alle Norm gerichtet. Recht und Staat werden
HO aus der Sphäre der Natur herausgehoben, und als die
Natur der Sittlichkeit dargestellt; als das Analogon der Natur.
Kndlich mögen wir auch ncM'h den allgemeinen metho«
dis4*hen (Ibarakter des Gcm'I/cs, als der Hypothesis, kurz t)e*
trachten. Kher könnte man ein Naturges4*t/. im dogmatisc*hen
Sinne annehmen, ohne duss man es in kritischer Hinsicht, in
idealistischer Krkenntniss als (iriinillegung \erstiinde und an»
erkennte, als man eine solche aus^% artige (irundlage des
Zwanges, oder des licfehls bei dem Sittenges4*lze annehmen
durfte. I)t*nn hier sieht nichts Amleres in Fru^e als der Ik^grifT
d<^ Mcnsi'hcn im Sinne der Kultur der Mens<*hheit; im Sinne
der WcItfiCM-hichte un«l ihrer KinrichlunKen iin«i lk*strel>ungen.
Der Idealismus des Selbstbewusstseins. 269
Diese selbst würden zu Gebilden des Instinkts gestempelt, wenn
das Sittliche, als das menschheitliche Gesetz nicht das eminente
Beispiel der Hypothesis sein könnte. Nicht Zwang, nicht
Befehl, nicht Instinkt, nicht Naturbestimmtheit irgend
welcher leiblicher oder seelischer Art; sie alle werden
dem Begriffe des Selbst nicht gerecht, das den Inhalt des Sitten-
gesetzes bildet. Im Selbst allein ist es begründet, dass das Gesetz
Grundlegung sein muss; die Grundlegung des Selbst; darin
die Grundlegung der Ethik.
Es lässt sich von hieraus verstehen; aber wnr wollen den
Irrgängen jetzt nicht wieder nachgehen, welche sich durch die
Geschichte dieses Begriffs hindurchziehen: wie das Selbstbewussl-
sein seit Descartes das Centrum des Idealismus bifdet; denn
die Grundkraft der Hypothesis leuchtet darin. Aber es ist
schwerer verständlich, wie das Selbstbewusstsein nur als das
Centrum des theoretischen Idealismus fixiert und gedacht wurde,
während der ethische Idealismus an ihm die Methode der Hypo-
thesis zu voller Evidenz zu bringen vermögen dürfte. Wie nur
in der Ethik das Selbstbewusstsein praegnant wird, so wird an
ihm auch das Gesetz deutlich als die Grundlegung, die gefordert
wird, und die zulänglich ist, um in den Handlungen denjenigen
Zusammenhang herzustellen, den das Gesetz des Selbstbewusstseins
bezeichnet und fordert.
Sechntes Kapitel.
Die Freiheit des Willens.
Die (BeHchiehte der Kthik, inHlieHondere auch in deren An-
wendungen, Verbindungen und (lollinionen mit Religion und
Recht, hat das Problem der Freiheit in den Mittelpunkt der
Ethik gebracht. Daher ist eine Orientierung ülier die mannig-
fachen historischen l^gen dieses Problems zweckmiissig, lievor
wir vs nach unseren Dis|M>sitionen in Krörterung ziehen.
Die drei Weltallen das Altertum, das Mittelalter un<l die
neue Zeit, l>ilden drei Perioden in der (teschichte <lieses Prolilems.
DaN Altertum denkt die Freiheit im Ciegensat/e zur
lietionik: dass nicht die Lust i7//ov7^» auvsclilaggeln^nd M*i,
Mindern i\n\s das Sc*lbst des MenHi*hen das Prinzip seiner llami*
lung sein könne, und sein müvM». Das Selbst ist ein Wort,
mit dem Plato CilMTall o|H>riert, um die Idee, um das wahrliafle
Sein gegen <len Relatixismus der Sophintik aller Art siclier zu
Meilen. So muvse man auch, lehrt Plato, den Cirund der sitt-
lichen Handlung im Selbst des MenM*hen suclien. Auf diesen
Weg soll das Prin/ip der Seele hinful;ren. AIht das S<'ll>st
und das Wir, das antike Ich, treten in den gleiclien methiMÜM^hen
Hang mit der Seele ein. Man müsse zurückgehen auf Tns <r;
/;t'i;i, tiul das St'lbst «a-jTor
Ks ist dieselbe llypotbesis, wie sii* aueb in den thet»*
retis(*hen Krkenntnissfragen, wie sie in der (leometrie zur (leltung
kommt, l'nil >%as s» sebeinbar subjeklix zur Grundlegung In**
ntit/t wiril, (las wird nur scheinbar inler \<irzugs>AeiM* objektiv
Die Freiheit des Geistes. 271
das Gute (Td-(afröv) genannt, die Idee des Guten. Man sieht
aber, dass diese beiden Ausdrücke nur Seiten und Richtungen
desselben Prinzips sind. Liegt doch die Möglichkeit der Idee in
dem Denken, in der Erkenntniss derselben. Die Möglichkeit der
Erkenntniss aber, des Denkens der Idee liegt in dem Selbst, in
dem Wir. Aus dem Kinde wird die geometrische Idee heraus-
gefragt; sie lag in ihm.
Auf dieser Möglichkeit des reinen Denkens beruht auch
die Freiheit (sxoüoiov). Es entspricht dies durchaus dem So-
kratischen Grundgedanken von der Tugend, als Wissen.
Die Freiheit bedeutet die Kraft und Möglichkeit des Denkens,
des Wissens der Tugend. Und da die Tugend Wissen ist, so
wird in der Freiheit, als der Kraft des Wissens, zugleich die
Kraft des Könnens zu denken sein. Die Freiheit bedeutet hier
sonach die Behauptung des Denkens und der Erkenntniss, als
des eigentlichen wahrhaften Schatzes der Seele; als der eigent-
lichen Quelle des Bewusstseins, des Wir und des Selbst.
Dagegen müssen die sinnlichen Elemente der Seele zurück-
gedrängt werden; sie werden in der Lust zusammengefasst, in-
sofern diese die Resonanz aller sinnlichen Kräfte bildet.
Es wird als Frevel von Piaton bezeichnet, was von Schülern des
Sokrates verübt werden konnte, die Lust zum Prinzip der Tugend
zu machen, und mit dem Guten sie gleichzusetzen. Freiheit
ist Freiheit von dem Zwange der Lust.
So bedeutet die Freiheit des Willens im classischen Alter-
tum die Freiheit des Geistes gegenüber der Sinnlichkeit;
die Freiheit der wissenschaftlichen Vernunft vor Allem, und
ihrer Auszeichnung vor den Naturinstinkten aller Art. Sie be-
deutet daher ebensosehr den Vorzug der Entdeckung der Tugend,
wie die Kraft zur Behauptung derselben. Nur weil die Conse-
quenz unausweichlich wurde, wurde auch die Freiheit zum
Bösen nicht bestritten, noch ausgeschlossen. Vorherrschend
aber und ursprünglich ist die Bedeutung der Freiheit, als der
Unabhängigkeit vom Zwange des Bösen, und der Kraft des Guten.
In der classischen Philosophie vereinigen sich alle
Probleme im Begriffe des Menschen. Der Begriff Gottes
tritt in ihr zurück. Er taucht ja in ihr nur erst geheimnissvoll
auf; als der Correktivbegriff gegen die Götter der Volksreligion.
272 Gott Centralbegriff der Kultur.
Wenn Plato gegen die Dichter eifert, so trifft sein Tadel die
Quellen und Urkunden der vaterländischen Religion. Und wenn
der Gott als gut bezeichnet wird, so ist es eben die Idee des
Guten, welche den Göttern entgegen diesen guten Gott erdacht
hat. Die Idee des Guten aber ist im Zusammenhange mit dem
Begriffe des Menschen entstanden. Man darf daher vielleicht
auch sagen, dass der Begriff des Menschen dem Begriffe der
Götter entgegengestellt wurde; und dass in dieser Entgegen-
stellung die Sittlichkeit, als die menschliche Sittlichkeit, als die
Sittlichkeit des Wir, als die der Freiheit entdeckt wurde.
Im Mittelalter wird Gott der Centralbegriff der sitt-
lichen Kultur. Er wird daher auch das Prinzip für die theore-
tische Begründung dieser Kultur, so weit sie versucht wurde.
Der Mensch ist nicht mehr das Prinzip, sondern allenfalls das
hauptsächliche Problem der Sittlichkeit. Daher wird auch die
Freiheit zu einem Correlat zu Gott, weil zunächst zu einem
Attribut Gottes. In seiner Allmacht und Allwissenheit ist es
enthalten; ebenso aber auch in seiner Gnade und Prädestination.
Die Freiheit der Menschen steht daher zunächst im Gegensatz
und Widerspruch zu dieser Freiheit Gottes.
Die christliche Gotteslehre ist in ihrem specifischen
Grunde Erlösungslehre. Der Begriff des Menschen bedeutet
ihr den Begriff der Sünde. Die Erlösung fordert die Sünde
und die Schuld; und zwar die Erbsünde, welche die Freiheit
ausschliesst. Die Erlösung allein soll den Menschen befreien,
zum Menschen erhöhen können. Diejenigen, welche dagegen die
Freiheit behaupten, kommen in Gefahr, nicht nur die Erlösung
preiszugeben, sondern auch den Begriff der Sünde zu verflachen;
nicht nur nach der kirchlichen, sondern auch nach der weltlich-
sittlichen Seite. Denn es darf nicht verkannt werden, dass in
dem Begriffe der Sünde der sittliche Begriff des Menschen vertieft
und genauer zur Erkenntniss gebracht werden sollte, als es dem
Altertum durch den Begriff der Tugend gelungen zu sein schien.
Der Sündenbegriff sollte nur als Mittelbegriff gelten ; das Ziel aber
und der Zweck lag in der Tugend, welche durch die Erlösung
gewährleistet werden sollte.
In der Leugnung der Freiheit vertieft sich daher das Be-
wusstsein der Schuld zu dem sittlichen Grundbegriffe des
Die Freiheit des Glaubens. 278
Menschen. Sie wird, dem tragischen Motiv vergleichbar, das
Erbteil, das Schicksal der Menschheit. Und die Erlösung wird
so zur Lösung des tragischen Konfliktes im Begriffe des
Menschen. Der Unterschied aber bleibt bei dieser Analogie in
aller Schroffheit bestehen. Im Drama muss der Held im Guten,
wie im Schlimmen, zugleich doch immer als er selbst handeln,
nicht lediglich als der Spross seiner Ahnen; in der Religion da*
gegen bleibt der Mensch stets nur der alte Adam, der seine
Freiheit daran geben muss, wenn er seine Erlösung erwerben
will. Der sittliche Wert des Menschen wird nicht in der eigenen
Krafl seiner Vernunft gegründet; sondern er kann ihm nur von
Aussen kommen; nur Gott kann ihn ihm verleihen. Diese aus-
wärtige Quelle mag noch so sehr verinnerlicht werden, so dass
die Freiheit des Glaubens an die Erlösung zur Bedingung
der Erlösung wird; immer bleibt es der Glaube an die Erlösung,
in dem die Freiheit bestehen soll; nicht aber der Glaube an die
Vernunft und an das Selbst, der als Freiheit gedacht wird.
Die Anerkennung der Freiheit innerhalb der Religion ist
daher mit Vorsicht zu prüfen: ob der Mensch als frei gedacht
wird, um ihn seines Heils zu vergewissern; oder aber um ihn
für seine Verdammniss verantworllich zu machen. Beide bilden
sein Ziel, das ihm von Aussen gesteckt ist. In seinem Selbst liegt
sein Ziel, der Zweck seines Daseins, die Tugend und das Gute
nicht. Im günstigsten Falle wird in der Freiheit hier die Mit-
wirkung des Menschen zugestanden bei seiner Befreiung von
seiner menschlichen Sünde. Die Freiheit bedeutet im ganzen
Mittelalter nicht, wie im Altertum, die Geisteswürde des Menschen,
die Eigenart des Menschentums. Dieser Gedanke wird von den
religiösen Denkern des Mittelalters am tiefsten berührt, wenn sie
die Freiheit in Zweifel ziehen, oder gar leugnen; ausgenommen,
insoweit sie sich in der Liebe zu Gott zu bekunden vermag.
In der neuern Zeit überwiegen die wirtschaftlich- und
staatlich-rechtlichen Probleme über die kirchlich-religiösen.
Daher wird die Frage der Freiheit mit Rücksicht auf diese Frage,
auf das Verhältniss des Individuums zu seinem Stande,
seinem Volke, seinem Staate, seinem Kulturzusammenhange, zu
seinem Milieu überhaupt discutiert. Der Mensch wird nicht
im letzten Grunde betrachtet im Verhältniss des Geistes zum
18
274 Die Moralstatistik.
Körper — diese Problemstellung bildet nur ein Symptom derjenigen
Frage, welche selbst in den interessantesten Perioden der physio-
logisch- materialistischen Fehde den Brennpunkt bildet; noch
auch in seinem Verhältniss zu Gott, als dem Erlöser von der Sünde;
hier hat sich der Glaubensbegriff der Reformation trotz
aller seiner unvermeidlichen Widersprüche und Gebundenheiten
in das moderne Bewusstsein dennoch hindurchgerungen, so dass
man einen ernstlichen Anstoss nicht mehr nimmt an der Freiheit
des Menschen, selbst nicht gegenüber dem Gottmenschen. Aber
der Mensch wird jetzt mehr denn jemals zum Problem
als Individuum.
Die Renaissance mochte getrost auf das Individuum
pochen. Damals galt es von den Gebundenheiten der Corpora-
tionen und von der universellen Autorität der Kirche den
Menschen zu emancipieren. Das Individuum dünkte und regte
sich damals selber als eine Art von Gottmensch; als ein Heros
mit allen den Zweideutigkeiten des Dämonentums. Das war, so
mächtig dieser Drang des Individuums eingriff, dennoch nur
wie ein Hauch, der die Spitzen der Gesellschaft streifte, nicht die
Massen umwandeln konnte, noch wollte. Das Massen-Indi-
viduum ist das eigentliche, das ernsthafte Problem der
neuen Zeit.
Aus dem Gesichtspunkte der Masse zerfliessen alle die
feinen Gesichtspunkte, aus denen sich sonst das Problem der
Freiheit betrachten lässt. Was bedeutet die Vernunft und der
Geist in dem Individuum der Massen? Es ist, als ob es Nichts
als Leib wäre. Es ist ein Naturwesen. Dieser Gesichtspunkt
greift in alle Beziehungen dieser Menschenart über. Daher fängt
die Statistik mit den leiblichen Verhältnissen an, mit Geburt,
Krankheit und Tod. Daher wird die Statistik die Moral
und die Theologie der neuen Zeit. Bezeichnender Weise
nennt sie sich auch Moralstatistik; in der Tat führen die
leiblichen Verhältnisse unmittelbar in das Gebiet der moralischen
Ursachen, oder wenigstens der moralischen Verhältnisse hinüber;
in die Ehen und die unehelichen Geburten; in die Trunksucht
und die Verbrechen. In allen diesen Beziehungen wird der
Mensch zur Nummer einer Gruppe, zur Ziffer einer Reihe. Was^
bleibt da noch für das Selbst, für das Selbstbewusstsein übrig?
Die Causalität. 275
Ueberall erscheint das menschliche Individuum lediglich als ein
Naturwesen; und in diesem spiegelt sich das gesamte Milieu,
die verallgemeinerte Natur wider.
Dieser Gedanke, dass das Individuum ein Naturwesen sei,
ist das Prinzip der Statistik. Man darf nicht sagen, sie er-
schleiche dieses Prinzip; denn auf dieser Forderung beruht sie.
Das Naturwesen wird dabei nicht im zoologisch-anthropologischen
Sinne gedacht; sondern das Genus begreift eine weitere relative
Gemeinschaft in sich; der Naturzusammenhang befasst den Zu-
sammenhang der jeweilig herrschenden Kulturkreise. Das Indi-
viduum der Natur ist daher unter diesem Gesichtspunkte zugleich
ein Individuum der Geschichte. Aber das ist und bleibt der
Grundgedanke: dass das Individuum in dieser seiner erweiterten
Relativität dem Grundgesetze der Causalität unbedingt unter-
worfen sei. Auch die Causalität denkt man sich über die mathe-
matische Naturwissenschaft hinaus auf das ganze Gebiet der
Kultur durchgreifend.
Die Causalität ist der Leitgedanke der neuen Zeit
Ihr verdankt sie alle ihre Leistungen und Aspirationen; man
darf sie als den Geist der neuem Zeit bezeichnen. Daher muss
die neue Zeit gegen die Freiheit den Verdacht eines mittelalter-
lichen Rudimentes empfinden; von dem es sogar fraglich sein
kann, ob es durch eine andere Deutung und Wendung des Ge-
dankens der Wiederbelebung und Entwickelung fähig wird. Die
Verteidiger der Freiheit stehen daher zumeist auf theologischem
Boden, nachdem die Theologie sich nun einmal mit dem
rationalistischen Begriffe der Freiheit abgefunden hat. Und was
das Recht betrifft, so scheint das Strafrecht auf die Freiheit
nicht Verzicht leisten zu können. Das ist aber eine schlechte
Empfehlung für diese sittliche Idee. Andererseits hat allerdings
auch die logische Technik des Privatrechts ihr Interesse an
der Freiheit; um so härter und verwickelter wird aber auch
hier die Collision mit der National-Oekonomie.
So bildet die Oekonomie, als die Lehre vom rechtlich-
sozialen Verkehr, gleichsam die Instanz des Gewissens gegen die
laute Predigt der Freiheit. Und Physiologie und Pathologie
unterstützen diese naturalistische Negation. Auch der Begriff
ier Gesellschaft ist erst in der neuern Zeit in dieser ökono-
18»
276 Der Zusammenhang von Statistik und Politik.
mischen Bedeutung entstanden; und er hat sich sehr verstand-
licher Weise mit dem neuen Begriffe der Causalität verbunden
und verbündet. Die Gesetze erscheinen jetzt nicht nur unter
dem Nimbus der Edicta, sondern zugleich als starre Natur-
gesetze der Causalität; als Gesetze der Bewegung von Be-
völkerungsgruppen; und als das Fatum und als das Orakel
für ihr Wohl und Wehe.
Es kann jedoch kein ernsthafter Zweifel darüber bestehen,
dass die Bestreitung hier besser für die Freiheit sorgt als die
Beteuerung des Glaubens an sie. Denn der Zusammenhang
der Statistik mit der Politik macht es dieser oft unsanft und
unliebsam deutlich, dass es ihr nicht lediglich um die Erkenntniss
von Tatsachen zu tun ist; sondern dass diese nur das Mittel und
die Grundlage sein soll für die Anstrebung anderer Tatsachen,
besserer • Verhältnisse und gerechterer Einrichtungen. Wegen
dieser latenten Bücksicht auf die Zukunft nennt sie
sich Moralstatistik.
Kann der fromme Gedanke der Freiheit etwa die Verhält-
nisse der Wirtschaft und demzufolge die Normen des Rechts
abändern? Das Naturgesetz der Causalität allein vermag Einsicht,
und aus ihr heraus Hilfe zu Schäften; die Causalität ist das Gesetz
des Milieu; und nur im Milieu ist der Mensch erforschbar. Er ist
ein soziales Wesen; und in dieser erweiterten Bedeutung zur
geschichtlichen Natur ist er ein Naturwesen. In diesem er-
weiterten Sinne fasst der neue Begrift der Gesellschaft den neuen
Begriff der Causalität. Deshalb muss der Mensch wie ein Ding
betrachtet werden; denn er muss als ein Produkt der Verhält-
nisse, in denen er steht und fällt, bedingt und berechnet werden.
In seinem Milieu und aus ihm heraus erscheint er als der
mittlere Mensch, als der Durchschnittsmensch. Zu Gunsten
des Gesetzes, dem er eingerechnet werden muss, muss seine
Freiheit geleugnet werden. Denn das Causalgesetz allein ist das
wissenschaftliche Mittel, das Milieu zu verbessern.
Wenn diese Verbesserung aber das eigentliche Interesse
der Moral bildet, so muss es unverfänglich scheinen, die Freiheit
zu bestreiten; denn sie muss als ein das sachliche Problem der
Sittlichkeit hemmender Gedanke erscheinen. Es ergeht ihr, wie
es dem alten Satze des Grundes erging, als das neue Gesetz
Die Eudaemonie. 277
der Causalität aufkam. Aber ihr Ansehen wird noch haltloser
und verdächtiger; nicht einmal logischen Sinn scheint sie zu
haben. Denn jeder Gedanke, nicht nur jedes Ding, hat seinen
Grund; die Handlung des Menschen aber soll grundlos sein
dürfen; soll nicht einer erkennbaren Ursache entspringen. Oder
kann es etwas Anderes bedeuten, dass sie als frei gedacht werden
müsse? Eine Ausnahme von der Causalität ist eine Ausnahme
von der Begründung, also von der Erforschung; also von der
Möglichkeit der Verbesserung des Zusammenhanges, aus dem sie
nicht herausgedacht werden kann. Diese sozialen Zusammen-
hänge bilden gleichsam den Ahnenkultus und den Familien-
verband für alle menschliche Individualität. Sie sind Ahnungen
von der sittlichen Welt, welche in jene materielle Welt der
wirtschaftlichen Kämpfe hineinstrahlt; im Contraste um so
dringlicher an sie gemahnt.
Diesen Motiven für und gegen die Freiheit müssen nun
aber Gegenmotive gegenübergestellt werden, teils um die Freiheit
zu bekräftigen, teils aber auch, um die scheinbaren Gegenmotive
zu entkräften.
1. Das classische Altertum behauptet, so sagten wir, die
Freiheit in der Souveränität der Vernunft gegenül)er dem Hedo-
nismus. Indessen war bei Sokrat es selbst die Eudaemonie an-
erkannt; und Aristoteles durfte sie daher für beglaubigt halten.
Auch Epikur hat sich so läutern und retten lassen. Und wenn
nun gar nach der Stoa die Lust zu einem indifferenten Momente
CdS'.äcpopov) wird, so könnte es scheinen, als ob man dem Aristoteles
Recht geben dürfte, dass sie wie Etwas, das von selbst hinzu-
komme, anzusehen sei (d)^ £::iYqvo|isvöv v. tsXoc;). Freilich dass
dabei die Lust als Abschluss und Ziel bezeichnet wird, das ist
und bleibt falsch und verhängnissvoll; denn dasselbe Wort be-
deutet zugleich den Zweck. Zweck aber darf die Lust niemals
sein; so wenig als Bestimmungsgrund. Wird dagegen aber die
Freiheit und die sittliche Vernunft in einen unvereinbaren Gegen-
satz zur Lust gebracht, so geht dieser Gegensatz auch auf die
Eudaemonie über. Das ist fernerhin in Betracht zu ziehen. Zu-
nächst erw^ägen wir das Moment der Lust, sofern sie weder
Zweck, noch Bestimmungsgrund zu sein hat.
278 Lust als Werdeo oder Sein.
Mit der Lust hängt die Unlust unabtrennlich zusammen.
Den Inhalt in diesem Mischgefühle haben wir bereits als Affekt
kennen gelernt. Wird daher die Lust abgewiesen, so wird zu-
gleich der Affekt entwurzelt; damit aber wird dem Willen sein
unentbehrlicher Motor entzogen. Die Differenz zwischen Piaton
und Aristoteles an diesem interessanten Punkte, die sich auf
die ganze folgende Geschichte dieser Streitfrage ausdehnen iässt,
betrifft daher nur die Definition der Lust als Werden (^svsoi;),
oder als Sein (V/ia»a). Das Sein vertritt einen Inhalt, wenn nicht
gar einen substantiellen. Ein solcher ist der Affekt nicht. Da-
her hat die Stoa Recht, indem sie die Apathie, die Affekt-
losigkeit zum Inhalte des Willens macht. Sie ist die Voraus-
setzung für die Bildung eines rechten Inhalts, den der Affekt
nicht ausmacht; den er auch positiv nicht zu entwickeln vermag.
Nichtsdestoweniger aber ist die Lust unter dem Gesichtspunkte des
Mischgefühls festzuhalten. Das Werden weist auf die Mischung hin.
Wie falsch die Alternative zwischen Lust und Unlust ist,
das zeigt sich an der weitverbreiteten Fassung von Lust und
Unlust, als zweier Affekte; während sie nur vereinigt den Einen
Affekt bilden. Wenn dagegen die Lust vereinzelt genommen
wird, so wird andererseits auch die Unlust zu einer unvermeid-
lichen Triebkraft des Willens; und so entsteht die Mönchsmoral
der Depression und der Askese, bei welcher dennoch die Apathie
nur Schein und Simulation ist.
Daher ist der Zusammenhang der Lust, als des positiven
Momentes des Affekts, mit der Eudaemonie so intim und so
durchschlagend. Schon bei Sokrates kann man die Eudaemonie
als eine Reform gegen die Deisidaemonie, die Furcht vor
den Göttern ansehen. Es ist eine Art von natürlicher Religion,
welche gegen den Aberglauben von dem Neide der Götter Front
macht. So ist es ein unverkennbarer Rationalismus, der in der
Eudaemonie proclamiert wird. Wenn dagegen die Stoa keinen
Sinn hat für diese Aufklärung, die sie sonst doch so bewusst
und so wirksam fördert, so gibt sich diese Lethargie als ein
Symptom der politischen Mattigkeit zu erkennen, welche den
Zerfall der alten Welt kennzeichnet. Die Furcht vor dem
Weltende war wieder als Deisidaemonie an die Stelle der
Eudaemonie getreten.
Die Magenfrage. 279
Nicht viel andei'S steht es im Mittelalter; nur ist hier die
Zweideutigkeit, die bei der Abweisung der Lust unvermeidlich
ist, deutlicher aufgedeckt. Die Eudaemonie wird nur anders
gerichtet; bleibt aber darum doch mit dem Subjekt verbunden,
in dem sie so erregt, wie unterdrückt wird. Der arme Mönch
bettelt für den Reichtum der Kirche. Er deprimiert sich im
Gehorsam, um den Affekt der Herrschaft in den Oberen zu
expandieren, und demgemäss auch seinerseits, in seinem
Herrschaftsaffekte über die Laien an dieser Expansion teilzunehmen.
Die Keuschheit endlich, wie sie im Cölibat proclamiert
wird, kommt eigentlich erst in der neuesten Philosophie des
Obscurantismus zu ihrer logischen Consequenz, insofern
diese die Abschaffung der Menschheit als den Sinn erklärt, der
dem grossen Prinzip der Verneinung des Willens zum Leben
beiwohne. Im unphilosophischen Mittelalter galt die Keuschheit
nur als der Maulkorb gegen die Sünde; die schlechterdings nur
als die geschlechtliche Begehrlichkeit (Concupiscentia) gedacht
wurde. Die Lust wird daher nur anders dirigiert; dem bedrohten
und gefallenen Ich wird das Siegesgefühl des Heiligen gegen-
übergestellt. Wo Lust abgewehrt wird, da wird sie zur anderen
Tür nur um so vorlauter und berückender wieder hereingelassen.
Auch in der neuen Zeit erweist sich der Eudaemonismus,
als Affekt und als Motor gedacht, als ein aufrichtiger Freund
des sittlichen Fortschritts. Im Zeitalter der Erweiterung des Be-
sitzes und der Rechte muss die Verdächtigung des Eudaemonis-
mus die Hemmung und die Einschränkung der politischen Frei-
heit begünstigen; und kann sehr leicht als ein Vorwand frommer
Heuchelei wirksam werden. Eine solche herzlose Tendenz ent-
blödet sich nicht, in dem modernen Vorwurf sich blosszustellen,
dass der Sozialismus eine Magenfrage sei. Der Magen wird
hier zum Symbol der Eudaemonie gemacht. Man wolle nichts
Besseres als nur das Wohlbefinden des Magens anstreben. Des-
halb müsse man ein solches falsches Prinzip aus dem sittlichen
Prinzip der geistigen Freiheit, die über alle Magenleiden obzu-
siegen vermag, gesinnungstüchtig bekämpfen. Solcher Gesinnung'
gegenüber, die als blosse Unkenntniss heutzutage schwerlich ent-
schuldigt werden kann, wird der Trotz des Materialismus in der
Leugnung der Freiheit begreiflich.
280 Der politische Optimismus.
Wo die Lebenskraft unterbunden wird, da kann der Wille,
der reine Wille nicht gedeihen. Die Lebenskraft aber, die in der
Gesundheit der Gliedmassen, und also auch des Magens besteht,
sie betriffl nicht nur ein einzelnes, oder eine Minderheit von
Individuen; sondern es gilt, sie auf die breiten Schichten, dh in
ihrer überwiegenden Mehrheit das Volk bilden, zu verpflanzen.
Der Eudaemonismus der Magenfrage bedeutet nichts Ge-
ringeres als die Fürsorge der reinen Ethik für die Tatkraft des
reinen Willens und für die Reinheit des Selbstbewusstseins.
Dieser Eudaemonismus ist das Gegenteil von Egoismus. Darum
konnte und durfte er sich mit dem Sozialismus verbinden.
Dass er nicht das letzte, nicht das entscheidende Prinzip
bildet, das ergibt sich schon aus der Bestimmung des Affekts,
als eines Motors, nicht aber als eines Faktors; und wir werden
die weitere Consequenz davon in der Bestimmung der F'reiheit
zu suchen haben. Jetzt aber gilt es, dem Begriffe des Affektes
gemäss den geschichtlichen Sinn des Eudaemonismus zu erkennen
und zu würdigen. Wenn anders es das Prinzip der neuen Zeit
ist, die Rechte und die Normen des Charakters von Sonderrechten
zu entkleiden; die Gesamtheit des Volkes zur politischen Wehr-
haftigkeit zu entwickeln; dem Selbstbewusstsein gemäss zur An-
teilnahme am Staatswillen zu befreien, so ist dieser Wille, wie
aller Wille, durch den Affekt bedingt. Der Eudaemonismus
ist der politische Affekt der neuen Zeit.
Und die neue Zeit ist in diesem Affekte im innerlichsten
Zusammenhange mit dem 18. Jahrhundert, in dem die prinzi-
pielle Vorgeschichte der neuen Zeit, auch der bevorstehenden,
zu erkennen ist. Der Eudaemonismus des 18. Jahrhunderts
heisst Optimismus. Und wir begreifen die Vorliebe unserer
Classiker, die von Leibniz, wie die von Kant, für diesen als
langweilig und unfruchtbar angeschwärzten Begriff, wenn wir ihn
gegen die indisch aufgeputzte Apathie des unpolitischen Pessi-
mismus halten. Dass Schopenhauer den Optimismus verrucht
nennen konnte, dieses Eine Wort deckt die Leere der ethischen
Gesinnung auf, die in der politischen Gesinnung dieses Mannes
an den Tag kommt. Der Eudaemonismus des Optimismus kann
nicht der wahre Feind der Freiheit sein.
Die Kirche. 261
2. Auch in dem Grundmotiv des Mittelalters sind Licht
und Schatten wohl zu unterscheiden. Zuvörderst ist ein Nachteil
zu beachten, den es vom Altertum übernommen und fortgebildet
hat; wenngleich mit einem grossen Subjektswechsel. Im Alter-
tum concentriert sich alle Sittlichkeit im Staate. Die Freiheit
der Vernunft hat ihre Grenze an der Omnipotenz des Staates.
Plato schreibt seine Ethik in seinem Staate. Aus dem Makro-
kosmos des Staates leitet er den Begriff des Menschen ab; für
die Psychologie selbst, nicht allein für die Ethik. Auch bei
Aristoteles ist die Politik nicht etwa ein Anhängsel zur Ethik;
sonders sie ist unabhängig von ihr. Der Staat ist ein absolutes
Prius (TipoTcpov x"^ ^üosi). Im Kosmos des Staates ist der Organis-
mus des Menschen geborgen und versorgt. Darin liegt seine
Kraft, wie der Schutz seines Willens. Im Staate objektiviert sich
die Freiheit der Vernunft.
Das Mittelalter hat aus diesem Staate die Kirche
gemacht. Es wird als eine buchstäbliche Wahrheit
durchgeführt, dass der Papst der Stellvertreter Gottes wird; und
zwar nicht bloss auf Erden; denn er vermag auch im Jenseits
über die Seligen zu verfügen und sie zu Heiligen zu erhöhen.
Er ist die Kirche. Daher die harten Kämpfe um die Frage, ob
der Papst über dem Concil, oder das Concil über dem Papste
steht. Alle intimsten Angelegenheiten des sittlichen Daseins
werden der Kirche überantwortet. Das Individuum hat keine
eigenen sittlichen Pflichten oder Befugnisse; der Spruch der
Kirche regelt sein Gewissen. Wenn dennoch hier von Freiheit
geredet wird, so könnte diese bei günstiger Auffassung nur als
eine psychologische Fähigkeit der Lenksamkeit der Gedanken
verstanden werden; nicht aber als ein selbständiges Prinzip der
Ethik; als ein Prinzip, welches kraft seiner Ursprünglichkeit und
Selbständigkeit die Ethik selbständig macht.
Dennoch wäre es verfehlt, dem christlichen Mittelalter alle
Tendenz der Freiheit abzusprechen. Man muss hier nur die
politische Verfassung der Kirche nicht völlig gleichsetzen mit der
dogmatischen Verfassung der Glaubenslehren. Und auch inner-
halb des dogmatischen Lehrgebäudes sind Richtungen zu unter-
scheiden, die vielleicht um so wirksamer werden, je weniger sie
zur offenen Anerkennung gelangen. Hier aber haben wir den all-
282 Die Sünde.
gemeinsten Grundbegriff der christlichen Religion zu
verstehen und zu würdigen, den der Sünde.
Zwar hat die päpstliche Politik und Theologie in dem Be-
grifFe des Heiligen eine schwere Verletzung am Sündenbegriffe
begangen; dennoch aber konnte sie ihn damit nicht aus dem
Mittelpunkte des ganzen Glaubenssystems herausrücken. Wir sind
schon oben darauf aufmerksam geworden, dass der Begriff der
Sünde in einer engen Beziehung zu dem der Tugend steht. Der
Standpunkt des Sokrates kann allenfalls als genügend betrachtet
werden, um die Tugend zu sichern, oder wenigstens um sie zu
entdecken. Dahingegen gibt er keine Beruhigung über den Ur-
sprung und über die fortdauernde Macht des Bösen.
Selbst bei dem tiefsten aller tiefsten Denker, bei Piaton,
findet sich die anstössige Flüchtigkeit, dass das Böse als Contrast
zum Guten da sein müsse. Der ewige Wert der griechischen
Ethik liegt, abgesehen von ihrer wissenschaftlichen Begründung,
in der Erweckung und Durchleuchtung aller geistigen Kräfte für
den Begriff, für die Idee des Guten, und für die objektiven be-
grifflichen Merkmale der Tugend. Aber es ist, als ob ihr scharfes,
auch in der Moralisierung so scharfes Auge vornehmlich auf die
politische Sittlichkeit gerichtet wäre; weniger genau und inter-
essiert dagegen auf die privaten Irrgänge des menschlichen, des
sittlichen Labyrinthes.
Das ist ja eben das intime Verdienst, welches dem Mono-
theismus für die innersten Vehikel der Ethik zuerkannt werden
muss: dass er in dem Verhältniss des Menschen zu Gott
das Verhältniss des Menschen zu sich selbst zu einer le-
bendigeren Bedeutung brachte, als dies dem Polytheismus ge-
lingen konnte durch das Verhältniss des Menschen zu den vielen
Göttern. Er konnte dabei selbst nicht zu einer sittlichen Ein-
förmigkeit, oder auch nur zu einem sittlichen Einvernehmen
kommen. Ein sonderbares Beispiel bildet hierfür die Keusch-
heit, die als eine Sünde gegen die Aphrodite betrachtet wurde.
Eine Tugend gegen den einen Gott kann zur Sünde gegen den
andern Gott werden. Ueberhaupt aber muss die Zerlegung der
sittlichen Kräfte in die Abstraktionen besonderer Götter die Ge-
nauigkeit und Bestimmtheit der sittlichen Fragen beeinträchtigen,
da diese nun einmal nicht anders als in übersichtlicher Ver-
Die Erlösung. 288
bindung und Durchdringung zu durchschauen sind. Diese
Uebersicht gewährt allein der Eine, der einzige Gott. Das A'er-
hältniss des Menschen wird in allen seinen sittlichen Nöten auf
den Einzigen concentriert.
Daher konnte der mythische Gedanke des Pohiheismus von
der Ate der Geschlechter, wie missverständlich sie auch noch an-
klingt, hier nicht unwidersprochen bleiben. Der Prophet Ezechiel
hat nach dem Vorgange von Jeremia dieses grosse Aergerniss für
den Begriff des Menschen, wie nicht minder für den Begriff
Gottes, aus dem Wege geräumt. Es ist nicht die Sünde eines
Famiiiengeschlechts, noch auch etwa die Sünde des Menschen-
geschlechts, welche sich forterbt; sondern es ist „die Seele, welche
sündigt." Die Seele, die Person, sie ist das Individuum. Und
in der Sünde ist das Individuum zur Entdeckung ge-
kommen: Und es ist keineswegs die Freiheit der Verdammniss,
welche hiermit festgestellt würde; sondern zugleich mit der
Sünde des Individuums entdeckt Ezechiel den Begriff' der Busse,
wie das besser bezeichnende hebräische Wort der Umkehr nach
dem juristischen Kirchenbegriffe des Lösegelds gewöhnlich über-
setzt wird. In der Kraft der Busse wird die Freiheit als die
Fähigkeit zur positiven Sittlichkeit anerkannt. Dennoch aber darf
es nicht verschleiert und verkleinert werden, dass die Sünde der
vermittelnde Begriff wurde für die Erfüllung der Tugend. Zuerst
musste in der Freiheit zum Bösen die Freiheit entdeckt werden.
Wir waren schon darauf aufmerksam, wie die Sünde im
Christentum noch schärfer accentuiert werden musste, insofern
sie zu dem Begriffe der Erlösung, dem Grundbegriffe der Christo-
logie, das Correlat wurde. Jetzt forderte die Sorge für das ewige
Heil der Seele die peinlichste Genauigkeit im Begriffe der Sünde.
Es galt als die eigentliche Aufgabe der religiösen Moral, alle
geheimsten Falten des Herzens zu durchsuchen und zu ent-
blössen, um das Dunkel der Sünde grell zu lichten. Man kennt
die Schatten, welche dadurch über den Sonnentag der Sittlich-
keit sich festgelegt haben. Man kennt die Schäden, welche die
Beichte aus der Busse herbeigeführt hat. Dennoch aber dürfen
wir darüber die Verdienste nicht übersehen, welche die alte, die
entstehende Kirche durch diese anscheinende Mechanisierung
des Sündenregisters trotz alledem sich erworben hat. Man ver-
284 Die politische Entstehung des Christentums.
gisst zu leicht, dass der gebildete Polytheismus im Glänze der
Kultur zugleich ein Staatswesen hinter sich hatte, welches blühte
und reifte. Das Christentum dagegen hatte Völker zu bezwingen,
welche nur erst in den mythischen Anfangen der Kultur atmeten,
und in dieser ursprüngliche Heldenkraft darstellten. Da galt es,
das Heroentum zu demütigen, wenn diese Völker für die sittliche
Kultur gewonnen und erzogen werden sollten. Nur das Gespenst
der Sünde konnte diese Urmenschen und diese Helden schrecken;
nur durch die Vorhaltung der Sünde konnten diese Individuen
zu der Ahnung gebracht werden, dass der Sinn und Wert des
Individuums in anderer Richtung zu erleben sei, als in welcher
jene Titanen einer neuen Zeit dieses neue Weltalter an den Tag
der Geschichte brachten. In solcher geschichtlichen Besinnung
kann man allein das christliche Prinzip der Sünde richtig
verstehen und gerecht würdigen.
Während der Mensch in der Autorität der Kirche politisiert
wurde, empfing er in der Sünde ein scharfes Mittel zur Selbst-
erkenntniss und zur Begründung seines Selbst. In solcher
Selbsterkenntuiss bewährt sich das Prinzip der Freiheit; sie kann
nicht einen Widerspruch zur Freiheit bilden. Das wäre eine
falsche Freiheit, welche dem Dünkel Nahrung gäbe, als ob der
Mensch, wenn er nur will, das Gesetz des Willens zu vollziehen
gerade gut und stark genug sei. Vielmehr soll die Freiheit,
wie die Sünde, die Orientierung im ganzen Gebiete des Mensch-
lichen gründlicher machen helfen, um alle Schlupfwinkel der
menschlichen Gebrechlichkeit an das Licht zu ziehen. Und
nicht nur darf diese menschliche Mangelhaftigkeit als eine vor-
übergehende, und dai'um ebenso leicht zu vermeidende und aus-
zutilgende Schwäche gedeutelt werden, von der die Freiheit frei
machen könnte, wenn sie nur allein zu herrschen hätte. Der
Wille bewegt sich vielmehr, unaufhörlich auf dem indifferenten
Vulkan der Affekte, die ebensosehr daher zum Schlimmen, wie
zum Guten den Ausschlag geben. Daher bedarf der Mensch
stetig der unbestechlichen (2ontrole durch das Prinzip der Sünde.
Und je genauer im ersten Gifthauch, wie im ersten Lustwehen
des Antriebs die Regung der Sünde ertappt wird, desto schwieriger
würde die Rettung vor der Sünde sein zu müssen scheinen, wenn
nicht die Freiheit doch noch ein klareres und genaueres Prinzip
Luther. 285
zu bilden vermöchte. Aber diese Genauigkeit der Freiheit hat
die Genauigkeit der Sünde zur Voraussetzung. Die Sünde ist
das Erkenne Dich Selbst (jvÄ&t aauxov) der religiösen Moral.
Daher hat es einen wahrhaften weltgeschichtlichen Grund,
dass Luther seine neue Glaubenslehre unter dem Titel der Frei-
heit des Christenmenschen angekündigt hat. Die scholastische
Freiheit hat er bestritten, wie der Philosoph des Christentums,
Augustinus, sie bestritten hat. Aber seinen Glauben erkannte
er als Freiheit, und hat er als Freiheit bezeichnet. Nicht dass
er den ethischen BegriflF der Freiheit erfüllt, oder auch nur an-
gebaut hätte; denn einer ethischen Begründung widerspricht und
widerstrebt der Begriff der Erlösung durch den Gottmenschen.
Im geschichtlichen Sinne aber ist die Entwickelung der ethischen
Bedeutung der Freiheit an diese Freiheit des Glaubens gebunden,
welche die Reformation herbeigeführt hat. Der Kirche mit ihren
Heilsmitteln tritt jetzt der Glaube entgegen.
Wie die Propheten das Opfer bekämpfen, so bekämpft
Luther mit seinem Glauben die Werke, nämlich die Werke
der Kirche; nicht etwa das Werk der sittlichen Arbeit, der
Ausübung der Sittlichkeit. Die Werke der Kirche sind das
alte Opfer, das sich nur in ein Mysterium verwandelt hat.
Der Glaube darf diesen Werken als eine überlegene sittliche
Macht entgegentreten, wie sehr er auch seinerseits noch an das
Wort Gottes, an das Evangelium, oder selbst nur an die Person,
oder gar nur an die Idee Christi gebunden bleibt. Trotzdem ist
CS eine neue positivere Richtung der Selbsterkenntniss, welche in
diesem erneuerten Glauben die Welt erobert. Es ist die Inner-
lichkeit des sittlichen Selbstbewusstseins, in aller Scheu und Ehr-
furcht, aber auch in aller Zuversicht und allem Frohmut sitt-
licher Gewissheit, welche hier ihre Schwingen hebt. In diesem
Glauben, inhaltlich nur erst negativ klar bewusst, psychologisch
aber und daher auch aesthetisch im grossen Zuge und sichern
Fluge kündigt sich die sittliche Freiheit der neuen Zeit an; die
Freiheit für die sittliche, und daher auch die wahre Freiheit für
die aesthetische Kultur.
Gerade an der Grenze der ethischen und der aesthetischen
Kultur hat es sich bei dem Neubeginn einer andern neuen Zeit
erwiesen, wie die Freiheit ohne die Sünde nicht die richtige
2ÖB Der Fehler Rousscaus.
Losung, nicht die richtige Formulierung des Problems bringt.
Die Freiheit ist nicht das Wahnbild einer natürlichen Gutmütig-
keit des Menschen, die angeboren und unzerstörbar sei. Kann
sie in Wahrheit als unzerstörbar gedacht werden? Dann ent-
stünde ja das Problem gar nicht. Rousseau predigt aber die
Abkehr von der Kultur. Also in der Kultur erkennt er den
Widerspruch der Freiheit an. Er erkennt also die Sünde an;
nur verlegt er sie anderswohin; anstatt in das Individuum, wie
es die Religion tut, verlegt er sie in den Staat und in die Gesell-
schaß. Diese Abstracta können nun zwar nicht selbst sündigen;
die Sünde ist nun einmal das Specificum des Individuums. Daher
liegt in der Gesellschaft, im Staate, in der Kultur der Anlass und
die Ursache zur Sünde. Es sei eben nicht allein der Anlass, der
in der Kultur zur Simde läge, welcher die Kultur verdächtig
macht; sondern sie ist die Ursache des Bösen; deshalb muss sie
abgeschafft werden, und die Natur muss wieder die Welt erfüllen.
So wird hier die theoretische Kultur geopfert, um die sittliche
zu retten. Damit aber wird das Prinzip der Wahrhaftigkeit preis-
gegeben. Und so macht es der grandiose Fehler Rousseaus deut-
lich, was bei der Freiheit herauskommt, wenn sie ohne die
gründliche Anerkennung der Sünde gedacht wird.
Es ist ein Irrtum, wenn man selbst den christlichen Ge-
danken von der Erbsünde nur in dieser schroffen Einseitigkeit
auffasst, dass er die Freiheit ausschliesse, ausser sofern sie durch
die Erlösung, also von Aussen erworben wird. Freilich muss
der Schwung, mit dem der Apostel Paulus die herrliche Frei-
heit der Kinder Gottes besingt, wie das schöne Wort in der sehr
freien Uebertragung bei Luther lautet, besonnen geprüft werden.
Die Freiheit vom Dekalog darf sie eigentlich doch wohl nicht
bedeuten; denn diese würde zur teilweisen Entbindung vom
Sittengesetze. Und auch andererseits darf man nicht ausser Acht
lassen, dass der Mensch der ewigen Verdammniss verfallen bleibt,
wofern er nicht durch die Erlösung das ewige Heil zu erwerben
vermag. Die ewige Verdammniss bildet eben das Correlat
zum ewigen Leben. Und die ewige Verdammniss ist der sittliche
Ausdruck für den andern der natürlichen Erbsünde. Trotz alledem
ist es eine einseitige Beurteilung, wenn man die christliche Lehre
ausschliesslich oder vornehmlich aus diesem Gesichtspunkte
Das radicale Böse. 287
beurteilt, und den innerlichen, notwendigen Zusammenhang nicht
erkennt, der zwischen der Sünde und der Freiheit, weil zwischen
der Sünde und der Erlösung hier errichtet wird. In welcher Art
des Daseins diese Erlösung zur Wirklichkeit gelangt, darauf
kommt es in erster Linie nicht an. Im sittlichen Ernste, nämlich
für das lebendige religiöse, und auch das sittliche Bewusstsein
wird die Erlösung, sofern sie im Glauben gewonnen wird, auch
für das Diesseits wirksam. Und so wird es dadurch anerkannt
dass der Mensch keineswegs nur schlecht sei. Die Sünde
bezeichnet den Begrifif vom Menschen, welchem gemäss ein Abfall
vom Guten, ein Rückfall zum Bösen, aber ebenso auch ein Auf-
schwung zum Guten die möglichen Stadien der sittlichen Ent-
Wickelung bilden. So liegt keineswegs ein unausgleichbarer
Widerstreit zwischen den Begriffen des radicalen Bösen und
der Freiheit. Kant hat vielmehr einen tiefen Punkt in dem
sittlichen Bewusstsein aufgeregt, indem er das Vorurteil zerstörte,
unter dem die christliche Lehre zu leiden hat.
Den Anstoss bildet hier vielmehr der Begriff der Erlösung.
Denn wenn dieselbe auch nicht ohne Mitwirkung der sittlichen
Arbeit, welche der Glaube zu leisten und zu bedeuten hat, er-
worben werden kann, so bleibt sie doch immer, zwar nicht ein
Geschenk, aber eine Offenbarung, die von Aussen an den
Menschen, in den Menschen kommt. Und hier kann innerhalb
der Glaubenslehre selbst keine Correktur getroffen werden. Nur
wenn man die Dogmatik selbst in dem allgemeinen Processe der
Mythologie betrachtet, wie Schelling und auf seine Weise auch
Hegel^ dies getan haben, kann man in der geschichtsphilo-
sophischen Charakteristik dazu übergehen, die allgemeine kultur-
geschichtliche Wirkung zu unterscheiden von der Innern
religiösen, dogmatischen, mythologischen. Und aus diesem Ge-
sichtspunkte kann man der christlichen Erlösungslehre die Be-
deutung abgewinnen, welche aus dem mythologischen Begriffe
des Gottmenschen sich ergibt. Jetzt kommt die Sittlichkeit
nicht lediglich von Aussen, weil allein von Gott; sondern der Gott ist
zugleich Mensch. So gewinne ich die Erlösung und also die Freiheit
nicht allein von Gott, sondern zugleich auch vom Menschen.
Hier geht der Mythos mit dem Pantheismus zusammen.
Und von hier aus lassen sich die ursittlichen Bewegungen über-
288 Der Gottmensch.
schauen, welche aus beiden Quellen des sittlichen Bewusstseins
zu allen Zeiten stets von Neuem hervorgegangen sind. Beide
Quellen aber sind Quellen der geistigen, auch der sittlichen
Kultur; sie sind aber nicht lautere Urgründe der philosophischen
Erkenntniss. Auch der Pantheismus mag Religion sein;
Philosophie ist er nicht; sofern Philosophie als der
Idealismus der Selbsterkenntniss der Vernunft gedacht
wird. Zur Selbsterkenntniss gehört strenge Rechenschaft. Be-
deutsamer Weise bezeichnet der Logos im Griechischen Beides.
Daher ist es denn auch gekommen, dass, während in die
allgemeine geistige Kultur der pantheistische Gedanke des Gott-
menschen sich hindurchgewirkt hat, in der engern ethischen
Kultur die Erlösung nicht nur religiös stets nur als die Macht
des Glaubens an die Gottheit Christi gedacht und gefühlt
wurde, sondern dass auch das populäre sittliche Bewusstsein,
und zwar bis in die Spitzen der Bildung hinein, die sittliche
Kraft in einer innern, frommen Abhängigkeit von der Person
dieses Gottmenschen und seiner persönlichen irdischen Wirk-
samkeit festgehalten hat. Dieses Musterbild einer Person
widerspricht durchaus dem Begriffe der Freiheit, wie
er für das Selbstbewusstsein zu bilden ist. Es darf nicht gefragt
werden, was Christus getan hat, oder gar was er getan haben
würde, wenn ich sicher meinen Weg gehen, wenn ich den
rechten Anfang für meinen Weg nehmen soll. Es liegt in dem
Dualismus des Gottmenschen, dass erdiesesDoppelverhältniss
zur Freiheit bilden muss.
Nur wenn man die Person ganz fallen lässt, und dafür, wie die
tieferen Denker des Mittelalters, auch Leibniz und Malebranche
es taten, die Idee des Menschen einsetzt, und die Göttlichkeit nur
als die Idealität versteht, nur dann lässt sich diese Gefahr ab-
wenden. Diesen Weg ist in gewisser Weise auch Kant gegangen,
indem er dem ^Heiligen des F>angeliums" das Urbild des Sitlen-
gesetzes in die Seele gab. Diese Wege geht aber nur der abge-
standene Rationalismus, den Richtungen, welche Mythos für Ge-
schichte nehmen, als unhistorisch abtun zu dürfen meinen. Die
Romantiker waren es bereits, welche den Weg der Idealisierung
verliessen; sie waren darin allerdings zugleich Historiker, nämlich
als Politiker ihrer Gegenwart.
Das Leiden. 289
Das Verhältniss des Christentums zur Freiheit muss noch
von einem andern Gesichtspunkte aus betrachtet werden. Es ist
nicht allein und nicht im letzten Grunde die Sünde, welche hier
zur Freiheit in Beziehung steht, sondern zugleich das Leiden,
welches nicht allein eine Folge, sondern für welches ebensosehr
die Sünde ein Symbol ist. Wir hatten es schon beachtet, dass
das Christentum an der Schwelle der Völkerwanderung entstand,
sich gestaltete. Das Altertum starb ab; und neue junge Volks-
krafle tauchten aus dem Dunkel auf, mit ihrem urwüchsigen
Aberglauben und Uebermut. Ihre Naturkraft war von geistiger
Kultur nicht gemässigt und nicht gedemütigt. FAne Spur see-
lischer Schwäche stört aber auch die Einfalt des Wilden, ge-
schweige den Frieden des Barbaren, der in den Wettkampf mit
alten Kulturvölkern eintritt. Die Angst vor dem Ende ergreift
auch ihn. Daher steigt auch das Interesse an dem Anfang in
ihm auf. Sein eigenes Dasein und Ende fühlt er in der Ver-
grösserung des Weltendes, des Weltanfangs.
Das ist die natürlichste Frage des Menschen, sein natür-
lichstes Leiden, dass sein Dasein ein Ende nimmt. Es ist der
lauteste Zeuge gegen seine F'reiheit. An dieses mythische Grund-
motiv hat das Christentum angeknüpft, als es den Heiden sich
mitteilte. Die Angst vor dem Ende, der Schrecken des Todes
ist das Mene tekel des Heiden. Daher entstand das Streben nach
Vergottung. Die Idee der Unsterblichkeit war nur ein Ge-
danke der Philosophie und allenfalls der Bildung; die niederen
Volkskreise sahen die Möglichkeit der Unsterblichkeit allein in
der Vergottung. Wenn Paulus die Erlösung von der Aufer-
stehung Christi abhängig macht, so will er damit auch das Fort-
leben verbürgen; die Erlösung von der schweren Angst des
Irdischen, vom Untergange im Tode. Der Tod ist das Symbol
des menschlichen Leides, des menschlichen Lebens.
Aber auch die philosophischen Kirchenväter spinnen diesen
Mythos fort, und fassen aus diesem Gesichtspunkte die Mensch-
werdung Gottes auf. Deos facturus, qui homines erant,
homo factus est, qui deus erat. Da darf man denn wohl
einen tiefern Gedanken als Grund vermuten, der in dem Ge-
danken des Todes verborgen war. Es ist nicht allein die Be-
freiung von der Sünde, und auch nicht allein die vom Leiden,
290 Das traKt^hc Problem.
welche in der Vergottiing erstrebt wird: scindern e^ int «ii-r un-
gemeine Zug pant heimischer Mystik, der überall hervortritt, wo
die Vereinigung des Menschen mit (iott gesucht wird. Wie
wäre sie möglich? Möglich l'ür Ciott, wie für den MenM'lien*
Ist es nicht Blasphemie, wenn es nicht Mjihos sein kann*.' Die
Grenze des M\ihos ist die Poesie, l'nd es ist in der Tat das
aesthetische Bewusstsein, welches in diesem (irundzuge der Mystik
sich geltend macht. Die Religion hatte sich von Anfang an mit
diesem mythischen Ursprünge der Kunst versi'hwistert.
Das Ergreifende, das Welterschütternde an dem christlichen
Bewusstsein der Sünde und des I^idens ist die rel^ernahnu* des
tragischen Interesses. Diese ganze Heligion konnte als eine
ofTentliche, der Kunstdarstellung vergleichbare Verhandlung des
menschlichen Schicksals ersc^heinen. B€*i aller irdischen Macht
und aller Tatenfülle und llehlenkrafl svmlM>lisiert die Sundr da%
ewige Verlorensein, Daher die Verzw-eiflung ties Mensc'hen. «iie
Verzweiflung am Mens(*hen.
l'nd wie ergreifend wird nun erst das mens<*hliche heidi'n.
wenn man \on den (irossen diesi*r Krde auf die Muhseligen und
Belndenen herabsieht. Das K\angelium wurde den Armen ;:e-
predigt. Die Armen vorzugsweise sind die leidenden MenM*hcn.
Das Mitleid, der grosse tragis<*he AlTekt, er wurde zum vornehni-
liebsten christlichen Afl'ekte. Ks war wahrlich nicht allein die li.irt-
herzige Verweisung auf das Jenseits, der \ielmehr das wuhrballu«-
)elH*ndige Mitleid krallig widersprach, welch(*s in den macht- und
drang> ollen s<i/.iulen Veranstaltungen d(*s geistlichen Mittelalln^
Tat wurde; (*s war das tragivMie Problem, welcbi*s hier einf^iill
Hs handelt sich in der Tat um das tragisi-be Problem: nicbt
altein um ein tragisi-bes lnteri*sM* un dem traurigen DaM*in i\v\
Menschen; und zwar in dop|H*lter Ikviehung bei MMnem Knd«\
und in seinem Dasein. Das tru;i;iscbe Problem aber steht immei in
(konnex mit der Freiheit. In lirm MrelM*n nach Ver^ottung. nach
Krlosiin^ \on Schuld und Leiden ist rs im Cirunde nichts Anilrii*s
als die Krlosunu \(im Mens4*ht*n M^lbst, erlebe das Ziel bildri.
Die Vergottun;; ist nur ein Ausdruck Itir diesrs Zirl, di*r |h»mIi\
scheint. Das |^1 das tra;:iM*b(* Problrm tlass die Freibnt in
Fra;^:«* p-stellt, in Zwciffl ^^t-nukt ^ird. dass Me abrr «b'nn«H li
zur sa';;it*icben lliselimiuiu kommt.
Die Reformation. 291
Es lässt sich verstehen, wie die christliche Kultur von
Anfang an das antike Drama in sich erneuern musste; war es
doch mit ihm und seinem Prometheischen Ursprung durch den
Grundzug des Leidens verwandt. Die Freiheit aber hat erst
wieder aller Sünde und allem Leiden gegenüber Luther ans Licht
gezogen. Und es möchte in der Tat nicht allein die Mystik
hierbei den Ausschlag gegeben haben, sondern der politische
Geist Luthers, der die geistige Kultur selbständig machte, von
der Leitung der geistlichen befreite; der weltlichen Obrigkeit sie
anvertraute, und zu ihrer eigensten Pflicht machte. Auch
Christus hatte in seiner Sprache ein Amt. Und er ist ein Mensch
geworden, auf dass der Mensch seinem Nächsten werde, was
Christus Allen geworden ist
Das ist der grosse innerliche Fortschritt der Humani-
sierung des christlichen Gedankens, den die Reformation
vollzieht. Jetzt tritt die Vergottung der Freiheit nahe. Jetzt be-
deutet sie nicht lediglich die Befreiung von Sünde und Leiden.
Jetzt ist es der Begriff des Menschen, der in diesem Geiste
Christi zur Freiheit erweckt wird, weil zur sittlichen Arbeit am
Menschen. Vor dieser sittlichen Bedeutung der Religion konnte
der Unterschied zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen
nicht bestehen bleiben. Luther machte sich das grosse Wort
Moses zum Leitstern : Ihr sollt mir ein Reich von Priestern sein
und ein heilig Volk. Es gibt keinen kränkendem Widerspruch
gegen die Freiheit, als wenn der religiöse Charakter des Menschen
in Laien und Geistliche gespalten wird.
Diesem Grundfehler der katholischen Kirche entspricht die
Scheidung der Seligen in Heilige und Nichtheilige. Die Re-
formation hat diesen beiden Einrichtungen Widerstand geleistet ;
sie widersprechen dem Amte der Sittlichkeit und der Religion.
Und aus diesem Widerstände ist der positivste Charakterzug der
neuen Zeit erwachsen: der protestantische Staatsbegrift.
Er hat sich mit dem Gedanken des Naturrechts verbunden,
welches in jenen Tagen erneuert ward. Indem das Recht und
der Staat verweltlicht wurden, wurde die echte, wahre Sittlichkeit
auf Erden gepflanzt, im Staate begründet. So hat der Gesichts-
punkt des Leidens unmittelbarer als der der Sünde das Problem
der Freiheit auf die rechte Bahn gebracht.
292 Territorium und Staat.
3. Wir wenden uns wieder dem Grundmotive der neuen
Zeit zu. Es besteht in einer Verbindung der antiken Staatsidee
mit der christliehen Idee des Individuums; also in der Ver-
bindung der Politisierung mit der Individualisierung.
Im Grunde ist dies auch das Problem des Protestantismus.
Denn weder die Staatsidee, noch die des Individuums, bleibt in
ihm dieselbe wie im Katholicismus. Der Staat musste ein
anderer werden, da er die Kirche nicht über sich, geschweige
den Staat in der Kirche eigentlich enthalten denken durfte. Und
das Individuum durfte nicht ferner in der Kirche sein Centrum
haben; und wenn es darüber zersplittert und isoliert werden
sollte. Wäre dem Einzelnen gegenüber die Kirche allein eine
Monade, so mag immerhin das Individuum zum Atom werden;
wenn nur aus diesem Atom diejenige Einheit lebendig werden
kann, deren der Mensch für das Rechts- und Staatsleben bedarf.
Man sieht, dass der Protestantismus dem Kirchenstaate
gegenüber auf den antiken StaatsbegrifT zurückgreift. Die Atomi-
sierung wird nicht gescheut; das Individuum wird, als ein poli-
tisches Lebewesen, wie Aristoteles den Menschen definiert
hatte, der Staatshoheit untergeordnet; aber die Atomisierung
konnte den Organismus nicht schädigen. Ein anderes, wiederum
scheinbar isolierendes, naturalistisches Element trat hinzu, näm-
lich das des Territoriums; so wurde unter der Devise der
territorialen Landeshoheit und der Landeskirche der nationale
Staat gefördert; der selbst wieder nur ein Mittel war für den
modernen sittlichen Begriff des Staates.
Indessen musste die Atomisierung und die scheinbare
Materialisierung noch weiter entwickelt werden, um den mo-
dernen StaatsbegrifT ins Leben zu rufen. Und es war der Begriff
der Gesellschaft, dem diese Verwandlung zufiel. Er selbst
musste sich dazu erst verwandeln; denn wir hatten ihn früher
als den Stoischen Begriff der Societas kennengelernt, der sich
alsbald in den der Socialitas ausweitete; während er andererseits
in seinem ursprünglichen Rechtsgebiete seiner technischen Ent-
wickelung nachging. Das besondere Interesse, welches der Be-
griff der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert auf sich gezogen
und festgehalten hat, rührt nun aber von dem zweideutigen Um-
stände her, dass die beiden Bedeutungen der Gesellschaft,
Der Doppelbegriff der Gesellschaft. 293
die moralische und die rechtliche, sich in ihm verbunden,
in ihn verschlungen haben.
Wir betrachten jetzt die reclitliche Seite, wie sie unter dem
modernen Gesichtspunkte der Wirtschaft erscheint. In der
Wirtschaft bestehen die concreten Verhältnisse, deren abstrakte
Normen das Recht bilden. Bezeichnet der Staat das Herr-
schaftsgebiet, so die Gesellschaft das Verkehrsgebiet, das
Gebiet der Wirtschaft. Und die concrete Wirklichkeit, die der
Gesellschaft eigen ist, droht jetzt sogar dem Abstraktum des
Staates in sein Herrschaftsgebiet überzugreifen, da manche
Zweige der Herrschaft zugleich Verkehrsgebiete sind. Wie steht
es aber um das Verhältniss zwischen der Gesellschaft
und dem Individuum? Darauf kommt es uns hier beim
Probleme der Freiheit mehr an, als auf das Verhältniss zwischen
der Gesellschaft und dem Staate. Was bedeutet das Individuum
unter dem Zeichen der Gesellschaft?
Im Altertum erschien diese moderne Bedeutung der Gesell-
schaft vorzugsweise als Wirtschaft. Daher war das Individuum
in ihr der Sklave. Die neuere Zeit hat die Wirtschaft zum Ver-
kehr entwickelt. Daher ist aus dem Sklaven der Arbeiter ge-
worden. Denn das ist der Unterschied zwischen der Arbeit
und dem Sklavendienst: dass der letztere vorwiegend für die
Wirtschaft arbeitet; während die Arbeit im Dienste des Verkehrs
steht. Wenngleich nun dieser Unterschied nicht allein für den
Begritr der Kultur, sondern schliesslich auch für das Menschen-
wesen des Arbeiters von einem nicht zu unterschätzenden Unter-
schiede ist, so bleibt der naturalistische Gesichtspunkt dennoch
freilich berechtigt und theoretisch begründet. Das Individuum wird
j^tzt nicht nur allgemein, wie wir es früher betrachtet hatten,
durch sein Milieu bedingt; sondern es wird in seiner ganzen
Lebenstätigkeit, die in einer unerbittlichen Ausdehnung sein
ganzes Dasein ausfüllt, von Aussen beherrscht und bestimmt
Ks drückt sich diese innerste Abhängigkeit seines Daseins in der
Correlation aus, die sich an seiner Lebenstätigkeit vollzieht: es
hat nicht sein Bewenden dabei, dass er Arbeiter ist; denn er
kann die Arbeit nicht aus sich heraus beginnen; er wird zum
Arbeitnehmer vom Arbeitgeber.
294 Qu^telct.
Diese Correlation trägt den Stempel der Bedingung an sich ;
daher begreift es sich, dass die Causalität zur Signatur des
Menschen unter diesem Zeichen der Arbeitsgesellschaft wurde.
Wir haben es schon betrachtet, wie die Causalität in der Moral-
statistik ebensosehr ein wichtiges praktisches Hilfsmittel wurde
für die Hebung und Verbesserung der wirtschaftlichen Verhält-
nisse, wie ein theoretisches für die Erforschung der moralischen
Lage in ihnen. Die Causalität hat sich als eine Macht bewiesen
gegen die gewissenlose Willkür, wie gegen die Unwissenheit, die
einen Schutz der Willkür bildet. Schlözer hat diesem Begriffe
der Gesellschaft den metaphysischen Namen der Metapolitik
gegeben. Und er gehört zu den ersten Statistikern. Süssmilch,
der Hofprediger unter Friedrich dem Grossen, hat seine Statistik
mit dem Titel der Göttlichen Ordnung bezeichnet. Das ist
ein Ausdruck ganz im Stile von Leibniz. Süssmilch nennt die
Gesetzmässigkeit, die er nach den Kirchenlisten an den Hand-
lungen der Menschen zu bestimmen sucht, eine göttliche Ordnung;
die Freiheit ist ihm nur gleichsam als die Freiheit Gottes ein
Problem, welches die göttliche Ordnung zur Auflösung bringt.
In dieser aber muss er auch die Freiheit des Menschen geborgen
und gesichert glauben.
Quetelet bezeichnet sein Problem als Physique sociale.
Aber die Freiheit wird doch als eine der causes accidentelles
dabei anerkannt. Also ist der Mensch doch nicht lediglich
Produkt, sondern auch Ursache. Der Geist des Menschen c hange
la culture; und er gelangt dazu, die statistischen Mittelwerte zu
alterieren. So erweist sich die Causalität in dem statistischen
Mittel zwar als ein wichtiger Faktor, zunächst für die Er-
forschung und Erkenntniss des menschlichen Schicksals, dadurch
zugleich aber auch für die Verbesserung des Loses der Arbeiter
und der Hebung ihrer Kulturlage. Es ist nicht minder jedoch
auch im Individuum selbst eine Art, ein Rest von Freiheit
anerkannt geblieben.
Die Statistik selbst, die sich als soziale Physik aufbaut,
kann des Gedankens der Freiheit nicht entraten. Sie braucht
sich nur auf die praktischen Ziele, von denen sie ernsthaft
geleitet wird, zu besinnen, um darüber ins Klare zu kommen.
Sie will dem Elend steuern, das unaufhaltsam wird, wenn sie
Die Voraussetzung für das Ziel der Moralstatistik. 295
nicht die Augen darüber öffnet. Sie will es verhindern, dass nur
das Strafgesetz über die Menschen walte, die durch das Elend in
das Verbrechen gestürzt werden. Gehört nicht aber auch zu dem
richtigen Ansatz und zur richtigen Leitung dieser Verbesserungen
der richtige theoretische Gesichtspunkt?
Wäre es aber richtig zu denken, dass es gleichgültig sei,
unter welcher Maske dem Menschen geholfen würde, wenn ihm
nur geholfep wird? Ist das Zuckerbrot auf die Dauer ein besserer
Trost und ein besserer Schutz, wenngleich ein angenehmerer als
die Peitsche? Und ist es auch nur ein Zuckerbrot, wenn der
Mensch zum Tier, zum Arbeitsvieh gerechnet wird; sofern zur
Verbesserung der menschlichen Lage, welche die Statistik anzu-
streben hat, nicht minder auch die theoretische Kultur gehört;
und zwar nicht an letzter, sondern an centraler Stelle. Mit der
Magenfrage soll man anfangen dürfen; aber das Centrum muss
von allem Anfang an die Frage des Geistes bilden; die Frage der
geistigen, also der sittlichen Freiheit.
So geht selbst aus dem Zweck und Ziel, dem die Moral-
statistik zusteuert, die Bedeutung hervor, welche von der Idee
der Freiheit behauptet und vertreten wird. Wäre der Mensch
schlechterdings nur das Produkt der ökonomischen Verhältnisse,
so verlohnte es sich streng genommen nicht, für die Verbesserung
seiner Lage anders als aus einem Gesichtspunkte der Philanthropie
zu arbeiten; als das Problem und als der Weltkampf der Ethik
könnte dann diese Aufgabe nicht gelten. Denn wenn die
besseren Verhältnisse den Menschen glücklicher machen sollten,
so wäre damit noch nicht einmal bewiesen, dass sie allein auch
nur sein Wissen und seine Einsicht stärken und erhöhen
könnten. Es möchte zu bezweifeln sein, ob die theoretische
Kultur lediglich dadurch gehoben werden könnte, dass die ver-
besserten materiellen Verhältnisse den gesamten, nicht abge-
brochenen Schulbesuch allgemein machen und zur staatlichen
Pflicht machen würden, wenn die Voraussetzung nicht zur Mit-
wirkung käme, die hier in Frage steht. Und wenn man selbst
für die theoretische Kultur sich dieses Zweifels entschlagen
möchte, so wird man ihn nicht fallen lassen können für die
ethische Kultur.
296 Marx.
Liesse sich die These durchführen, dass die besseren öko-
nomischen Verhältnisse an sich und ausschliesslich die Sittlichkeit
des Menschen verbessern könnten, so würde diese These zugleich
besagen, dass es kein Problem der Sittlichkeit gebe. Der Schein
des Wohlverhaltens wäre alsdann nur der Reflex des
Wohlbefindens. Damit aber würde nicht bloss die Sittlichkeit
zu einer Chimäre; sondern es würde damit auch dem Rechte
nicht allein seine ethische, sondern auch seine logische Grund-
jage entzogen. Die Begriffe der Handlung und des Rechtssubjekts
würden ebenso hinfällig, wie der Begriff des Selbstbewusstseins.
In dieser Consequenz liegt der Fehler der soge-
nannten materialistischen Geschichtsauffassung, der
soviel Staub aufwirbelt; mit dem man sich gegenseitig in pole-
mische Distanz versetzt. Besser ist es hier, über die Unklarheit
der Stichworte hinweg die innere Verständigung zu suchen und
anzustreben. Wenn der Sozialismus eines Marx von seiner
hohen geschichtlichen Warte aus die zwingende Macht der
materiellen Verhältnisse eindringlich machen will, so wird er
unversehens zum Satyriker. Der sittliche Feuergeist spornt seine
ganze grosse Arbeit; die theoretische, wie die praktische. Pe-
dantisch ist es, einem solchen Gesandten des Gottes der Geschichte
die Sprüchlein der spirituellen Moral vorzuhalten; und ihm zu
bedeuten, dass er die Urkratt des Ich verkannt und verleumdet
habe. Freilich ist es ein Fehler, den schon Mephisto gezeichnet
hat: an Körpern klebt es, die Körper macht es schön. Aber
wenngleich das Licht doch immer nur eine besondere Art der
Materie ist, so muss der Geist hingegen, zumal der sittliche, zwar
in seinem unentrinnbaren Zusammenhange mit der Materie, zu-
gleich aber auch in seinem Eigenlicht erkannt werden. Die
materialistische Geschichtsansicht ist ein logischer
Fehler; aber es gibt nichts Verkehrteres, als daraus
einen ethischen F'ehler zu machen. Denn damit muss jede
Verständigung unmöglich zu werden drohen. Der Geist des
Rechtes und der Sittlichkeit wird aufgerufen; und durch grosse
theoretische Arbeit wird seine Beschwörung herbeigeführt. Wie
vermessen und wie kleinlich und äusserlich ist es, bei einem
solchen Schauspiel in die Scene hineinzurufen: die Schauspieler
seien nicht besoldet, sondern sie spielten aus reinem Vergnügen
Produkt und Faktor. 297
und freiem Willen. Sie sind aber chargiert. Die Frage ist nur,
ob sie trotzdem zugleich freien Willen haben, und haben können.
Ein logischer Widerspruch steckt in der materialistischen
Geschichtsansicht, den aber der sittliche Geist, der in dieser
ganzen Theorie pulsiert, zur Selbstcorrektur bringt. Es ist der-
selbe Widerspruch, den man auch in dem Grundworte der Ge-
sellschaft, welches diese ganze Bewegung leitet, zu erkennen
hat. Es ist, genau genommen, auch nicht richtig, zu sagen, der
Begriff der Gesellschaft trete in zwei Bedeutungen auf, einmal
als Wirtschaft, und sodann als sittliche Correktur des positiven
Staatsbegriffs. Diese beiden Bedeutungen bilden in demselben
Begriife den Widerspruch der materialistischen und der ideali-
stischen Geschichtsansicht. Nach der einen Bedeutung der Ge-
sellschaft wird das Individuum nicht sowohl als ein soziales, als
vielmehr als ein ökonomisches Wesen beurteilt und gewertet.
Nach der andern Bedeutung hingegen wird der Mensch im sitt-
lichen Sinne als soziales Wesen zum Problem gemacht. Aus
der einen Bedeutung entsteht soziale Physik; aus der
andern soziale Ethik.
Wie können Beide sich vereinbaren, so dass der Widerspruch
gehoben wird? Wie kann derselbe Begriff den Menschen einer-
seits zu einem Produkt und Facit machen, und als solches be-
weisen; andererseits aber ihn als einen Faktor proclamieren,
dessen Wirksamkeit und Wirklichkeit nur unterbunden wäre;
dessen Reich aber die Zukunft bilde? Denn, um es nochmals
kurz hervorzuheben, dass der sittliche Begriff der Gesellschaft
aufgestellt werden dürfte, ohne den eigenen Wert des Indivi-
duums und ohne seine innerste Unabhängigkeit von allen mate-
riellen Verhältnissen als das eigentliche Problem zu behaupten,
das ist gänzlich grundlos und gedankenlos. Wer sich auf die
These versteigt, dass der Mensch schlechterdings das Produkt der
Wirtschaft und des Verkehrs «ei, gerade weil er als Producent
derselben bedingt und verdingt sei, der hat sich Mephisto ver-
schrieben; der hat den Unterschied zwischen der Materie und
dem Geiste und der Sittlichkeit des Menschen preisgegeben.
Der Geist des Menschen ist seine sittliche Freiheit. Das
ist das eigentliche Problem der Ethik. Und darin ist
sie die Lehre vom Menschen.
296 Die Freiheit als Kraft.
Das Problem der Freiheit unterscheidet sich daher von
allen den anderen Problemen, welche in den bisherigen Begriffen
enthalten waren. Man kann sagen, der Begriff des reinen Willens
bilde eine Grundlegung, welche eine Bedingung der Ethik sei.
Liesse sich diese Grundlegung nicht durchführen, so würde der
Begriff der Ethik hinfällig; aber man könnte meinen, noch ander-
weit den Begriff des Menschen feststellen zu können. Und was
das Recht betrifft, dem alsdann auch die Handlung und das
Subjekt entfielen, so könnte man meinen, auch ohne ethische
Begründung das Recht ausbauen zu können. Hier aber bei der
Freiheit handelt es sich, so muss es scheinen, weniger um die
Ethik als um den Menschen. Welcher Begriff des Menschen
bleibt übrig; welches Bild des Menschen kann man sich
machen, wenn er durchaus nur geschoben wird, und zu schieben
glaubt; wenn seine Freiheit Nichts ist als ein eitler Wahn und
eine schädliche Illusion?
Das ist die Schwierigkeit in dem Begriffe der Freiheit. Es
hat den Anschein, als ob diesem Problem gar nicht durch die
allgemeine idealistische Methodik genug getan werden könne;
als ob damit nicht geholfen wäre, wenn die Freiheit als Idee,
also als Grundlegung, als Hypothesis der Ethik nachweisbar
würde. Man verlangt mehr von ihr, sie soll sich als eine reale
Kraft für den lebendigen Menschen bewähren; denn dieser und
nichts Anderes sieht in Frage. Man sieht, die Freiheit scheint
an der Grenze der reinen und iler angewandten Ethik zu stehen.
Es genügt nicht, sie als Prinzip zu fassen; sie soll zugleich für
die Verwirklichung des Prinzips die Befugniss und das Vermögen
bedeuten. In dieser gesteigerten Bedeutung ist die schwierige
Complication begründet, welche zu allen 2^iten das Problem
der Freiheit umgeben; welche ihre Klärung erschwert hat.
Die Freiheit wurde nicht als eine Idee gedacht;
sondern, wie alle Ideen, als eine Tatsache; als eine
Kraft und Macht. Den geschichtlichen Gegensatz gegen den
Materialismus bildet keineswegs der Idealismus, sondern der
Spiritualismus. Das macht eben den Streit um die materialistische
Geschichtsauffassung so peinlich, dass der Materie nicht die Idee,
es sei denn im Worte, entgegengehalten wird; sondern in der
Idee ein materiell, wenn auch, wie Kant sagte, überfein gedachter
Die Antinomie. 299
Geist. Als ein solcher Spiritus wird auch die Freiheit gedacht;
wie denn Spirits auch bei erleuchteten Geistern sogar in den
causalen Mechanismus sich einschleichen. Dieser Seelengeist
der Freiheit hat das Problem der Freiheit offen oder versteckt
beherrscht; und er hat es verschuldet, dass es nicht zur Ruhe
und nicht zur Lösung kommen konnte. Diesem freien Seelen-
geiste tritt entgegen die Idee der Freiheit, wie Kant sie auf-
gestellt und aufgerichtet hat.
Kant hatte die Freiheit als Idee, als transscendentale Idee
schon in der Kritik der reinen Vernunft ausgezeichnet; ihre Be-
gründung und Darstellung aber haben erst die Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft
gebracht. Man kann hier an diesem centralen Punkte in die
innerste Werkstatt der kritischen Arbeit hineinschauen. Die
Entwickelung, welche die Formulierung des Problems in den
späteren Schriften der Ethik genommen hat, ist nicht in der
geraden Linie erfolgt, welche die theoretische Kritik vorgezeichnet
hatte. In der Kritik der reinen Vernunft steht Kant im Banne
der alten Metaphysik. Nach ihr ist der Antinomie nicht aus-
zuweichen: entweder Freiheit, oder causale Notwendigkeil. Wird
die causale Notwendigkeit als das allgemeine Naturgesetz aner-
kannt, so kann es keinen Spielraum für die Freiheit geben.
Wird die Freiheit anerkannt, so ist das Causalgesetz als Natur-
gesetz verdächtig. Und der Wunderglaube zeigt genugsam,
dass die Freiheit nicht die einzige Bresche bleibt, die in das
Naturgesetz geschossen wird.
Kant hat diese Antinomie der alten Metaphysik aufgelöst.
Er macht hier seine Unterscheidung wirksam zwischen der Er-
scheinung und dem Ding an sich. Wir haben schon in der
Logik der reinen Erkenntniss es erwogen, welche grosse Schwierig-
keit durch den Begriff des Ding an sich in dem Systeme Kants
stecken geblieben ist. Er hat es nicht ins Klare gebracht, worauf-
hin doch seine ganze Terminologie abzielt: dass das Ding an
sich gleich sei der Idee, welche gleich ist dem Prinzip
des Zwecks. Wenn daher nach Kants Auflösung der Antinomie
die Notwendigkeit auf die Erscheinungen sich beziehe, so bezieht
sie sich in diesen auf die verbürgten Gegenstande der Erfahrung
und der Wissenschaft. Und wenn dagegen die Freiheit auf das
300 Der Charakter.
Ding an sich zu beziehen sei, so bezieht sie sich nicht auf Dinge,
noch an sich auf Personen, sondern lediglich als eine Idee, also
als ein Zweckprinzip auf ein Problem, zu dessen Behandlung sie
als die zweckmässige methodische Idee zu erkennen und zu
behaupten sei. Einen andern Sinn kann und darf diese Unter-
scheidung zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich,
diese Auflösung der Antinomie nicht haben.
Nun ist aber eine neue Schwierigkeit dadurch in die Ter-
minologie Kants bei dieser Frage gekommen, dass es sich doch
eben hier nicht allein um eine Grundfrage der Ethik handelt,
sondern zugleich um eine Frage der rationalen Psychologie,
welche man wie eine Vorfrage der Ethik ansehen kann. In der
rationalen Psychologie hat Kant das absolute Ich als die Fehl-
geburt eines Paralogismus entlarvt Um so sicherer fühlte er
sich gegen den Verdacht, als ob er bei der Freiheit ein solches
Absolutum einlassen könnte. Aber die Terminologie nährte
dieses Misstrauen. Es handelt sich um die Frage des Gesetzes.
Die Freiheit soll keinen Widerspruch zum Gesetze bilden dürfen.
Das Gesetz soll in zwei Richtungen formuliert werden: als das
Gesetz der Vorgänge, und als das Gesetz der Handlungen; als das
Gesetz der Naturnotwendigkeit, und als das Gesetz der Freiheit.
Kant braucht nun aber für den Ausdruck des Gesetzes den Aus-
druck des Charakters; offenbar nicht ohne daran zu denken,
dass damit der herrschenden Auffassung von dem freien Ich Vor-
schub geleistet wird. Er gebraucht zwar auch den Ausdruck des
Charakters für das Gesetz überhaupt; aber für das Naturgesetz
scheint dieser Ausdruck absonderlich; gemünzt muss er auf das
ethische Gesetz sein. Damit aber ist eine grosse Schwierigkeit
über das ganze Problem gekommen.
Denn der Charakter, als ein angeborener, ererbter Grund
des menschlichen Wesens, bildet wahrlich kein geringeres
Hemmniss für die idealistische Ethik, wie das absolute Ich der
rationalen Psychologie. Der Charakter bildet das unseligste Vor-
urteil, welches die Paedagogik hemmt, und die Strafrechts-
pflege scheinheilig macht; und auch die Poesie in das schlüpf-
rigste Fahrwasser bringt. Der Charakter ist das Widerspiel der-
jenigen Freiheit, welche die Ethik meint. Wie man im Mittel-
alter den Wahnsinnigen für besessen hielt, oder den Kropf für
Die Idee als Zweck. 901
den Sitz eines bösen Dämons ansah, einen solchen Aberglauben
bildet auch der Charakter. Die Freiheit darf nicht mit dem
Charakter in Verbindung gebracht werden. Hier zeigt
sich die ungünstige Nachwirkung der mangelhaften Klärung des
Ding an sich. Im Charakter war der homo noumenon doch
in einer gewissen Dinglichkeit festgehalten. Und jetzt hilft es
Nichts, wenn noch so scharf und eindringlich der Unterschied
festgestellt wird zwischen dem empirischen Charakter und dem
intelligibeln Charakter.
Kant hat mit der denkbarsten Deutlichkeit und schärfsten
Nachdrücklichkeit es ausgesprochen, dass der empirische
Charakter unfrei sei; also eigentlich des Namens des Charakters
verlustig gehe; dass er dem Causalgesetz unterworfen sei. Er
hat es rundweg ausgesprochen, dass der empirische Charakter,
wenn er erkennbar würde im Regress der Ursachen und
Wirkungen, sich alsdann ebenso berechnen lassen müsste, wie
eine Mond- oder Sonnenfinsterniss. Es hat doch Alles dies nicht
ausgereicht, um seine Freiheitslehre klarzustellen und fruchtbar
zu machen. Denn der intelligible Charakter stand wie
ein Widerruf im Hintergrunde.
Man beachtete nicht; man erkannte es nicht, dass dieser
nicht ein Ding an sich bedeuten dürfe; dass er nur, wie dieses
selbst, wie das Noumenon überhaupt, eine Idee zu bedeuten
habe, die kein Dasein, sondern nur ein Sein hat, insofern sie
einen Zweck verwaltet. Diese Unterscheidung, diese alleinige
Bedeutung der Idee trat zurück gegen das Gespenst, als welches
der intelligible Charakter wieder heraufzutauchen schien. Man
hat es ja bei Schopenhauer genugsam erlebt, wie die alte
Metaphysik an diesen Missverstand sich anklammerte. Dieser
falsche, dieser gefälschte Charakter wurde als der Grund des
menschlichen Wesens ausgegeben; wie der Wille überhaupt zum
Weltengrunde gemacht wurde. Dass der intelligible Charakter
zum mindesten selbst auch intelligent sein müsse, das übersah
man, indem man den Willen, als den Charakter und als das
Ding an sich, dem Intellekt entgegenstellte. Doch diese Weisheit
sollte ja eben die originale sein.
Ganz andere Wege geht Kant in der Behandlung der Frei-
heit in seinen ethischen Schriften. Auch hier spricht er sich
'3ü'2 IHe Autonomie.
nicht Kfin^lich frei und unabhängig von den früheren Erörterungen
aus, die doch in der Rücksicht auf die alte Metaphysik sich
)}ewegt hatten; obwohl er eigentlich von diesem Zusammen-
hange sich al)gelust hat. Der Beweis für diese Aldosung liegt
in dem entscheidenden Umstände, dass er für die Freiheit
nunmehr einen andern Namen einsetzt, nämlich den der
Autonomie. Aber auch «lamit kann die Schwierigkeit nicht
ganz gehol>en sein; so müssen wir la*fürchten: denn er spricht
es nicht aus: dass die Autonomie, als ein neuer He*
griff, an die Stelle der Freiheit trete, als des BegrilK
der alten Metaphysik.
Diese Fordenmg ist nicht etwa eine äusserliche; denn es
handelt sich lH*i der Autonomie in der Tat um ein anderes
Problem, um eine andere Stellung der Frage. Hei der Freiheit
handelt es sich um den Ursprung der Handlung; dieser miII
einen absoluten Anfang der Handlung luHieuten, der jc*<le andere
Art von Ursache ausschüessl. Hin solcher absoluter Anfang drr
Handlung kann nur gedacht werden im Zusammenhange mit dem
absoluten Ich der handelnden Person. Das ist das Problem diT
alten Metaphysik; das Problem ist daher nicht in erster Linie tias
<ier Absolulheit der Handhing, sonden der Person.
Hei der Aiitfmomie dagegen handelt es sich um den Ur-
sprung des (ir setz es. Das (irsct/ erst macht die Handluti;;
/ur Handlung: nicht tlie Pervm, nicht das Ich. Damit ist auch
das Interesse* am Problem geändert Ks han^t nicht mehr an dein
undurchdringlichen Dunkel eines freien Anfangs der Handlun,;.
sondern es wird gerichtet auf «iie (trund traue aller ectilen \VisM*n-
schafi, auf die Fra^e des (ies4*t7es Und ^^enn die Möglichkeit
der Klhik, wie Kant ilies \ornehinlich leststrllt, aiil der .Möglich-
keit des SiltengCM'l/es iHTuht. so >%ird dies \on jet/t ab /ur
Fra^e ^^elche lk*deutunK die Freiheit annimmt aus dem nun*
mehr gewonnenen Ueniruin des Iies4*t/es So entsteht aus dem
Itt'^riMe der allgemeinen (ieset/^ebung ilie .Sei bstgesel/-
^e billig, die Auton<Miiie.
Dievn Ziisjimineiihaii;; /%%isclien dem ersten rirundlN-i^itlle
des (icNet/es und dem /weiten der Autonomie miiss man sich
klarniaclieti. um /ti ei kennen, dass Kant jenes millelallei luhe
Intet es>e an «ler l**ieilieit eile«h;^t und \on sieh abKesehiiltell hat
Der Endzweck als Selbstzweck. 903
Gewöhnlich aber nimmt man den kategorischen Imperativ
nur in der ersten Bedeutung, des Gesetzes im Unterschiede von
der Maxime; die anderen Fassungen aber, welche die Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten in herrlicher Klarheit entwickelt,
hat man dem Bewusstsein der allgemeinen Bildung entzogen.
Sie declarieren die Idee der Menschheit und die poli-
tische Idee des Sozialismus. Das sind zwei Ideen, für welche
nur noch Fichte Sinn und Herz hatte.
Und doch hatte Kant diese beiden Ideen in einen engen
begrifflichen Zusammenhang gebracht, durch welchen eine
jede von ihnen in strenger systematischer Terminologie begründet
ist. Die Idee der Menschheit bedeutet den Zweckvorzug der
Menschheit. Der Zweckbegriff, den jede Idee für ein bestimmtes
Problem zu vertreten hat, kommt hier zu inhaltlicher Anwendung.
Die Menschheit wird durch den Zweck bestimmt; nicht etwa
nur, um irgend eine Frage für die Behandlung zu klären, und
zu einer begrifflichen Lösung zu bringen; sondern um ihr in dem
Zwecke ihren inhaltlichen Begriff zu geben. Es gibt keinen ge-
naueren Inhalt für den Begriff der Menschheit als den des
Zwecks. Der Zweck ist daher der Zweckvorzug der Menschheit.
Alle Dinge sind ebenso auch Mittel, wie sie Zweck sein können.
Der Mensch dagegen darf nur so weit Mittel sein, als er zugleich
Zweck bleibt. Daher ist er Zweck an sich selbst. Kant hat
dafür auch den Ausdruck Endzweck gebraucht, der wiederum
wegen seines theologischen Anklangs in seiner politischen Pointe
nicht aufgefasst worden sein mag. Indessen hat es Kant
doch sicherlich hier nicht an aggressiver Deutlichkeit fehlen
lassen, wie dies in der dritten Fassung des kategorischen Impe-
rativs für die Idee des Sozialismus unverkennbar hätte werden
müssen.
Der Idee der Menschheit gegenüber bezieht sich die Idee
der Gesellschaft, die Idee des Sozialismus auf das Einzelwesen
des Menschen; und an ihm erst wird der Begriff des Menschen
vollendet. Der Begriff des Endzwecks wird jetzt klar-
gestellt als der Begriff des Selbstzwecks. „Handle so, dass
Du Deine Person, wie die Person eines jeden Andern jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.'' In diesen
Worten ist der tiefste und mächtigste Sinn des kategorischen
801 £>cr neae Sinn der Freiheit.
Imperativs ausgesprochen; sie enthalten das sittliche Pro-
gramm der neuen Zeit und aller Zukunft der Welt-
geschichte.
Sie decken die Hohlheit auf, welche die seitherige Kultur
mit dem Begriffe des Menschen verbindet, der immer nur, wie
es die antike Naivetat des Aristoteles bezeichnet hat, als Werk-
zeug behandelt wurde, für das Abstraktum der Kultur, welches
man jenem Mittel zum Zweck setzte. Dass der Zweck concreter
und lebendiger und persönlicher in jeglichem Menschenantlitze
bewährt und verwirklicht werden müsse, das wird durch das Abs-
traktum der Kultur verschleiert. Jene ewigen Worte aber zerreissen
diesen Schleier, indem sie die Person von Jedermann zum Zwecke
an sich selbst, zum Endzweck, zum Selbstzweck machen. So
geht das allgemeine Gesetz über in den Endzweck jedes einzelnen
Menschen, als Selbstzweck.
Das ist der neue Sinn der Freiheit. Nicht darum
allein dreht sich das Interesse an dem Begriffe der Handlung,
ob sie in dem Handelnden einen absolut anfangenden Urheber
hat; das ist die metaphysische Frage, die Buridans Esel beant-
worten mag. Aber dafür schlägt dem modernen Menschen das
Herz, ob die Handlung einen absoluten Zweck hat; einen
Zweck, für welchen der Mensch nicht nur als Mittel und Werk-
zeug sich aufreibt; sondern in welchem er, als Mensch, Selbst-
zweck bleibt; denn der Begriff des Menschen besteht letztlich in
dem Zweckvorzug des Menschen. Kein Zweck darf als sittlich
gelten, für den der Mensch, der eine wie jeder andere, nur als
Werkzeug zu arbeiten hätte; in dem er nicht vielmehr den
Zweck seines eigenen Daseins, seines eigenen Begriffs vollzöge:
in dem er nicht als Endzweck fungierte. Die Idee des Zweck-
vorzugs der Menschheit wird dadurch zur Idee des
Sozialismus, dass jeder Mensch als Endweck, als Selbst-
zweck definiert wird.
Wir erkennen so die neue grosse Bedeutung, welche nicht
eigentlich durch den neuen Begriff der Autonomie, sondern durch
die Fassungen des kategorischen Imperativs das Problem der
Freiheit erhalten hat. Aber es ist noch die methodische Wendung
dabei zu beachten, welche hierdurch entstanden ist. Indem
das Problem von den Gesetzen abgelenkt worden ist auf den
Der Marktpreis und die Person. 805
Zweck, so ist es dadurch abgelenkt worden von dem ganzen
Interesse an der Causalitat, welche den Widerpart zur Freiheit
bildete. Jetzt zeigt es sich, dass es sich gar nicht mehr
um Ursache und Wirkung handelt, sondern vielmehr
um Mittel und Zweck.
Es kommt also eigentlich so heraus, dass alle bisherige
Behandlung des Problems der Freiheit in einer falschen Frage-
stellung befangen war. Man fragte nach einer ersteh Ursache;
und musste Anstoss daran nehmen, dass diese doch immer nur
eine letzte Wirkung sein könne. Man soll aber gar nicht nach
einer Ursache fragen, also auch nicht nach einer ersten; man
soll auf die Correlation von Mittel und Zweck das Interesse
richten. Dann wird man erkennen, dass es sich nicht um eine
erste Ursache, sondern um den letzten Zweck handelt. Nicht die
Wirkung, welche Ursache sei, ist auszuschliessen, sondern das
Mittel, welches als blosses, also als absolutes Mittel entlarvt
wird. So wird die Freiheit umgedeutet und umgebildet
in den Endzweck und Selbstzweck.
Durch diese Methodik, in welcher der neue Inhalt ent-
wickelt wurde, lässt es sich eigentlich noch deutlicher als durch
den grossen Inhalt selbst erkennen, dass das Problem bei Kant
ein neues geworden ist. Durch den Selbstzweck ist der
Begriff der Person begründet worden. Das absolute Mittel
erzeugt die Sache. Die Sache hat Wert, das ist Marktpreis; denn
der Wert ist der Wert des Verkehrs. Die Person hat keinen
Wert; sie hat Würde. Verträgt sich mit der Würde der
Marktpreis des Arbeitswertes? Das wird die grosse Frage
der modernen Politik und demgemäss der modernen Ethik. Erst
später werden wir in die eigene Behandlung dieser Frage ein-^
treten. Hier war dies nur als der letzte Sinn auszusprechen, den
Kant seiner Wendung des Problems gegeben hat.
Wenn nun aber gesagt worden war, dass Kant nicht aus-
drücklich an die Stelle der Freiheit die Autonomie gesetzt habe,
so kann wohl die Frage entstehen, ob er nicht dies nur deshalb
unterlassen hat, weil ihm die klare Ueberschau über die durch-
greifende Veränderung gefehlt habe, die er vollführt hat. Indessen
ist doch noch eine andere Ansicht dabei möglich; und ihre Er-
wägung ist notwendig. In der Tat ist selbst durch diesen
20
806 Die Freiheit darcli die Autonomie nicht erledigt
höchsten Wert der Autonomie, welcher dieselbe in Autoteile ver-
wandelt, das Interesse an der Freiheit nicht ganzlich erledigt.
Auch in der Autonomie hat Kant selbst andere Fragen mit be-
rücksichtigt, welche in dem Problem der Freiheit enthalten sind.
Wir werden daher nicht allein, wie bisher, den l nterschied von
Autonomie und Freiheit, sondern auch den Zusammenhang Beider
festzuhalten und zu verfolgen haben.
Siebentes Kapitel.
Die Autonomie des Selbstbewusstseins.
Der Begriff der Autonomie, den Kant zum Mittelpunkte seiner
Ethik gemacht hat, ist ein alter Terminus, der in seiner langen
Geschichte nicht ohne Bedeutungswechsel geblieben ist. Bei
Herodot bedeutete er die Unabhängigkeit; im Römischen Staats-
rechte die Freiheit der Republik im Gegensatze zur Monarchie.
In der neuern Zeit wird er seit Herbert von Cherbury auch
für die religiöse Freiheit verwendet, und zwar für die des reli-
giösen Bewusstseins. Endlich wird er wieder ein Begriff des
Staatsrechts, indem er gleichbedeutend wird mit dem Begriffe der
Souveränität. So enthält dieser Begriff eine grosse Vieldeutigkeit;
und es könnte scheinen, als ob er sonach als ein Grundbegriff
der Ethik sich schlecht empfehle; wenngleich in allen diesen
Bedeutungen Beziehungen zur Sittlichkeit nicht zu verkennen
sind. Die Nuancen des Begriffs bilden jedoch Abschattungen,
welche das Licht zerstreuen, das von einem centralen Begriffe
ausgehen muss.
Indessen enthält dieses griechische Wort in seinen beiden
Bestandteilen eine methodische Urkraft, wie sie bei den Worten
dieser Sprache nicht selten ist. Der zweite Teil des Wortes ent-
hält den Begriff des Gesetzes, an dem, wie wir sahen, der ganze
reine Wille hängt. Der erste Teil aber enthält das Grundwort
des Selbst. Und schon dieser Bestandteil macht das Wort unent-
behrlich und unersetzlich. Dieses Wortes bediente sich Plato
überall, um das Wesen der Idee herauszukehren. Es ist das
2Ü*
a08 Gesetz und Selbst
unfehlbare Mittel, den Weg zu bezeichnen, den die Hypothesis.
zu beschreiten hat. Mit diesem Grundworte der classischen
Antike hat sich das Grundwort der neuern Zeit und der neuem
Philosophie verbunden und vermählt, so dass das Bewusstsein
zum Selbstbewusstsein wurde. Das Selbst ist im neuern
Sprachgebrauche das Selbstbewusstsein.
Das Selbstbewusstsein bedeutet nun aber in diesem Ge-
brauche mehr das Bewusstsein, welches von dem Selbst ausgeht;
oder im besten Falle, welches aus dem Bewusstsein resultiert.
Aber das ist ein psychologisches Problem, für welches die Ein-
heit des Bewusstseins einzutreten und einzustehen hat. Hier aber
handelt es sich um die ethische Bedeutung, für welche wir den
Terminus des Selbstbewusstseins auszeichnen; um das Selbst-
bewusstsein des reinen Willens. In diesem aber ist das Selbst
weder Ursache, noch resultierende Wirkung; sondern Aufgabe.
Und nun treten die beiden Aufgaben zusammen: die Aufgabe des
Selbst und die Aufgabe des Gesetzes. Es wird daraus die
Eine Aufgabe des Selbst aus dem Gesichtspunkte des
Gesetzes.
Es kann vor Allem darüber kein Zweifel auftauchen, dass
diese Verbindung des Gesetzes und des Selbst unmittelbar dem
Willen zu Statten kommen muss; denn das Selbst ist nichts
Anderes als das Selbst des Willens; und das Gesetz nichts Anderes
als das Gesetz des Willens; das Gesetz, kraft dessen der Wille
seinem Begriffe gerecht wird. Diese Wendung auf den Willen
ist auch schon in dem griechischen Worte enthalten; denn
ai>Tovo(i{a würde als Selbstgesetzheit wörtlich zu übersetzen sein.
Diese Wendung ins Abstrakte und Allgemeine wird durch unsern
Ausdruck der Gesetzgebung bezeichnet, den auch Kant nach
der Nuance seines Unterschiedes von dem allgemeinen Gesetze
gefühlt und hervorgehoben hat. Wenn daher Gesetz und Selbst
sich verbinden, so müssen sie in der Richtung auf die
Gesetzgebung sich verbinden. Das Selbst kann sich nur da-
durch am Gesetze als Aufgabe bewähren, dass es sich nicht
etwa in ein Gesetz versteinert; sondern vielmehr in der
Tätigkeit, in der Handlung der Gesetzgebung sich lebendig
macht und verwirklicht. Die Autonomie des Selbstbewusstseins
bedeutet daher:
Heteronomie als Pathologie. 309
1. Die Selbstgesetzgebung.
Die Autonomie tritt so zunächst in Gegensatz zur Hetero-
nomie. Und fremd wird ihr Alles, was nicht der Aufgabe des
Selbst dient, und unzweifelhaft dieser förderlich ist Als Hetero-
nomie gibt sich daher vor Allem die Sinnlichkeit zu erkennen,
sofern sie als eine ursprüngliche und schöpferische Competenz
des wissenschaftlichen Bewusstseins angenommen wird. Das
kann sie nicht sein; denn sie steht in Abhängigkeit von den
äusseren Dingen, auf deren Dasein und deren Reize sie sich
beruft. Sie kann es aber auch für den Willen nicht sein; denn
•
ihre Kraft bleibt im Triebe und in der Begierde stecken; die,
wie sehr sie urwüchsig entspringen mögen, dennoch aber auf ein
äusseres Objekt übergehen und dadurch dem Selbst entweichen.
Daher hat Plato in der Vernunft das Selbst begründet. Und
Kant ist hier wiederum der Erneuerer Piatons, indem er alle
Beweggründe der Begehrung als pathologische Motive von
den moralischen Bestimmungsgründen des reinen Willens unter-
schied. Die Heteronomie ist Pathologie.
Nicht dass die heteronomen sinnlichen Motive als krank-
hafte dadurch bezeichnet werden sollten; es liegt in dem Worte
vielmehr hier die Hervorhebung des Pathos, als des bloss
psychologischen Vorgangs, im Unterschiede von seinem ethischen
Werte. So wollen wir wenigstens den Unterschied uns zu eigen
machen. Alle nur psychologischen Beweggründe, und wenn sie,
als solche, noch so normal sind, sind im ethischen Sinne als
Afiekte zu erkennen. Der Affekt bildet ein Element des Willens;
aber er ist nicht der Wille. Die Gesetzlichkeit, welche psycho-
logisch dem Affekte zusteht, darf in keiner Weise verwechselt
werden mit dem Gesetze des Selbst.
So vertritt die Vernunft, als das reine Denken, dieser
Heteronomie der Sinnlichkeit gegenüber das Prinzip des Selbst.
Und so tritt der Rationalismus dem Sensualismus gegenüber, als
dem Standpunkte des Egoismus. Die Selbstgesetzgebung
wird der Widerspruch zur Selbstsucht. Die Selbstsucht
ist der Affekt, den wir hier nicht von der Leidenschaft zu unter-
scheiden brauchen; sie ist der scheinbar unaufhaltsame sinnliche
Trieb. Aber es leben zwei Seelen in dem Ich. Es ist nur die
310 Das Grundgesetz der Wahrheit.
eine, welche das Ich in der Oede der Isolierung sucht; die andere
sucht das Wir. Und indem sie diese Richtung nimmt, steuert
sie auf das Gesetz; auf das Gesetz des Selbst. Das Gesetz liegt
jenseit dieser einsamen Oede des isolierten Ich. Indem aber das
Gesetz vom Egoismus befreit, gibt sich die Vernunft als die Be-
freierin zu erkennen; und der besiegte Faktor ist der psycho-
logische BegrilT der selbständigen Sinnlichkeit. So liegt die
Heteronomie in der psychologischen Ansicht von der
selbständigen Kraft der Sinnlichkeit, den Willen im
Sinne der Sittlichkeit zu bilden und auszurüsten. Dieser
falsche BegrilT, dieser Uebergriff eines angeblichen psychologischen
Gesetzes ist es, in dem die Heteronomie liegt.
Wir wissen, die Sinnlichkeit hat doppelte Bedeutung, und
erhebt doppelten Anspruch: in theoretischer und praktischer
Hinsicht. Und in Beiden ist es der falsche, der unreife und der
verkehrte Begriff der Natur, den sie vorhält. Zunächst denkt
man, wie wir soeben es betrachteten, an die Sinnlichkeit der
Begierde. Mit ihr aber hängt die Stimmung zusammen, das
Gefühl, wie es irrtümlich als ein selbständiger Akt genommen
wird. Alle diese Momente der Sinnlichkeit sind solche der Will-
kür und der wechselnden Pläne; sie können es nicht zu der Ein-
förmigkeit und Sicherheit einer Richtschnur und eines Gesetzes
bringen. Autonomie, Selbstgesetzgebung kann nur der Begriff
der Vernunft vertreten und verbürgen; der daher so der Logik,
wie der Ethik, entnommen werden muss; und erst von beiden
Instanzen aus der Psychologie zugeführt werden kann.
So ist es also das Vertrauen auf die Vernunft, auf das reine
Denken, worauf die Selbstgesetzgebung beruht. Und es ist vor
Allem die Annahme des Grundgesetzes der Wahrheit, in
dem sie ihre Wurzel hat. Wahrheit bedeutet, wie \sir
wissen, die Uebereinstimmung von Logik und Ethik in
den methodischen Grundlagen. So ist vor Allem als
Heteronomie zu erkennen das Misstrauen gegen die theoretische
Vernunft, als wäre sie Uebermut und Aberwitz; als könnte sie
mit ihren Grundlegungen, die als willkürliche Vermutungen ver-
dächtigt werden, wahres Sein nicht feststellen; und deshalb um
soviel weniger sittliche Wahrheit verbürgen. Darum lassen wir
das Grundgesetz der Wahrheit voraufgehen. Wir können es jetzt
Religion und Politik. 811
in dem Prinzip der Selbstgesetzgebung wiedererkennen. Das
Gesetz des Willens muss in Gemässheit des Gesetzes des reinen
Denkens gefordert werden. Die Idee, die Hypothesis muss als
das einzig wahrhafte, als das zulängliche und sichere Mittel, Er-
kenntniss zu begründen, also auch Erkenntniss der Sittlichkeit
eingesehen und beherzigt werden.
So ist die Selbstgesetzgebung das Prinzip des Rationalimus
nicht nur, sondern genauer des Idealismus. Es ist nun aber
auffällig, wie armselig die Geschichte des Idealismus in der Ethik
ist gegenüber ihren breiten und mächtigen Zügen in der Logik.
Dieses Rätsel wird durch ein anderes Rätsel wenn nicht gelöst,
so doch der Lösung genähert. Es ist nämlich auch auftallend,
wie arm die Geschichte der Ethik an Prinzipien und Begriffen
ist gegenüber der der Logik.
Der Idealismus der Ethik ist gehemmt worden
durch die Religion und die Politik, welche das Grund-
gesetz der Wahrheit verdunkelt und geschwächt haben.
Die Religion hat sich allenfalls der Wissenschaft gegenüber gefügt;
aber über die Sittlichkeit hat sie sich zum mindesten die Mit-
verfügung vorbehalten. Und die Politik hat allezeit den ethischen
Idealismus als ihre grösste Gefahr betrachtet; und die Selbst-
gesetzgebung als einen EingrifT in ihre Competenz. Im letzten
Grunde beruht darauf aller Widerwille der Positiven
gegen das Naturrecht Dagegen ist allerdings, wenngleich
ohne prinzipielle Bewusstheit, alle Reform und alle bahn-
brechende Revolution in der Religion, wie in der Politik, ethischer
Idealismus. Die Hypothesis der Idee wird zur Hypothese
des geschichtlichen Versuchs. Reformen und Revolutionen
sind die Perioden der experimentellen Ethik. Daher
treten die theoretischen Prinzipien in ihnen zurück.
Dieser mangelhafte Idealismus hat jedoch seinen objektiven
Grund hauptsächlich in dem falschen Begriffe der Natur. Wir
beachteten dies schon für die psychologische Natur des Menschen.
Es gilt aber für die Natur überhaupt. Die Heteronomie kann
daher auch geradezu als der Götzendienst vor der Natur
bezeichnet werden. Und der Monotheismus bewährt sich auch
darin als eine Vorbereitung der idealistischen Sittenlehre;
wenigstens insofern ein Urgrund in ihm die Natur, wie die sitt-
810 Das Grundgesetz der Wahrheit.
eine, welche das Ich in der Oede der Isolierung sucht; die andere
sucht das Wir. Und indem sie diese Richtung nimmt, steuert
sie auf das Gesetz; auf das Gesetz des Selbst. Das Gesetz liegt
jenseit dieser einsamen Oede des isolierten Ich. Indem aber das
Gesetz vom Egoismus befreit, gibt sich die Vernunft als die Be-
freierin zu erkennen; und der besiegte Faktor ist der psycho-
logische Begriff der selbständigen Sinnlichkeit. So liegt die
Heteronomie in der psychologischen Ansicht von der
selbständigen Kraft der Sinnlichkeit, den Willen im
Sinne der Sittlichkeit zu bilden und auszurüsten. Dieser
falsche Begriff, dieser Uebergriff eines angeblichen psychologischen
Gesetzes ist es, in dem die Heteronomie liegt.
Wir wissen, die Sinnlichkeit hat doppelte Bedeutung, und
erhebt doppelten Anspruch: in theoretischer und praktischer
Hinsicht. Und in Beiden ist es der falsche, der unreife und der
verkehrte Begriff der Natur, den sie vorhält. Zunächst denkt
man, wie wir soeben es betrachteten, an die Sinnlichkeit der
Begierde. Mit ihr aber hängt die Stimmung zusammen, das
Gefühl, wie es irrtümlich als ein selbständiger Akt genommen
wird. Alle diese Momente der Sinnlichkeit sind solche der Will-
kür und der wechselnden Pläne; sie können es nicht zu der Ein-
förmigkeit und Sicherheit einer Richtschnur und eines Gesetzes
bringen. Autonomie, Selbstgesetzgebung kann nur der Begriff
der Vernunft vertreten und verbürgen; der daher so der Logik,
wie der Ethik, entnommen werden muss; und erst von beiden
Instanzen aus der Psychologie zugeführt werden kann.
So ist es also das Vertrauen auf die Vernunft, auf das reine
Denken, worauf die Selbstgesetzgebung beruht. Und es ist vor
Allem die Annahme des Grundgesetzes der Wahrheit, in
dem sie ihre Wurzel hat. Wahrheit bedeutet, wie wir
wissen, die Uebereinstimmung von Logik und Ethik in
den methodischen Grundlagen. So ist vor Allem als
Heteronomie zu erkennen das Misstrauen gegen die theoretische
Vernunft, als wäre sie Uebermut und Aberwitz; als könnte sie
mit ihren Grundlegungen, die als willkürliche Vermutungen ver-
dächtigt werden, wahres Sein nicht feststellen; und deshalb um
soviel weniger sittliche Wahrheit verbürgen. Darum lassen wir
das Grundgesetz der Wahrheit voraufgehen. Wir können es jetzt
Religion und Politik. 811
in dem Prinzip der Selbstgesetzgebung wiedererkennen. Das
Gesetz des Willens muss in Gemässheit des Gesetzes des reinen
Denkens gefordert werden. Die Idee, die Hypothesis muss als
das einzig wahrhafte, als das zulängliche und sichere Mittel, Er-
kenntniss zu begründen, also auch Erkenntniss der Sittlichkeit
eingesehen und beherzigt werden.
So ist die Selbstgesetzgebung das Prinzip des Rationalimus
nicht nur, sondern genauer des Idealismus. Es ist nun aber
auffällig, wie armselig die Geschichte des Idealismus in der Ethik
ist gegenüber ihren breiten und mächtigen Zügen in der Logik.
Dieses Rätsel wird durch ein anderes Rätsel wenn nicht gelöst,
so doch der Lösung genähert. Es ist nämlich auch auftallend,
wie arm die Geschichte der Ethik an Prinzipien und Begriffen
ist gegenüber der der Logik.
Der Idealismus der Ethik ist gehemmt worden
durch die Religion und die Politik, welche das Grund-
gesetz der Wahrheit verdunkelt und geschwächt haben.
Die Religion hat sich allenfalls der Wissenschaft gegenüber gefügt;
aber über die Sittlichkeit hat sie sich zum mindesten die Mit-
verfügung vorbehalten. Und die Politik hat allezeit den ethischen
Idealismus als ihre grösste Gefahr betrachtet; und die Selbst-
gesetzgebung als einen Eingriff in ihre Competenz. Im letzten
Grunde beruht darauf aller Widerwille der Positiven
gegen das Naturrecht. Dagegen ist allerdings, wenngleich
ohne prinzipielle Bewusstheit, alle Reform und alle bahn-
brechende Revolution in der Religion, wie in der Politik, ethischer
Idealismus. Die Hypothesis der Idee wird zur Hypothese
des geschichtlichen Versuchs. Reformen und Revolutionen
sind die Perioden der experimentellen Ethik. Daher
treten die theoretischen Prinzipien in ihnen zurück.
Dieser mangelhafte Idealismus hat jedoch seinen objektiven
Grund hauptsächlich in dem falschen Begriffe der Natur. Wir
beachteten dies schon für die psychologische Natur des Menschen.
Es gilt aber für die Natur überhaupt. Die Heteronomie kann
daher auch geradezu als der Götzendienst vor der Natur
bezeichnet werden. Und der Monotheismus bewährt sich auch
darin als eine Vorbereitung der idealistischen Sittenlehre;
wenigstens insofern ein Urgrund in ihm die Natur, wie die sitt-
312 Rousseau.
liehe Welt, regiert. Es sind hier doch wenigstens nicht mehr
ausschliesslich die Empfindung und die Wahrnehmung, welche
den Horizont begrenzen. Von dem Glauben an die Alleinherr-
schaft der Sinnlichkeit wird hier doch wenigstens der Geist be-
freit; und so kann allmählich das reine Denken vordringen, und
die Schöpfungen der sittlichen Vernunft ins Leben rufen. Die
Uebermacht der Natur muss vor Allem erschüttert werden.
So geht im inneren Zusammenhange der Begriffe der Na-
turalismus über in den Historismus, der der Naturalismus der
Geschichte ist. Der psychologische Begriff der Erfahrung wird
der Tyrann. Die Geschichte wird als Natur gedacht. Daher
herrscht die Vergangenheit. Sie nimmt das Ansehen der Ewig-
keit an. So bildet Rousseau eine innerliche Vorbereitung zu
Kant. Er ändert den Begriff der Natur; er zerstört den Einklang
von Natur und Geschichte, von Natur und Kultur. Das Inventar
der geschichtlichen Erfahrung kann sich nicht messen mit dem
ewigen der Natur. Auch hier bleibt die Unreife des Naturalismus.
Aber es ist doch nicht mehr die platte Sinnlichkeit, welche das
Bild der Natur hervorbringt; es ist eine Macht des Denkens,
wenngleir*h nicht des reinen, welche hier ähnlich, wie im Mono-
theismus, wirksam wird. Und diese Wirksamkeit der Phantasie
ist von einer grossen Fruchtbarkeit geworden. Das ist ja eben
die tiefe Kraft des Idealismus, dass er auch die aesthetische Ver-
nunft zur aesthetischen Selbstgesetzgebung zu erwecken vermag.
Die Kräfte wirken, wenngleich sie nicht immer als Prinzipien
erkannt werden, in der echten Kunst. Und Rousseau war zwar
keineswegs ein Philosoph, aber ein echter Poet.
Die Verbindung, die innerliche Verwandtschaft der schöpferi-
schen, der selbstgesetzgebenden sittlichen Vernunft mit der echten
Kunst hat nun aber auf einen verhängnisvollen Abweg geführt.
Wir haben es bereits beachtet, dass die Aesthetik erst durch
Kant ein voUbürtiges Glied des Systems der Philosophie ge-
worden ist. Reflexionen über die Kunst, insbesondere über ihre
Wirkungen auf das empfangliche Gemüt haben aber freilich
nicht gefehlt. Wertvoll sind besonders die der Engländer, die
der Welt ja den Homer des Dramas gebracht haben. Bei
Shaftesbury ist der innigere Zusammenhang zwischen aesthe-
tischer und ethischer Reflexion erkennbar, wie er in dem Anklang
Aesthetik und Metaphysik. SIS
an Piaton entsteht. Es ist, als ob die Engländer für den Mangel
des Idealismus sich durch die Verbindung von Ethik und Aesthetik
-entschädigten; als ob sie durch die Anklammerung an die Aesthetik
ihre Ethik sichern wollten. Das Alles ist wohl verständlich; aber
ein Fehler ist es und'bleibt es, die Ethik auf Aesthetik zu gründen.
Das ist Nichts als Heteronomie.
Dieser Fehler ist der Grundfehler in Herbarts Ethik, die
bei ihm ein Glied der allgemeinen Aesthetik wird. Es rächt sich
da die Vorliebe, welche Herbart für den englischen Sensualismus
«igen ist. Aber besonders deutlich wird dieser Fehler als ein
solcher der Heteronomie bei Adam Smith, obzwar er nicht
schlechthin das indifferente Gefallen und Missfallen, sondern die
Sympathie zum Massstab nimmt. Immer ist es der Zuschauer,
von dem das Gefallen abgeleitet, und in dessen Beifall auch die
Sympathie begründet wird. Die Selbstgesetzgebung erledigt alle
diese im Sensualismus wurzelnden Irrungen.
Indessen muss der Idealismus der Selbstgesetzgebung sich
klar und reinlich von der Metaphysik aller Art abscheiden.
In ihr wird zwar viel Rühmens gemacht von der Eigenmacht
des Be^oisstseins gegenüber der Materie; aber zum Prinzip der
Selbstgesetzgebung wird in ihr dennoch das Selbst nicht erhoben.
Es wird gar nicht als ein eigenes Prinzip gedacht; sondern viel-
mehr durchgängig stets im Zusammenhange mit der Welt ge-
nommen. Und die Metaphysik ist stolz darauf, dass sie auf den
Zusammenhang mit der Welt ausgeht. Demgegenüber ist zu
rügen, dass sie auf diesen Zusammenhang mit der Welt ausgeht.
Dass sie das tut, dass sie gar nicht anders verfahren kann, als
beide Gesichtspunkte zu vermischen, das ist ihr Fehler und ihr
Verhängniss. So muss sie für die Ethik Heteronomie bedeuten.
Spinoza macht den Menschen und den menschlichen Geist
zu einem Modus der Substanz. In der Einheit der Substanz
allein liegt Sein und Wahrheit; und nur in der Beziehung auf
die' Substanz, die doch nicht nur sein Selbst und überhaupt das
Selbst des Menschen bedeutet, nur also durch Heteronomie kann
er das Gesetz seines Willens finden und suchen. Es ist immer
die Welt, welche für die Beschränkung des Selbst trösten soll.
In dieser religiösen Richtung des Pantheismus liegt immer
noch ebensosehr Weltflucht, wie Weltsinn. Bedenklicher wird
314 Hegels Fehler.
die pantheistische Metaphysik in der Romantik des Historismus.
Hier tritt die Geschichte an die Stelle der Natur; die Zeit über-
strahlt den Raum; die geschichtliche Erfahrung wird zum Symbol
der Wirklichkeit Und nicht allein zum Symbol; sondern zum
Prinzip der Wirklichkeit. Der Fehler in dem Worte, mit dem
Hegel seine Rechtsphilosophie einführt, liegt nicht in erster
Linie in dem Nachsatze: .Was wirklich ist, das ist vernünftig**.
Dieser Teil des Gedankens lässt sich geschichts-philosophisch
verstehen und begründen. Lassalle hat nur gefunden, dass es
Hegel nicht gelungen sei, aus der Wirklichkeit des Rechts die
Vemünftigkeit herauszuarbeiten. Der Vordersatz aber lautet:
^Was vernünftig ist, das ist wirklich." Hier springt der Fehler
der Heteronomie in die Augen.
Keineswegs ist die Wirklichkeit der Massstab und das
Prinzip der sittlichen Vernunft. Keineswegs deckt sich die sitt-
liche Vernunft mit der Wirklichkeit; das Sittengesetz mit den
positiven Gesetzen der geschichtlichen Wirklichkeit in Recht
und Staat. Hier zeigt sich der himmelweite Unterschied
zwischen Hegel und Kant; denn Kant würde sagen: was ver-
nünftig ist, das ist nicht wirklich; sondern es soll wirklich werden.
Der Unterschied von Sein und Sollen unterscheidet
nicht nur aligemein zwei Welten, sondern hiernach
auch die Weltanschauung der pantheistischen Meta-
physik von der des ethischen, weil des theoretischen
Idealismus; von der Ethik der Selbstgesetzgebung.
Die Metaphysik führt uns zur Heteronomie der Religion.
Man möchte aber denken, dass nicht eigentlich und nicht ur-
sprünglich in der Religion der Gegensatz oder wenigstens der
Widerspruch gegen die Autonomie liegen müsse, als vielmehr
in der Theologie. Worin besteht zwischen Beiden der
Unterschied? Wir sehen von der geschichtlichen Gestalt der
Theologie hier füglich ab; wie sie in der Gestalt einer Wissen-
schaft auftritt, während die Religion an sich immer Mythos
bleibt. Doch dieser Unterschied geht uns hier nichts an, ausser
sofern er unwillkürlich der gesuchten Antwort dient. Die Religion
sucht immer nur Gott, wie verschieden immer sie ihn denken,
und deshalb suchen mag. Die Theologie dagegen will dieses
Denken und Suchen Gottes bestimmen und gestalten; sie will
Die Offenbarung. 315
Erkenntniss Gottes sein; wenngleich sie bisweilen diese Er-
kenntniss nur als Glauben geltend macht. Immer ist es das
Denken über Gott, das ihren Inhalt bildet.
Da nun aber die Theologie das Denken über Gott bestimmen
und regein will, so ist sie genötigt, Gründe und Grundlagen für
diese Bestimmung und diese Regelung aufzusuchen und festzu-
stellen. Woher aber soll sie solche Grundlagen nehmen? Die
Vernunft ist ihr entrückt; diese geht nur auf die Welt. Zwar
wird sie nicht gänzlich verschmäht; der ontologische Gedanke
widerspricht diesem Verdachte. Aber die Scholastik war keines-
w^egs gewillt, es bei dem Wissen von Gott bewenden zu lassen,
welches das ontologische Denken gewährt. Es handelt sich ja
auch in der Theologie nicht allein um die Existenz Gottes; diese
bildet das Anliegen der Religion. So kommt es, dass das
Denken über Gott zur Grundlage empfängt das Denken
Gottes. Die Vernunft mit ihren Gesetzen kann nicht die Gesetze
für das Denken über Gott enthalten. Gott würde so in den In-
halt und in den Machtbereich des menschlichen Denkens ein-
gehen. Das ontologische Problem war auch für die Scholastik
verhängnissvoll. Und Descartes musste sehr gewagte Kunst-
griffe anwenden, um der eminenten Ursache eine besondere Be-
deutung beizulegen.
Das Denken über Gott musste also geregelt werden durch
das Denken Gottes selbst. Woher aber nimmt die Theologie die
Befugniss, das Denken Gottes zu erkennen? Es wäre niemals der
religiösen Freigeisterei überlassen geblieben, in dieser Anmassung
die Selbstironisierung zu erkennen; man würde an der Blas-
phemie, die darin liegt, Anstoss genommen haben, wenn hier
nicht die Theologie mit der Religion zusammenginge. Diese aber
geht hier besonders auf den Mythos zurück. Offenbarung, Ema-
nation und alle die Ausdrücke der Selbstentfaltung des Absoluten
bleiben innerlich unbefremdlich und unanstössig; denn man
fordert die Selbstentfaltung, die Selbstdarstellung des
Absoluten. Anstössig kann nur die einzelne sinnliche Er-
scheinungsform sein; das Problem der Offenbarung dagegen
ist ein natürliches, ein notwendiges. Das ist der Sinn Gottes,
dass er erscheint; dass er sich offenbare. Darin liegt in der
Tat an sich noch nicht der Zwang der Heteronomie. Dieser
816 Das Wort Gottes.
entsteht erst durch die Praecisierung des Denkens zum
Worte.
Das Wort Gottes wird zur Urkunde vom Denken
Gottes. So wird das Wort Gottes ein Analogon zu den Gesetzen
und Prinzipien der wissenschaftlichen Vernunft. Dadurch ent-
steht der unausgleichbare Gegensatz zwischen Ethik und Theo-
logie, der als ein solcher zwischen Ethik und Religion gedacht
wird. Hier entsteht auch der Gegensatz zwischen der Bildung
des geschichtlichen Bewusstseins und der theologischen Religion.
Dass Erleuchtungen menschlicher Geister von Gott ausgehen
können, daran nimmt die geschichtliche Bildung keinen Anstoss;
Offenbarungen werden den begrifflich geforderten Emanationen
des Absoluten gleichgesetzt; aber dass der Wortlaut, dass der
Buchstabe in solchen Offenbarungen festgelegt würde, dagegen
sträubt sich das gebildete Bewusstsein; und es wird hierin durch
das religiöse, nicht theologisch verkrümmte und verhärtete nur
bestärkt. Ohnehin widerspricht der Fortgang solcher Offen-
barungen der Geschlossenheit dieses Wortes. Die neue Offen-
barung muss wie ein Nachwort erscheinen. Und welches Wort
Gottes, das man als Einheit betrachtet, kann sich als ein ein-
heitlich entstandenes darstellen und behaupten? Wird nicht
vielmehr Gottes Wort in jeder Einheit als ein allmählich ent-
standenes Werk einer nationalen Literatur nachweisbar? Aber
auch abgesehen von dem Literarischen muss jede Religion so
viel Ignorierungen, Deutungen und Idealisierungen an ihrem
Worte Gottes vornehmen, dass es überall einer offenkundigen
Correktur unterzogen wird. Wenn dennoch die Theologie auf
die geschichtlichen Tatsachen und auf die literarischen Urkunden,
in welchen die Tatsachen enthalten sind, als auf Gottes Wort
sich beruft, so muss diese Art von Theonomie als Heteronomie
bezeichnet werden.
Auch in der praktischen Moral nährt dieser Aberglaube
vom Worte Gottes alle Scheelsucht und alle Missgunst, mit der
schon die Nationen in ihren Literaturen sich gegenseitig zu be-
spiegeln pflegen; geschweige alle die Intoleranz, Ungerechtigkeit
und Gehässigkeit, welche die Selbstsucht in den verschiedenen
Religionen, ja in den Sekten und Parteien derselben Religion er-
regt und aufstachelt. Aber der Begriff der Literatur, menschlich
Die Religiositftt der liierarischen Humanitlt. 817
und wissenschaftlich, wie er ist, hat auch hier Hilfe gebracht.
Und unser Herder darf hier als sittlicher Befreier genannt
werden. Der Sinn für die Weltliteratur hat die Sympathie
für die Völkerstimmen erweckt, und damit dem Eigensinn und
dem Eigendünkel entgegengewirkt. Die vergleichende Literatur
hat die Idee der Humanität neu belebt, und ihr in der Poesie
der Völker einen reichen Inhalt erschlossen. Die vergleichende
Literatur hat den Sinn für vergleichende Religionswissenschaft
erweckt; und ohne diesen lebendigen Sinn der Toleranz, ja der
Sympathie für Alles, was in der Tendenz der Religion sich be-
wegt, für alle Religionen, ohne diesen Horizont der literarischen
Humanität gibt es für den gelehrten und gebildeten Menschen
keine wahrhafte Religiosität. Die Meinung von der Ab-
solutheit der eigenen Religion ist aus dem Standpunkt der
wissenschaftlichen Bildung Aberglaube, da es Mythos nicht sein
kann; und aus dem Gesichtspunkte der Religion Eifersucht, Neid
und Menschenhass, die alle Symptome des schlechten Ge-
wissens sind.
Die Heteronomie, welche das Wort Gottes bildet, geht da-
her nur gegen die Theologie; nicht aber eigentlich auf die Reli-
gion. Daraus ergibt sich eine sehr wichtige Folgerung: die
Heteronomie richtet sich nicht gegen die Idee Gottes.
Der Grundgedanke jeder echten Religion, Gott zum Urheber der
Sittlichkeit zu machen, bildet keineswegs einen Widerspruch
gegen die freie sittliche Vernunft. Wenn man, sofern man Gott
denkt, seine Offenbarungen für unausbleiblich hält, wie könnte
man diese Offenbarungen als etwas Anderes denken, denn als
Sittlichkeit? Und was könnte Gott überhaupt, als der Gott der
monotheistischen Religion, Anderes zu leisten und überhaupt zu
bedeuten haben als die Gewährung und die Gewährleistung der
Sittlichkeit?
Gerade die Verbindung der Religion mit der Philosophie,
welche ihre eigenen, von der Theologie sich unterscheidenden
Wege ging, strebte in der Tendenz des Pantheismus eine Ver-
einigung von Gott und Mensch für die Sittlichkeit an. Schon
die Seele enthält in der Ursprache der Religion diese Vereinigung.
., Wahrlich Geist ist im Menschen, und die Seele des Allmächtigen
macht sie vernünftig. "^ So vereinigt Hiob den Menschen mit
818 Schiller.
Gott in der Seele und in der VemunfL Philo konnte sich daher
an diesem centralen Punkte der griechischen Anschauung un-
gezwungen anschliessend indem er den Logos als die Vermittlung
zwischen Gott und Mensch anerkannte und auszeichnete. Der
Logos hat wahrlich nicht die Theonomie befestigt.
So sehen wir, dass nicht in Gott der Grund der Heteronomie
gelegen ist, sondern lediglich in dem fixierten Worte Gottes.
Dass Gott die Sittlichkeit fordert; ja selbst als der Urheber der
Sittlichkeit gilt, daran ist, genauer bedacht, kein Anstoss zu
nehmen; wenn nur darum die Kthik ihren eigenen Weg und ihre
eigene Methode nicht aufgibt. Eh ist in dieser Methodik aber
keineswegs die Weisung enthalten, dass das so erzeugte Sitten-
gesetz einen Gegensatz oder gar einen Widerspruch bilden müsse
gegen den Gedanken, der alle Sittlichkeit in Gott gründet. Wenn
nur die Sittlichkeit, und sie allein gefordert wird; ihre Zurück-
führung auf Gott ist an sich nicht Heteronomie. Wird doch
eigentlich dadurch der Unterschied zwischen (iott und Mensch
aufgehoben, so dass Ein Gesetz Beide bindet. .Heilig sollt Ihr
sein; denn heilig bin ich. Euer Gott.** .Seid vollkommen, wie
Euer Vater im Himmel vollkommen ist.** Eh ist, als ob der
Monotheismus sich seilet in Pantheismus aufhöbe; als ob in der
Sittlichkeit der Unterschied zwischen Gott und Mensch ver-
schwinden sollte.
Diese Cx>nsequenz zieht die Religion nicht; und es steht
hier nicht in Frage, ob sie sie ziehen müsse. Vielmehr haben
wir es schon mehrfach erwogen, dass der Pantheismus eine zwei-
deutige Wahrheit bildet. Hier aber hat Schiller seinen frühem
Enthusiasmus für Spinoza in sein Studium Kants hineingetragen.
^Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen** so hat Schiller die
Autonomie als Widerspruch gegen die Theonomie |K>pulär ge*
macht. Indessen ist dieses pantheistische Wort eine Ueber-
spannung des Dichters« welche mit seiner Ueberspannung der
aesthetischen Erziehung und der Aesthetik überhaupt zusammen-
hangt. Aus dieser UelM*rheliung des aesthetischen Sinnes ist ja
al>er auch l)ei ihm der verräterische Satz entstanden- .lernet
etiler bekehren, damit ihr nicht nötig habt, erhalten zu wollen.'
Danach aber wünle vs nicht dabei zu verbleiben hal>en, die
Gottheit in den Willen aufzunehmen; denn dieser vill unnötig
Die religiöse Literatur. 319
werden. Die Gottheit müsste danach vielmehr in das Begehren
auJEzugehen haben. Damit aber würde allerdings wieder ein be-
denklicher Unterschied zwischen Gott und Mensch zum Problem
werden. Denn das Begehren ist auch den Tieren eigen; und
selbst das edle Begehren soll ihnen nicht ganz fremd sein. Sollte
es etwa auch auf die Gottheit sich erstrecken? Der reine Wille
ist dagegen gar nicht der erhabene Wille; und er bedarf dessen
nicht, dass er durch die Aufnahme der Gottheit erfüllt werde.
Man sieht immer deutlicher, dass die Heteronomie ihre
Spitze nicht gegen die Idee Gottes richtet; nur das Wort Gottes
in seiner dogmatischen Fixierung erhebt einen Anspruch, bei dem
die Sittlichkeit unvermeidlich Heteronomie werden muss. Daher
ist der Buchstabenglaube der alte unversöhnliche Feind des
religiösen Rationalismus aller Zeiten. Indessen darf auch hier
der Gegensatz der Ethik nicht über den Widerstreit der Methodik
hinaus gespannt werden; sonst stellt sich ein anderer, nicht
minder schwerer Fehler der allgemeinen wissenschaftlichen
Methodik für die Ethik ein; ein Fehler, der den Begriff der
Autonomie selbst äusserlich und hinfallig macht.
Das dogmatisch fixierte Wort Gottes ist freilich ein Wider-
spruch gegen die Autonomie. Sollte aber etwa darum die sitt-
liche Erwägung und Selbstbelehrung den Lehren der Sittlichkeit
schnurstracks aus dem Wege gehen, welche in den religiösen
Urkunden enthalten sind? Das kann doch unmöglich die Selbst-
gesetzgebung bedeuten sollen, dass das Selbst durch die religiöse
Literatur schlechterdings gehemmt, oder gar vernichtet würde.
Wäre dies der Fall, so würde dann allerdings nicht allein das
Wort Gottes, sondern auch der Begriff Gottes der autonomen
Ethik widersprechen. Wenn dies aber nicht der Fall ist, so
kann es auch keinen Widerspruch gegen die Selbstgesetzgebung
bilden, dass ich den sittlichen Inhalt der gesamten religiösen
Literatur erforsche, erlerne und auf seinen sittlichen Reingehalt
zu prüfen habe.
Das Wort Gottes kann nicht schlechter zu stellen sein als
jedes andere Produkt der moralischen Literatur; wie es sich in
der Geschichte, in der Poesie und Kunst überhaupt, endlich auch
in der politischen und rechtlichen Literatur darlegt. Ja nicht
allein von der populären und beiläufigen Moral gilt diese natür-
820 Der Pietismns.
liehe Voraussetzung, welche übrigens Sokratesin seinem Grund-
satz aufnahm, indem er die Tugend als ein Lehrbares («ttSaxtdv)
erklärte, weil sie ein Wissen sei; sondern auch auf die Wissen-
schaft der Ethik ist diese Forderung pünktlich anzuwenden.
Auch sie muss in ihrer gesamten Geschichte, wie sie in ihren
literarischen Produktionen sich vollzieht, gründlich und gewissen-
haft studiert werden. Wenn die Tugend ein Lehrbares ist, so
ist sie eben auch ein Lernbares; etwas was erlernt, studiert,
geprüft und also auch stellenweise an- und aufgenommen werden
muss. Sollte diese natürliche Forderung der literarischen Sitt-
lichkeit etwa der Autonomie widerstreiten? Dann würde sie
einer eiteln, unsittlichen Originalitatssucht Vorschub leisten,
welche in der Originalität quand-meme die Gewähr des Selbst
sieht. Dann würde man auf die Bahn des Eigensinns und des
Dünkels durch sie geleitet werden, ein eigenes Sittengesetz sich
auszutüfteln; oder aber, wofern dies doch eben schwerlich aus-
zuführen ist, eines der vielen alten mit einem neuen Aufputz
zu versehen, um es, da es doch einmal nötig sei, zu einem neuen,
soweit es angeht, auszustatten. An Beispielen fehlt es gerade
unserer Zeit am wenigsten für diese falsche Originalität, welche
inhaltlich zu einer falschen, hohlen, innerlich unwahren, weil
allen natürlichen und geschichtlichen Leitungslinien der Moral
widersprechenden, angeblichen Ethik führt.
Von hier aus lässt sich auch die zweideutige Stellung beur-
teilen, welche der Pietismus einnimmt. Sicherlich ist er von
heilsamer Einwirkung gegenüber der Starrheit der kirchlichen
Dogmen und Gebräuche. Sicherlich ist auch die sittliche Selb-
ständigkeit und Energie durch ihn gefördert worden. Ist doch
auch Kant aus der Erziehung des Pietismus erwachsen. Den-
noch aber darf die Gefahr nicht übersehen werden, die in seiner
Tendenz zum Parteiwesen und zur Sektenbildung liegt. Die Re-
ligion, als Gesamtheit und als Gemeinde, kann niemals gänzlich
des Staates entraten, in dem doch nun einmal die Probe auf die
Gesundheit und Wahrhaftigkeit der religiösen Sittlichkeit gemacht
werden muss. Der Pietismus dagegen operiert mit der Zwei-
deutigkeit der Gesinnung und der eigenen Erleuchtung; er bringt
dadurch einen Ueberschwang in das Gemüt und eine Ueber-
spanntheit in das Individuum, welche nur den allzu gefahrlichen
Der Fehler in Kants Autonomie. 821
Schein des Selbst annimmt; welche jedoch der Selbstgesetzgebung
durchaus widerspricht. Denn die Gesetzgebung wird hier eben
nicht mit dem Begriffe des Selbst untrennbar verknüpft.
Aus allen diesen Erwägungen ist ein Schluss zu ziehen,
dessen Inhalt sehr auffällig erscheinen dürfte. Es ergibt sich
nämlich daraus, dass der Begriff der Autonomie von grossen
und schweren Unklarheiten behaftet ist; oder um es deutlicher
noch auszusprechen, dass er noch gar nicht zur genauen Klarheit
gebracht und ausgeführt ist.
Der Fehler, welcher in dem Begriffe der Autonomie bei
Kant stecken geblieben ist, besteht darin, dass das Selbst dabei
als gegeben, als schon vorhanden, als seiend angenommen und
vorausgesetzt wird; dass es sich in den sittlichen Handlungen,
als seinen Manifestationen, nur darzulegen und darzutun habe. Das
ist der methodische Fehler. Das Selbst ist keineswegs und in
keiner noch so idealen Gestalt vorher vorhanden, bevor
es sich darlegt, und es hat sich keineswegs nur darzulegen;
sondern es hat sich erst zu erzeugen. Und es kann sich nur erzeugen
in der Gesetzgebung. In dieser und kraft dieser entspringt die
Handlung. Sie bildet den Fortschritt, den wir jetzt entwickeln.
Die Handlung ist nicht mehr lediglich die Entfaltung des
Selbst; sondern sie ist bedingt durch die Gesetzgebung, welche
die Gesetzgebung des Selbst ist, so dass auch das Selbst bedingt
ist durch die Gesetzgebung. Also die Selbstgesetzgebung ist
nicht etwa die Gesetzgebung aus dem Selbst, sondern
zum Selbst. Auf die Gesetzgebung kommt es an; in ihr erst
bezeugt sich das Selbst; in ihr erzeugt es sich. Der Gedanke
der Autonomie geht also nicht dahin, dass das Gesetz vom Selbst
ausgehen müsse. Aber auch darin ist sein Zielpunkt nicht aus-
gesprochen, dass das Gesetz zum Selbst hinführe und hinaus-
führe. So wichtig dieser Unterschied ist, und so sehr er allein
schon die bisherige Ansicht von der Autonomie ändert, so muss
der eigentliche methodische Sinn des Gedankens doch noch
anders gefasst, und zwar auf die Gesetzgebung gerichtet werden.
Das Selbst muss in Gesetzgebung sich vollziehen; nur so
vollzieht es sich. Das ist der schärfere Sinn des Begriffs der
Selbstgesetzgebung. Gesetzgebung fordert das Recht und
den Staat in die Schranken. In ihnen, in der juristischen
•21
822 Die Gesetzgebung und das Selbst.
Person, die durch sie vollzogen wird, erkennt das Selbst sein
Urbild einer moralischen Person. So wird die Gesetzgebung zum
Monopol der Sittlichkeit. Kein Gott kann sie ersetzen; keine
Natur; keine Macht der Geschichte. Das Alles ist Mystik, welche
nimmermehr zu einem wahrhaften sittlichen Selbst verhilft. Die
Gesetzgebung allein erzeugt das Selbst der sittlichen Handlung,
des geschichtlichen Daseins.
Innerhalb der geschichtlichen Fruchtbarkeit der Gesetz-
gebung kommt dagegen das Selbst zu seinem lebendigen, nicht
schattenhaften Eigenwerte. Kein Individuum, keine Per-
sönlichkeit darf absoluten Wert für und über das sitt-
liche Selbst behaupten. Die Gesetzgebung ist die Obliegenheit
jedes sittlichen Menschen; und nur in dieser ununterbrochenen
Beziehung auf die Gesetzgebung, welche für das Selbst besteht,
kann das Selbst zur Erzeugung kommen. Selbst und Gesetz-
gebung bilden eine notwendige Correlation. Heteronomie
ist es, einen andern Menschen, und wäre er der grösste Weise
und der unzweifelhafteste Wohltäter des Vaterlands und des
Menschengeschlechts, als den Träger und Urheber der Gesetz-
gebung zu machen, die unabtrennbar ist von dem Problem, von
dem Begriffe des Selbst, auf welches ich mein Selbstgefühl zu
beziehen habe, wenn es zum ethischen Selbstbewusstsein aus-
reifen soll. Jetzt habe ich nicht mehr zu befürchten, dass dieses
Selbst unter die Zweideutigkeit des Egoismus fallen könnte; die
Gesetzgebung befreit es von diesem Verdacht der Isolierung, und
von dieser Gefahr der Verödung.
Der Fehler des Egoismus enthüllt sich auch hier
als der der Verwechselung von Psychologie und Ethik.
Die Psychologie kann in den Schein verlocken, dass das Ich als
eine wirksame Potenz fix und fertig vorhanden wäre; oder allen-
falls sich von seinem festen Kerne aus nur auszubauen hätte.
Gegen dieses Vorurteil glaubt man, sei kein anderes Kraut ge-
wachsen, als welches Hume entdeckt habe, dass das Ich nur
eine Versammlung von Vorstellungen bedeuten könne. Höchstens
gesteht man es zu, dass Kant die Fehlschlüsse der dogmatischen,
metaphysischen Psychologie aufgedeckt habe. Indessen ist durch
alle diese Vorstösse gegen die unkritische Psychologie die Frage
nicht zur Entscheidung gebracht. Die Entscheidung liegt in der
Der intelligible Charakter. 323
Ethik, als einer selbständigen Disciplin des Systems; als einer
Philosophie mit eigenem, reinem Inhalt. Die Ethik des reinen
Willens, des reinen Selbstbewusstseins; desjenigen Selbstbewusst-
seins, welches durch die Selbstgesetzgebung sich vollzieht; diese
Ethik des Selbst macht die Ethik souverän der Psychologie
gegenüber. Das gilt von der bisherigen Psychologie; von der
Psychologie in unserem Sinne ist vorauszusetzen, dass in ihr die
Einheit des Bewusstseins einen andern Sinn empföngt, als
welcher dem Selbstbewusstsein der Ethik zusteht.
Diese Bedeutung der Einheit des Bewusstseins, welche
wir in Aussicht nehmen, fehlt nun aber, wie wir mehrfach
gesehen haben, gänzlich bei Kant, der sie sogar nur auf einen
Teil des theoretischen Bewusstseins einschränkt. Indessen ist es
nicht dadurch verhindert worden, dass die Autonomie bei Kant
nicht klar und ausdrücklich als die Gesetzgebung zum Selbst
ausgeführt wurde; sondern es hat hier der intelligible
Charakter sich als Hemmniss erwiesen. Zwar ist er nur eine
Idee; aber er wird nicht als solche in strenger Nachdrücklichkeit
und Einschränkung bezeichnet. Vielmehr steht er immer unter
dem Nimbus des Ding an sich, und scheint so, als homo
noumenon, die Person zu umstrahlen. Immer wird er, wenn
nicht selbst als Person, so doch wenigstens als ein Gesetz gedach t
welches, als solches, seiend ist. Durch dieses intelligible Sein
entgleitet jedoch dem Selbst der Autonomie der Charakter der
Aufgabe, der doch allein der Idee beiwohnen kann. Und so ent-
steht und befestigt sich die Illusion, als ob der Autonomie g nug
getan würde, wenn ich nur aus mir selbst das Sitten esetz
schöpfe; wenn ich es nur nicht von fremden Mustern entlehne,
und ihnen nachahme; wenn ich mich nur als den freien, unab-
hängigen, schöpferischen Urheber des Sittengesetzes betätige und
bezeuge.
Im Grunde aber ist dieser Bedeutung der Autonomie schon
durch die Methode der Reinheit Genüge geleistet. Durch
diese Selbständigkeit ist der reine Wille bedingt; und ebenso das
reine Gesetz; ebenso die reine Handlung; und endlich auch das
reine Selbstbewusstsein. Die Selbstgesetzgebung entwickelt nun
aber die Reinheit zu der Höhe und Praegnanz, dass das Selbst
als kraft der Gesetzgebung sich vollziehend nunmehr erkannt
21*
Die Gesetzgebung und das Selbst,
Person, die durch sie vollzogen wird, erkenni das Selbst sein
Urbild einer moralischen Person. So wird die Gesetzgebung zum
Monopol der Sittlichkeit. Kein Gott kann sie ersetzen; keine
Natur; keine Macht der Geschichte. Das Alles ist Mystik, welche
nimmermehr zu einem wahrhatlen silllichen Selbst verhiltt. Die
Gesetzgebung allein erzeugt das Selbst der sittlichen Handlun(>,
des geschichtlichen Daseins.
Innerhalb der geschichtlichen Fruchtbarkeit der Gesetz-
gebung kommt dagegen das Selbst zu seinem lebendigen, nicht
schattenhaften Eigenwerte. Kein Individuum, keine Per-
sönlichkeit darf absoluten Wert für und über das sitt-
liche Selbst behaupten. Die Gesetzgebung ist die Obliegenheit
jedes sittlichen Menschen; und nur in dieser ununterbrochenen
Beziehung auf die Gesetzgebung, welche ffir das Selbst besieht,
kann das Selbst zur Erzeugung kommen. Selbst und Gesetz-
gebung bilden eine notwendige Correlation. Heteronomie
ist es, einen andern Menschen, und wäre er der grösste Weise
und der unzweifelhafteste Wohltäter des Vaterlands und des
Menschengeschlechts, als den Träger und Urheber der Gesetz-
gebung zu machen, die unabtrennbar ist von dem Problem, von
dem Begriffe des Selbst, auf welches ich mein Selbstgefühl zu
beziehen habe, wenn es zum ethischen Selbstbewusstsein aus-
reifen soll. Jetzt habe ich nicht mehr zu befürchten, dass dieses
Selbst unter die Zweideutigkeit des Egoismus fallen könnte; die
(iesetzgcbung befreit es von diesem Verdacht der Isolierung, und
von dieser Gefahr der Verödung.
Der Echlcr des Egoismus euthi'illt sich auch hier
als der der Verwechselung von Psychologie und Ethik.
Die Psychologie kann in den Schein verlocken, dass das leb als
eine wirksame Potenz fix und fertig vorhanden wäre; oder allen-
falls sich von seinem festen Kerne aus nur auszubauen hätte.
Gegen dieses Vorurteil glaubt man, sei kein anderes Kraut ge-
wachsen, als welches Hume entdc'' '•»>'"• '•'•" '*"•' '"*■ •"•■■
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822 Die Gesetzgebung und das Selbst.
Person, die durch sie vollzogen wird, erkennt das Selbst sein
Urbild einer moralischen Person. So wird die Gesetzgebung zum
Monopol der Sittlichkeit. Kein Gott kann sie ersetzen; keine
Natur; keine Macht der Geschichte. Das Alles ist Mystik, welche
nimmermehr zu einem wahrhaften sittlichen Selbst verhilft. Die
Gesetzgebung allein erzeugt das Selbst der sittlichen Handlung,
des geschichtlichen Daseins.
Innerhalb der geschichtlichen Fruchtbarkeit der Gesetz-
gebung kommt dagegen das Selbst zu seinem lebendigen, nicht
schattenhaften Eigenwerte. Kein Individuum, keine Per-
sönlichkeit darf absoluten Wert für und über das sitt-
liche Selbst behaupten. Die Gesetzgebung ist die Obliegenheit
jedes sittlichen Menschen; und nur in dieser ununterbrochenen
Beziehung auf die Gesetzgebung, welche für das Selbst besteht,
kann das Selbst zur Erzeugung kommen. Selbst und Gesetz-
gebung bilden eine notwendige Correlation. Heteronomie
ist es, einen andern Menschen, und wäre er der grösste Weise
und der unzweifelhafteste Wohltäter des Vaterlands und des
Menschengeschlechts, als den Träger und Urheber der Gesetz-
gebung zu machen, die unabtrennbar ist von dem Problem, von
dem Begriffe des Selbst, auf welches ich mein Selbstgefühl zu
beziehen habe, wenn es zum ethischen Selbstbewusstsein aus-
reifen soll. Jetzt habe ich nicht mehr zu befürchten, dass dieses
Selbst unter die Zweideutigkeit des Egoismus fallen könnte; die
Gesetzgebung befreit es von diesem Verdacht der Isolierung, und
von dieser Gefahr der Verödung.
Der Fehler des Egoismus enthüllt sich auch hier
als der der Verwechselung von Psychologie und Ethik.
Die Psychologie kann in den Schein verlocken, dass das Ich als
eine wirksame Potenz fix und fertig vorhanden wäre; oder allen-
falls sich von seinem festen Kerne aus nur auszubauen hätte.
Gegen dieses Vorurteil glaubt man, sei kein anderes Kraut ge-
wachsen, als welches Hume entdeckt habe, dass das Ich nur
eine Versammlung von Vorstellungen bedeuten könne. Höchstens
gesteht man es zu, dass Kant die Fehlschlüsse der dogmatischen,
metaphysischen Psychologie aufgedeckt habe. Indessen ist durch
alle diese Vorstösse gegen die unkritische Psychologie die Frage
nicht zur Entscheidung gebracht. Die Entscheidung liegt in der
Der intelligible Charakter. 323
Ethik, als einer selbständigen Disciplin des Systems; als einer
Philosophie mit eigenem, reinem Inhalt. Die Ethik des reinen
Willens, des reinen Selbstbewusstseins; desjenigen Selbstbewusst-
seins, welches durch die Selbstgesetzgebung sich vollzieht; diese
Ethik des Selbst macht die Ethik souverän der Psychologie
gegenüber. Das gilt von der bisherigen Psychologie; von der
Psychologie in unserem Sinne ist vorauszusetzen, dass in ihr die
Einheit des Bewusstseins einen andern Sinn empfangt, als
welcher dem Selbstbewusstsein der Ethik zusteht.
Diese Bedeutung der Einheit des Bewusstseins, welche
wir in Aussicht nehmen, fehlt nun aber, wie wir mehrfach
gesehen haben, gänzlich bei Kant, der sie sogar nur auf einen
Teil des theoretischen Bewusstseins einschränkt. Indessen ist es
nicht dadurch verhindert worden, dass die Autonomie bei Kant
nicht klar und ausdrücklich als die Gesetzgebung zum Selbst
ausgeführt wurde; sondern es hat hier der intelligible
Charakter sich als Hemmniss erwiesen. Zwar ist er nur eine
Idee; aber er wird nicht als solche in strenger Nachdrücklichkeit
und Einschränkung bezeichnet. Vielmehr steht er immer unter
dem Nimbus des Ding an sich, und scheint so, als homo
noumenon, die Person zu umstrahlen. Immer wird er, wenn
nicht selbst als Person, so doch wenigstens als ein Gesetz gedach t
welches, als solches, seiend ist. Durch dieses intelligible Sein
entgleitet jedoch dem Selbst der Autonomie der Charakter der
Aufgabe, der doch allein der Idee beiwohnen kann. Und so ent-
steht und befestigt sich die Illusion, als ob der Autonomie g nug
getan würde, wenn ich nur aus mir selbst das Sitten esetz
schöpfe; wenn ich es nur nicht von fremden Mustern entlehne,
und ihnen nachahme; wenn ich mich nur als den freien, unab-
hängigen, schöpferischen Urheber des Sittengesetzes betätige und
bezeuge.
Im Grunde aber ist dieser Bedeutung der Autonomie schon
durch die Methode der Reinheit Genüge geleistet. Durch
diese Selbständigkeit ist der reine Wille bedingt; und ebenso das
reine Gesetz; ebenso die reine Handlung; und endlich auch das
reine Selbstbewusstsein. Die Selbstgesetzgebung entwickelt nun
aber die Reinheit zu der Höhe und Praegnanz, dass das Selbst
als kraft der Gesetzgebung sich vollziehend nunmehr erkannt
'>!•
324 Die politische Freiheit.
wird. Dadurch erst wird der Zusammenhang zwischen
dem reinen Willen, der reinen Handlung und dem
reinen Selbstbewusstsein geschlossen. Bei Kant hingegen
bedeutet die Autonomie im Grunde doch nur die Freiheit der
Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit. In der Vernunft liegt das
Selbst. Die Vernunft vertritt das Ding an sich des intelligibeln
Charakters, der das Gesetz, die Gesetzgebung ermöglicht und
vollzieht. Das Selbst wird nicht in die Aufgabe auf-
gelöst.
So wird es verständlich, dass die Autonomie bei Kant und
bei Schiller, der sie besonders populär gemacht, zunächst
die politische Freiheit zu einer ethischen Bedeutung bringt,
die ihr vorher noch nicht zuerkannt war. Spinoza ist in
diesem wichtigen aktuellen Punkte theoretisch, wie praktisch,
unklar. Die Sicherheit dagegen, mit welcher Kant alle die
schönen angeblichen Prinzipien der Glückseligkeit und der Voll-
kommenheit einfach als Heteronomie abweist, und Nichts als
sittliches Grundgesetz gelten lässt als nur die Autonomie, das ist
ein Schlag gegen den wohlwollenden Absolutismus aller Art, wie
er noch niemals geführt worden w^ar. Eine solche durchgreifende
Anwendung auf die praktische Politik dürfte auch Piatons
Republik nicht enthalten. Aber freilich den Zusammenhang mit
dem Rechte hat Kant nicht im Auge behalten; nicht ins Auge
gefasst. So hat er auch das Selbst nicht als die Aufgabe der-
jenigen moralischen Person erkannt, welche in der juristischen
Person vom Rechte entwickelt wird.
Mehr aber noch als die politische Freiheit ist die aesthe-
tische durch diese Autonomie begründet und beleuchtet worden.
Es besteht ein innerlicher Zusammenhang zwischen
Kants Ethik und seiner Errichtung der Aesthetik. Schon
die Natur-Teleologie hat diesen Zusammenhang erschlossen. Von
ihr aus hat sich Goethe zu Kant hingefunden. Es ist die Frei-
heit in der Kunst, die sich so für ihn, wie für Schiller, aus
einem tiefen Grunde ergab. Das Land der Freiheit stellt
sich vorzugsweise dar im Reiche der Kunst. Es ist das
Reich der Schatten, wo die reinen Formen wohnen. Die Idee
ist hier vornehmlich die Gestalt, und als solche göttlich unter
Göttern. Der Menschheil Götterbild steigt auf. Die Schöpfung
Die aesthetische Freiheit. 325
der Idee ist das Werk des Genius; und die Freiheit des Genius
verwirklicht so das Gesetz der Freiheit. Die aesthetische Freiheit
soll daher die Erziehung und Vorbedingung bilden zur sittlichen
Freiheit.
So ist die Autonomie, als schöpferische Freiheit, in unserer
classischen Poesie das Sinnbild nicht nur, sondern die Triebkraft
der geistigen Kultur geworden; so weit sie nicht durch den Innern
Rückgang der letzten Jahrzehnte verdunkelt, verkrümmt und
verderbt worden ist. Aber darin zeigt sich sogleich die Einseitigkeit,
welche die absolute aesthetische Kultur nicht zu überwinden ver-
mag. Ohne wahrhafte Freiheit in der sittlichen Kultur, die sich
vorab in der religiösen Unbefangenheit zu erkennen gibt; und
ohne dass die ethische Freiheit in einer tiefen Aufrichtigkeit und
Rückhaltlosigkeit der Politik sich kundgibt, muss der aesthetische
Sinn verfallen. Die Klarheit, das sicherste Kennzeichen aesthetischer
Wahrheit, zerfliesst in Symbolismus; und über den allerlei
Bedeutungen, welche das falsche Kunstwerk darstellt, waltet ent-
weder der steife, aber feierliche Trotz einer Unsittlichkeit, die
als Freiheit gilt, weil sie die Scheu abgelegt hat; oder aber es
kichert aus ihnen die Frivolität heraus, für die es kein Gesetz
und keine Wahrheit gibt.
Die wahre Kunst hat die Ethik immerdar zur Voraussetzung.
Und die Ethik muss die Selbstgesetzgebung schaffen. Die Ethik
darf aber auch den Zusammenhang mit der Metaphysik nicht
behalten, der im absoluten Ich liegt. So wird es verständlich,
dass Schiller, obwohl er über das Osmannstädter Ich spottete,
dennoch auf Fichtes Ich sich einlassen konnte. Das Ich der
Ethik aber ist und bleibt Aufgabe. Aus einer Aufgabe heraus
kann man nicht producieren; nur an ihr und in ihr lässt sich
schaffen; ihre Lösung schaffen; welche jedoch stets wieder von
Neuem Aufgabe wird.
So hat es sich denn immer klarer herausgestellt, dass die
Selbstgesetzgebung nicht schon das Selbst zur Voraussetzung hat;
sondern dass in der Gesetzgebung erst die Aufgabe des Selbst
klar herv'ortritt, um den Entwicklungsgang ihrer Lösung zu be-
schreiten. Wir haben schon mehrfach die methodische Bedeutung
welche der Gesetzgebung zusteht, gegenüber der Handlung, dem
Willen und dem Selbstbewusstsein erwogen. Wenn der Sokratische
326 Der Unterschied zwischen Gesetzgebung und Gesetz.
Gedanke durchgeführt werden soll; wenn Tugend Wissen ist, nicht
auf der Gunst der Natur (eocpüia) beruht; noch in Uebung und
Routine besteht; noch als Temperament abzutun ist, so kann
allein der Begriff der Gesetzgebung den Ausschlag geben. Die
Gesetzgebung macht es deutlich, dass nur die juristische Person
das sittliche Selbstbewusstsein zu bedeuten und darzustellen
vermag.
Indessen auch damit wird nur erst ein Schritt in dem Vollzug
der Methode des reinen Willens gethan. Der Schritt beginnt die
Bahn, die zu dem Ziele hinführt, welches in dem Selbst der sittlichen
Person vorgesteckt ist. Wir müssen jetzt aber die weiteren
Schritte suchen. Freilich müssen sie mit dem ersten Schritt
zusammenhängen; denn die Bahn wird als eine gerade Linie zu
denken sein. Aber wir müssen jetzt uns an den Begriff der
Handlung halten; denn von der Handlung wird es abhängen,
ob das Ziel erreicht wird; die Handlung wird die weiteren Schritte
zu vollziehen haben. Wir hatten sie bisher nur als reine Hand-
lung ihrem Begriffe nach betrachtet; wie das Selbstbewusstsein
durch sie bedingt wird. Jetzt aber kommt es darauf an, ihr
Verhältniss zur Gesetzgebung klarzustellen. Da handelt es sich
nicht mehr nur um das Problem des Gesetzes, wie es von der
reinen Handlung lösbar wird; sondern es gilt jetzt, den ein-
zelnen Inhalt des reinen Willens zu bedenken und zu be-
stimmen, wie er das Problem der Gesetzgebung bildet.
Das reine Gesetz kann man als ein allgemeines Sittengesetz
denken, in dem die einzelnen Inhalte zwar enthalten sein müssen,
aber als einzelne nicht entfaltet zu sein brauchen. Diese Rück-
sicht auf den einzelnen Inhalt drückt sich in dem Worte Gesetz-
gebung aus, während das Gesetz auf den allgemeinen Inhalt
hinweist. Diese Beziehung auf den einzelnen Inhalt wohnt auch
der Handlung inne. So stehen die Handlung und die Gesetz-
gebung zusammen; so gehen sie zusammen, um das Selbst, das
alleinige Ziel, zu erreichen und zu verwirklichen. HicRhodus,
hie salta. Die Aufgabe des reinen Willens muss in der Hand-
lung zum Vollzug kommen. Sie widerlegt die These, dass der
Wille und der Intellekt Dasselbe seien.
Wir wissen, dass das Denken in Bewegung übergehen kann;
dass die Bewegung dem Denken nicht heterogen ist. Sie braucht
Die einzelne Handlung und der einzelne Inhalt. 327
nicht Reflexbewegung zu werden, um einen Anfang nehmen zu
können, den ihr das Denken nicht geben könne. Im Denken
selbst vielmehr nimmt die Bewegung ihren Ausgang; hat sie
ihren Ursprung. Wenn nun aber die Bewegung zur Handlung
auswächst, so wird es zweckmässig, diesen ethischen Ursprung
der Handlung, diesen Ursprung für den ethischen BegriÄF der
Handlung gesondert und eigentümlich zu bestimmen. Die
Tendenz dient nur dem logischen Behufe, und dadurch zum Teil
dem psychologischen Interesse. Das ethische Problem fordert
ein genaues Analogon zur Selbstgesetzgebung. So kommen wir
zur zweiten Bedeutung der Autonomie.
2. Die Selbstbestimmung.
Bestimmung erinnert zunächst an die Stimmung; deren
Willkür und Subjektivität sie zu bewältigen hat. Dies kann ihr
nur gelingen durch den Inhalt, den sie erzeugt und gestaltet;
der der Stimmung versagt bleibt. Anderereeits gemahnt die Be-
stimmung auch an Schicksal und Verhängniss. Aber
wenn dadurch auch die Freiheit bedroht wird, so liegt es doch
nicht vom Wege ab, bei der Handlung sogleich an das Schicksal
zu denken, dem die Handlung entgegengeführt wird; das die
Handlung bereitet. So muss die Autonomie zur Selbstbe-
stimmung werden.
Vor Allem ist hier wieder zu bedenken, dass das Selbst
lediglich Aufgabe ist. Es ist nicht etwa schon vorhanden, so
dass aus ihm die Bestimmung nur zu erfolgen hätte. Aber es
darf freilich auch seine Stelle nicht anderweit eingenommen,
oder vorweggenommen werden von fremden Selbstern, von
fremden Autoritäten, welche die Handlung zu befehlen und zu
leiten sich anmassen. Sie wäre dann nicht Handlung. Aber es
genügt nicht für den Begriff der Handlung rücksichtlich ihrer
einzelnen Verwirklichung, dass das Selbst als ihre Aufgabe fest-
gestellt wird. Durch das Selbst wird immer nur der allgemeine
Inhalt der Aufgabe bezeichnet; jetzt aber handelt es sich um den
einzelnen Inhalt; denn jetzt soll die Handlung betrachtet werden,
wie sie sich als einzelne Handlung verwirklicht. Wo die
Wirklichkeit in Frage steht, da steht die Einzelheit in
828 Der Vorsatz.
Frage. Das haben wir aus der Logik gelernt. Das Problem
der Wirklichkeit ist das Problem der Einzelheit. Die Selbst-
bestimmung soll sich für die einzelne Handlung bewähren.
Die Bestimmung erinnert demgemäss auch an die Be-
stimmtheit. Durch die Selbstbestimmung soll die Bestimmtheit
der Handlung ins Werk gesetzt werden. Die Bestimmtheit ist
nicht nur die Bedingung der Einzelheit; sondern sie bedeutet
zugleich die Praecision und die Klarheit und die Sicherheit,
welche die Kennzeichen, die unfehlbaren und untrüglichen der
reinen Handlung sind. Da bleibt kein Schwanken, in dem die
Handlung hängen bliebe. Da bleibt keine bange Wahl; sondern
aus der Praecision der Wahl geht die Bestimmtheit der Handlung
hervor. So erkennen wir in der Selbstbestimmung vor Allem das
Specifische des Vorsatzes.
Der Vorsatz ist die Vor>vahl, die Vorwegnahme, die
Vornahme des bestimmten Inhalts der Handlung. Der Vorsatz
ist nicht Ueberlegung, sondern Entscheidung; Entscheidung in
der Wirklichkeit, in der einzelnen Tatsache. Daher ohne Vot-
satz kein Wille, keine Handlung. In dem Vorsatze aber
scheinen sich Aufgabe und Wirklichkeit zu berühren. Dies
darf nicht auffallen; das ist richtig und notwendig. So fordert
es der Begriff der Aufgabe, dass sie in Lösung übergehe; und
ebenso wiederum in Aufgabe zurückgehe. Diesen Weg führt
und beschreitet der Vorsatz in der Selbstbestimmung. Die Be-
stimmtheit, die Einzelheit ist der Inhalt der wirklichen Hand-
lung, der sich verwirklichenden Handlung.
Man kann nun fragen, dass es doch aber nicht lediglich
auf den bestimmten einzelnen Inhalt der Handlung ankomme,
sondern vor Allem und über Alles auf das Selbst. Die Bestim-
mung ist ja Selbstbestimmung. Indessen zeigt sich eben darin
die eigene Bedeutung der Autonomie, als Selbstbestimmung, dass
das Selbst in dieses Verhältniss zu der Bestimmung des einzelnen
Inhalts der Handlung, zu der bestimmten einzelnen Handlung
gesetzt wird. Jetzt soll es sich zeigen und erproben, nicht nur
was das Selbst wert ist, und was es zu leisten vermag; sondern
auch, was die Aufgabe des Selbst bedeutet; jetzt soll sich ein
eigener Wert und eine eigene Bedeutsamkeit dieser Aufjgabe des
Die Bestimmtheit. 829
Selbst darlegen. Die Selbstbestimmung soll eine eigene Stufe in
der Entwickelung der Autonomie bilden.
Die Selbstbestimmung bringt es zur Evidenz, dass es sich
bei der Autonomie nicht um ein schon vorhandenes, sondern
schlechterdings nur um ein erst zu erzeugendes Selbst handelt.
Erst die Bestimmtheit der einzelnen Handlung kann das Selbst
zur Erscheinung, zur Wirklichkeit bringen; genauer ist zu sagen,
dass sie allein erst die Aufgabe des Selbst zu verwirklichen ver-
mag. Ohne diese Bestimmtheit der Handlung wird der BegrifT
der Handlung zur Illusion; und mit ihm der des Selbst; mit ihm
der der Aufgabe.
Wir erkennen den Fortschritt von der Selbstgesetzgebung
zur Selbstbestimmung. An die Selbstgesetzgebung könnte der
Verdacht herantreten, als ob das Gesetz, welches in ihr gegeben
wird, ohne Inhalt wäre. Und es ist dies ja der allgemeinste
Vorwurf, unter dem die Autonomie bei Kant missverstanden
wird. Vielleicht aber kann man den Fehler des Missverständ-
nisses etwas verkleinern und verbessern; und den Missverstand
dadurch erklärlicher machen. Nicht allen Inhalt überhaupt hat
man in der allgemeinen Gesetzgebung vermisst, sondern eigent-
lich wohl nur den nicht hinreichend bestimmten einzelnen
Inhalt. Da mochte es denn einerseits scheinen, dass das all-
gemeine Gesetz nicht so heissen dürfte, w^enn es nicht allen
einzelnen Inhalt der Methode nach in sich enthielte, andererseits
aber auch, dass es diesen einzelnen Inhalt nicht zur Entfaltung
bringen dürfe, wofern es das allgemeine Gesetz bleiben soll.
Man empfand das Desiderat der Vermittelung zwischen dem all-
gemeinen und allem einzelnen Inhalt; man durfte diese Ver-
mittelung auch in der Autonomie fordern. Diesem Desiderat soll
die Selbstbestimmung gerecht w^erden. Auch das ethische Selbst-
bewusstsein muss vor dieses Problem gestellt werden; seinBegriflF
als Aufgabe muss in dieses Verhältniss zur Bestimmtheit der
einzelnen Handlung hinausgeführt werden: in der Beschränkung
der Bestimmung hat das Selbst sich zu erzeugen; als Meister
zu erproben.
Ohne diesen Schritt in die Wirklichkeit bliebe das Selbst,
als Aufgabe, nur Vorschrift und Musterbild; und wenn es so auch
nicht mehr lediglich als schon vorhanden gedacht wird, so ist
880 Gesinnung und Charakter.
es doch im Musterbilde wenigstens vorhanden. Auch das i%\
vom L'ebel: auch diese idealere Materialisierung des Selbst muss
beseitigt werden. Das Selbst muss an die Selbstbestimmung
gebunden werden. Ks muss demgemäss also an den Inhalt, an
die Erzeugung des Inhalts gebunden werden, in der und somit
in dem es sich zu verwirklichen und zu bewähren hat. Ks kann
also letztlich nicht dabei sein Bewenden haben, wie Kant für
die Vorbereitung, für die richtige Instruktion des Problems es
fordern durfte, dass es nur auf die Form einer allgemeinen
(iesetzgebung ankommt; denn es stellt sich hierluM das Desiderat
ein: wie aus dieser Form der einzelne Inhalt hervorgehe. Ks
genügt nicht zu verstehen, dass er daraus hervorgehen müsse
und könne; man will auch si*hen, dass und wie er wirklich
daraus hervorgeht. Diesen Zusammenhang der Aufgabe des
Selbst mit der Aufgabe der (iesetzgebung in Bezug auf
das einzelne (iesetz, und in Bezug auf die Entfaltung di*^
Selbst in der einzelnen Handlung stellt die Selbstbestimmung
dar. Sie fuhrt die Freiheit vor die Wahl der Bestimmtheit. In
der Bestimmtheit realisiert sich das St*lbst.
Der Zusammenhang zwischen dem Selbst und der Bestimmt«
heil der einzelnen Handlung ist so einleuchtend, und er erscheint
Ml zwingend, dass die Meinung entstehen kann, die Si*lbst-
bestimmung sei ^era<lezu gleichbedeutend mit der Hy|iothese di^ü
niirmalen Menschen, des normalen Bewuvstseins. Ks kann
scheinen, als ob die S«*! bst best immung nichts Anderes zu lM*sagen
habe als den alten (ledanken die Freiheit ist die Kinheit der
VtTnunft: und in dirsrr besteht die Kraft des (leistes. l*nd der
(ieist und die Vernunft vollenden sich im Willen. Die Kinheit
des B4*wusslN4*ins ohne den Willen ist nicht St'lbstbewusstsein
^'om Willen aber gilt das Wort im Anfang war die Tat. Vom
reinrn Willen muss es heixsen im Anlang ist die Handlung; alv«
die IWstinimunu
Dirser KinwurI alnT wurzelt in einem gelahrlichen (truml*
irrtuni. nämlich in «ler rnterscheidung /w-is<*hen dem sogenannten
(lliarakter, iwler M-heinbar weniger personilicierend, der all-
^enieuxn (iesinnunu und der S<*hwaelie im Kin/elnen. Würde
diese t nterscheidun;; m> gemeint sein, «lass Ausnahmen in
ein/«*liien Handliingrn >on dem \orwir;^enden (iesamtbilde des
Der neue Anfang. HSl
Charakters vorkommen können, so möchte sie hingehen; alsdann
würde der Charakter nur gleichsam ein Ausdruck des statistischen
Durchschnitts sein. Aber das ist nicht die herrschende, die
innerlich beherrschende Ansicht vom Charakter. Nach dieser
gilt er vielmehr als angeboren, als ererbt, als die geheime
Wurzelkraft des Menschen, die im Dunkel des allgemeinen Welt-
grundes liege. Und wir haben gesehen, dass der intelligible
Charakter als dieser Ansicht verwandt, als die tiefste Bestätigung
derselben aufgefasst wird. Diesem Mysticismus tritt das Prinzip
der Selbstbestimmung entgegen. Und es ist, als ob die alte Be-
deutung von dem absoluten Anfang der Freiheit hier zu einer
ganz neuen Geltung gebracht würde.
In jeder einzelnen Handlung vollzieht sich ein
neuer Anfang. Wie sehr die Handlung immer mit allen vor-
aufgehenden zusammenhängen muss, so tritt in ihr nicht minder
doch eine durchaus neue Bestimmung ein. Das ist der Sinn
dieses Prinzips, das ist die Forderung, die es stellt. Ist diese
Forderung eine Illusion, so wird das ganze Problem des reinen
Willens und der reinen Ethik damit hinfällig. Dann gibt es
schlechterdings keine Freiheit; und zwar auch keine Autonomie;
auch diese in keiner Bedeutung. Denn es wird dann zu einer
wertlosen, unfruchtbaren Ansicht, dass die Sittlickeit auf Selbst-
gesetzgebung beruhe. Was nützte es, dass die Gesetze frei ent-
springen, wenn sie nicht daraufhin eben frei vollzogen werden?
Die Selbstgesetzgebung kann nur gleichsam als das Ventil be-
trachtet werden, die Selbsthandlung zu entlassen und zu ent-
binden. So sieht man, dass Alles auf die Selbstbestimmung
hinausläuft. Der Wille, die Freiheit, das Selbst, die Handlung,
sie Alle bleiben in der Schwebe der allgemeinen Abstraktion;
die bestimmte einzelne Handlung erst bringt sie zur Anwendung
und zur Realisierung.
Die Selbstbestimmung hat sonach den Vorzug, dass alle
Bedingungen des reinen Willens in ihr sich zusammenfassen.
Die Bestimmung schliesst das Sprunghafte des scheinbaren Willens
aus; als ob das Plötzliche ein Symptom der Kraft wäre. Die
Bestimmung fordert Praecision; und dieser ist die Impetuosität
widerstrebend. Aber auch der Wechsel, wie in der Stimmung,
so im Wollen; das Schwanken und Flattern von einem Ziel zum
880 Gesinnung und Charakter
es doch im Musterbiide wenigstens vorhanden. Auch das i%t
vom Uebel: auch dit^se idealere Materialisierung des Selbst muss
l>eMMtiKt werden. Das Selbst muvs an die Selbstiiestimmung
gebunden werden. Ks muss demgemäss also an den Inhalt, an
die Erzeugung des Inhalts gebunden werden, in der und somit
in dem es sich zu verwirklichen und zu bewähren hat. Ks kann
also letztlich nicht dabei sein Bewenden haben, wie Kant Tür
die Vorbereitung, für die richtige Instruktion des l^oblems es
fordern durfte, dass es nur auf die Form einer allgemeinen
(iesetzgebung ankommt; denn es stellt sich hierluM das Desiderat
ein. wie aus dieser Form der einzelne Inhalt hervorgehe. Ks
genügt nicht zu verstehen, davs er daraus her\'orgehen müsse
und könne; man will auch sehen, dass und wie er wirklich
daraus hervorgeht. Diesen Zusammenhang der Aufgabe des
Selbst mit der Aufgabe der (iesetzgebung in Bezug auf
das einzelne (iesetz, und in Bezug auf die Kntfaltung des
Selbst in der einzelnen Handlung stellt die Selbstbi*stimmung
dar. Sie fuhrt die Freiheit vor die Wahl der Bestimmtheit. In
<ler Bestimmtheit realisiert sich das S4*lbst.
Der Zusammenhang /wischen dem Selbst und der Bestimmt-
heit der ein/einen Han<llung ist so einleuchtend, und er ers(*heint
so z\Mn;;(*nd. dass die Meinung entstehen kann, die Selbst-
bestimmung si*i geratle/u gleichlM'deutend mit der llypothesi* des
normalen Menschen, des normalen iWwuvstseins. Ks kann
scheinen, als ob die St^ibst best immune nichts Änderte zu lM*sagen
habe iils den altrn (ledanken die Freiheit ist die Kinheit der
Vernunft; um! in dirsrr besteht die Kraft des (ieisles Fnd der
(•eist und die Vernunft vollenden sich im Willen. Die Kinheit
des Brwusstsrins ohne den Willen ist nicht St'lbstlM^wusstsein.
\'om Willen aber gilt das Wort im Anlang war die Tat. Vom
mnrn Willen muvs es hrissen im Anfang ist die Handlung; alsi>
«lie B4*slimmun^
Dirsrr Kinwurf aber \\ur/i*lt in einem ^rlahrliclien (irund-
irrtuni, n;inilirh in der InterM-heidun;: />^isclien drni sogenannten
(.liarakler, ihU-t sclirinb.ir wenimT |»ersonilicierend, «ler all-
;^fni('inrn (irsinnun^ und diT .V*li>%a4*lie im Kin/elnen. Wurde
(tirsr t'ntcrsiiicidun;; so ^rnieint snn. dass Ausnahmen in
nn/flticn llandliin;:rn \4m dem \or\M<';;i-nd('ti (iesamtbilde des
Der neue Anfang. B8t
Charakters vorkommen können, so möchte sie hingehen; alsdann
würde der Charakter nur gleichsam ein Ausdruck des statistischen
Durchschnitts sein. Aber das ist nicht die herrschende, die
innerlich beherrschende Ansicht vom Charakter. Nach dieser
gilt er vielmehr als angeboren, als ererbt, als die geheime
Wurzelkraft des Menschen, die im Dunkel des allgemeinen Welt-
grundes liege. Und wir haben gesehen, dass der intelligible
Charakter als dieser Ansicht v